Fast jede*r weiß um die Dringlichkeit der Klimakrise. Doch weshalb wird sie nach wie vor nicht ernst genommen? Bewusstsein um einen Zusammenhang allein, hat leider nur geringen Einfluss auf unser tatsächliches Handeln. Nicht zu wenig Wissen, sondern ein mangelndes Gefühl an Betroffenheit ist die Ursache. Betrifft uns etwas persönlich, entsteht Betroffenheit. Heