Können wir wirklich authentisch sein?

von Marilena

„Authentizität“ ist in aller Munde – Finde dich selbst, sei authentisch, sei einfach du selbst! Aber gibt es das eine „wahre authentische Ich“ überhaupt oder laufen wir vielleicht einer großen Illusion (der Werbeindustrie) hinterher?

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SHOWNOTES:

► „Descarts Irrtum“ von Antonio Damasio; „Being No one“ von Thomas Metzinger
Interview mit Charles Taylor über Authentizität
► Zitat Arthur Schopenhauers: „Die Welt als Wille und Vorstellung I“, 4. Buch, in: Arthur Hübscher (Hrsg.), Band. 2
► Zitat Niklas Luhmann: „Zur Nicht-Kommunizierbarkeit von Aufrichtigkeit, Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1998)

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Status Quo: Authentizität als Modejargon

„Sei einfach du selbst“ Authentizität und authentisch leben, hat sich zu einer Art gesellschaftlichem Imperativ entwickelt, könnte man fast sagen. Eine Art Handlungsanweisung für das echte, unverfälschte Leben.

Beinahe in jedem zweiten Selbsthilfe Ratgeber finden sich solche schlauen Tipps im Sinne von: „Werde du selbst und die Welt wird dir zu Füßen liegen.“ Ganz gleich, ob es um die Karriere, Partnerschaft oder das eigene Selbstwertgefühl geht.

Aber Authentizität bezieht sich nicht nur auf unsere Art zu Leben. Nahezu alles kann authentisch sein: Von dem authentischen Urlaub in Norwegen, über den authentischen Führungsstil, der ach so authentischen Bloggerin, bis hin zum authentischen Geschmack des badischen Weines.

Da stellt sich doch die Frage, was wir mit diesem Begriff eigentliche meinen? Und, die vielleicht noch größere Frage, kann man überhaupt authentisch sein? Ist das möglich?

Ich finde die Frage insofern spannend, weil ich mir selbst häufig Gedanken darüber mache, ob wir Menschen überhaupt eine Art Kern, Essenz oder Identität haben, die es zu Entdecken gilt. Denn das scheint ja eine Voraussetzung für den Anspruch „Sei du selbst“ beziehungsweise das authentische Leben zu sein. Wenn ich nicht weiß wer ich bin, wie soll ich dann entsprechend leben und mich verhalten?

Wie konnte es dazu kommen?

Spannend finde ich es auch, sich die Frage zu stellen, wo dieser Authentizitäts-Trend seinen Ursprung hat. Ist es nicht so, dass wir Menschen dazu neigen über das vermehrt zu sprechen, was uns am meisten fehlt?

Meine persönliche Vermutung wäre, dass unsere Sehnsucht nach einem authentischen Leben – mal angenommen, die existiert wirklich und sie ist nicht auch eine weitere von der Industrie und dem Kapitalismus erzeugte Fake-Sehnsucht – eine Antwort auf zwei gesellschaftliche Entwicklungen ist:

  1. Authentizität und der Wunsch nach Individualisierung, Selbstverwirklichung als Gegenbewegung zur Standardisierung und Massenabfertigung der Industrialisierung. Indem wir uns authentisch zeigen, grenzen wir uns von anderen ab. Wir stellen uns selbst als Original und nicht als Abklatsch dar. Uns gibt es nur einmal. Und das macht uns augenscheinlich umso wertvoller und gefragter. Durch Instagram, YouTube und Co. haben wir heute zudem die Möglichkeit, andere davon zu überzeugen, indem wir unser Leben öffentlich teilen. Andere können dann darüber in Form von Likes und Follows darüber abstimmen, wie authentisch unser Leben auf sie wirkt. Ob wir uns wirklich so geben, wie wir sind oder nur eine Schein-Welt und ein Schein-Selbst inszenieren. Ob das Publikum mit der Einschätzung richtig liegt, ist dann wiederum eine andere Frage.
  2. Der Wunsch nach Authentizität als Antwort auf eine Multioptionsgesellschaft, in der wir alle Freiheiten haben, uns selbst zu verwirklichen. Hinzu kommt, dass es uns durch die Wirtschaft, die den Konsum durch das künstliche Erzeugen von Wünschen und Bedürfnissen ankurbelt, zunehmend schwerer fällt, zu identifizieren, was uns selbst wirklich entspricht. Mit den Worten Tylers aus dem Film Fight Club: „Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“ Wir sind so überfordert, dass wir kaum mehr zwischen Schein und Sein, original und Fake, uns selbst und dem, was wir sein wollen oder zumindest glauben sein zu wollen, unterscheiden können. Salopp gesagt: Was wir wirklich wollen und wer wir wirklich sind. Wir entfernen und entfremden uns immer weiter von uns selbst, was den Wunsch und die Sehnsucht nach mehr Echtheit und Authentizität wachsen lässt. Oder zumindest nach dem, was uns als Echtheit verkauft wird.

Um uns dem wieder zu nähern, uns also selbst zu finden, unser „wahres Ich“ zu ergründen und zu erkennen, begeben wir uns nun auf die Suche. Beantragen ein Sabbatical, reisen um die Welt, befragen spirituelle Gurus, beginnen zu Meditieren, lesen Ratgeber, um… Ja um was eigentlich herauszufinden? Was sich hinter dem Vorhang bzw. der Maske verbirgt? Oder anders gesagt, wenn wir mal nicht vorgeben wer zu sein, um ja nicht anzuecken, um die Erwartungen der Gesellschaft und unseres Umfelds an uns selbst, nicht zu enttäuschen.

Aber geht das überhaupt? Gibt es so etwas wie ein „wahres, authentisches Ich“? Oder ist es eine bloße Illusion oder gar eine weitere Verkaufsmasche der Industrie? Du musst dich erst finden, um glücklich zu sein.

Was bedeutet Authentizität eigentlich?

Wenn man den Begriff Authentizität nachschlägt, dann findet man so etwas, wie: Das bildungssprachliche Substantiv Authentizität bedeutet „Echtheit“. Es bezeichnet die Eigenschaft einer Sache, Person oder Organisation authentisch zu sein, also auf Echtheit geprüft und „als Original befunden“.

Aber wer kann das überprüfen? Ich selbst? Meine Mitmenschen? Wo bekomme ich dieses Qualitätssiegel her?

Schon seit der Antike beschäftigen sich die Menschen, insbesondere die Philosophen, mit der Frage nach der Existenz des Menschen. Woher wissen wir, wer wir sind? Das wir überhaupt existieren.

„Cogito ergo sum“ – Ich denke also bin ich. So lautet die berühmte These des Philosophen René Descartes. Was er damit versuchte zu sagen, war: Wenn ich denke, dann existiert der Träger dieses Gedankens. Ich bin der Träger dieses Gedankens. Also existiere ich in der Schlussfolgerung. Descartes Argument ist also, dass wir uns dadurch erkennen, dass wir einen Denkvorgang bemerken und dass unser Körper und Geist klar voneinander getrennt sind. Unklar bleibt aber, welche Art das denkende Ich ist, was das Denken bemerkt. Ai ai ai.

Es gibt mittlerweile auch einige Wissenschaftler, insbesondere aus der Neurobiologie, die Descartes These widerlegt haben und der Auffassung sind, dass wir uns zunächst über unsere physischen Sinne erfahren und nicht über das Denken. Ein interessantes Buch dazu, mit dem Titel „Descartes Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn“, hat der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio geschrieben. Er kommt zu dem Schluss, dass die jahrhundertelang angenommene Trennung zwischen Körper und Geist ein Irrtum sei und stattdessen ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen Körper und Geist besteht, die sich ständig gegenseitig beeinflussen. Sehr spannend! Ich verlinke dir das Buch mal in den Shownotes.

Heute, gestützt durch die Erkenntnisse aus Neurowissenschaft und Psychologie, betrachtet die moderne Philosophie uns Menschen als biologische Wesen mit geistigen Fähigkeiten. Unser Ich-Gefühl und unser Selbstbild erwachsen demnach aus der Abgrenzung unserer eigenen Person von der Außenwelt und der Spiegelung im anderen. Dadurch erlangen wir also eine Vorstellung von uns selbst und somit die Fähigkeit zur Selbsterfahrung.

Spannend finde ich, dass wir schon, wenn wir auf die Welt kommen, als Neugeborene, auf den Grundlage von Sinneswahrnehmungen gefühlsmäßig zwischen Ich und Umwelt unterscheiden können. Aber erst ab etwa dem 18. Lebensmonat können wir uns selbst im Spiegel erkennen. Und zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr lernen wir schließlich, unsere eigenen Wünsche und Überzeugungen von denen anderer zu unterscheiden. In der Pubertät, wie du vermutlich selbst auch erlebt hast, erfahren wir dann noch mal eine besondere Phase der Abgrenzung unserer Selbst, insbesondere von unseren Eltern.

Also, noch mal kurz zusammengefasst: Unser Ich-Gefühl entsteht aus der Erfahrung heraus, dass ich einen eigenen Körper habe, die Welt aus meiner eigenen Perspektive wahrnehme und die Urheberin meines Handelns bin. Unser Selbstbild hingegen entwickelt sich erst in der Verbindung mit der Fähigkeit, die eigenen Überzeugungen und Wünsche von denen anderer abzugrenzen. Und, wer ich bin, vermögen wir auch keineswegs immer selbst am besten einschätzen zu können. Darum haben andere Menschen auch die wichtige Funktion, unser Selbstbild zu spiegeln und uns damit zu konfrontieren.

Kann ich wirklich authentisch leben?

Wenn wir uns also vor allem darüber selbst erfahren, indem wir herausfinden, was und wer wir nicht sind, dann bedeutet das doch eigentlich in der Schlussfolgerung, dass wir möglichst viele Erfahrungen und, ich nenne es jetzt mal „Fehler“, machen sollten, um uns selbst näher zu kommen. Also genau das, was wir in der Schule und oft auch im späteren Leben nicht tun dürfen.

Ich weiß noch, wie ich damals nach der Schule fast daran verzweifelt bin, den perfekten passenden Studiengang aus gefühlt hundert tausenden zu wählen. Bloß keine Fehlentscheidung treffen! Hat nicht so ganz geklappt. Zwei Abbrüche hat es gebraucht, bis ich bei BWL gelandet bin, nur um dann im sechsten Semester festzustellen, dass es doch nicht das Wahre ist.

Und diese Erfahrungen unter anderem, bestärken mich immer mehr in der These, dass es vermutlich gar nicht das eine „wahre, authentische Ich“ gibt. Dem deutschen Philosoph Thomas Metzinger zufolge, ist unser Selbst kein Ding, sondern viel mehr ein Vorgang. In seinem Buch „Being No One“, erklärt er, weshalb er der Überzeugung ist, dass es weder so etwas wie einen Kern unseres Selbst gibt noch so etwas wie eine scharf abgegrenzte Identität über die Zeit hinweg. In dem Sinne sind wir niemand.

Auch der kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor ist der Meinung, dass unser Selbst nichts ist, was in irgendeiner Wiese bereits da wäre, um dann gefunden werden zu können. Woran er allerdings glaubt, ist dass in jedem Menschen das Potenzial innewohnt, seine eigene individuelle „Stimme“ zu finden und zum Ausdruck zu bringen. Wahre Authentizität besteht für ihn in der möglichst umfassenden Realisierung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale. Und die sind nicht statisch sondern dynamisch, erweiterbar und veränderlich.

Ein interessanter Gedanke ist es, in dem Zusammenhang, sich die Frage zu stellen, ob, man sich, wenn man seinem eigenen Ich vor 10, 20 Jahren auf der Straße begegnen könnte, noch mit diesem identifizieren würde. Also, wenn ich mir das vorstelle, Marilena vor 10 Jahren, da war ich 15. Ich würde die Marilena vermutlich noch als mich selbst betrachten und anerkennen können, aber auf der anderen Seite würde ich mich im Vergleich zu heute als neues Ich begreifen. Dadurch, dass mein Bewusstsein und meine Wahrnehmung heute eine ganz andere ist, als damals.

Wenn man das jetzt alles mal zusammen betrachtet, bedeutet das nicht eigentlich, dass Authentizität eine große Illusion ist? Dass wir eigentlich gar nicht wir selbst sein oder werden können? Weil wir uns nie objektiv betrachten können, sondern immer nur durch die Brille der Subjektivität unserer selbst geschaffenen Welt. Die sich immer wieder verändert, wenn wir neue Erfahrungen machen und damit unsere Realität und unser Bewusstsein erweitern.

Ich denke, wie gesagt, dass es vermutlich wirklich nicht dieses eine „authentische Ich“ gibt. Aber dennoch können wir, glaube ich zumindest, ein authentisches Leben in dem Sinne führen, dass wir möglichst bewusst leben, uns dadurch selbst besser kennen und entsprechend unserer Vorstellungen und Werte leben können.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat einmal gesagt: „Ein Mensch muss wissen, was er will, und wissen, was er kann: Erst so wird er Charakter zeigen, und erst dann kann er etwas Rechtes vollbringen.“

Die Schwierigkeit besteht, denke ich, vor allem, weil ich es selbst erlebe, darin, zu unterscheiden, was wir selbst wollen und, was wir tun, um von unseren Mitmenschen und der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Denn vollständig loslösen können wir uns davon in der Regel nicht. Das scheint ein Überlebensmechanismus zu sein. Dass wir uns zum Schutz eines positiven Selbstbildes systematisch Selbsttäuschungen hingeben. Mal mehr mal weniger bewusst oder unbewusst. Das ist weder stets unvernünftig noch grundsätzlich nachteilig. Es kann sogar ausgesprochen nützlich sein, sich positiven Illusionen hinzugeben. Zum Beispiel erleben Eltern die eigenen Kinder in der Regel als überdurchschnittlich hübsch und intelligent. Darüber hinaus lässt uns Selbsttäuschung vergangene Niederlagen vergessen und erhöht unsere Motivation und unserer Selbstvertrauen.

Fake it till you make it! Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Der Soziologe Niklas Luhmann hat mal gesagt: „Aufrichtigkeit lässt sich nicht kommunizieren. Sobald man sagt, dass man etwas wirklich ganz ehrlich meine, wird der andere misstrauisch.“

In dem Sinne, glaube ich auch, dass es zwar einerseits gut ist, sich hin und wieder mit sich selbst zu befassen und zu hinterfragen, ob das eigene Tun und Sein noch mit den persönlichen Werten und Vorstellungen übereinstimmt. Auf der anderen Seite, denke ich, je krampfhafter wir versuchen, wir selbst zu sein und andere von unserer Authentizität zu überzeugen, desto umauthentischer werden wir. Aber das ist auch nur eine These, die auf eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beruht für die ich noch keine wissenschaftlichen Belege habe. Vielleicht siehst du das ja ganz anders?

Was bedeutet für dich authentisch sein? Wenn du magst, schreib mir gerne deine Gedanken. Als E-mail, auf Instagram oder per Brieftaube. Wenn dir die Folge gefallen hat, freue ich mich, wenn du sie mit Freunden, Familie, Kollegen und Unbekannten teilst. Oder dir sogar die Zeit nimmst, mir eine kurze Rezension auf iTunes zu hinterlassen. In dem Sinne, Machs gut! Sei einfach ganz du selbst! Und hoffentlich bis bald, bei Sinneswandel, dem Podcast für persönliche und gesellschaftliche Transformation.

 

Marilena Berends

Podcast Sinneswandel, Folge #128

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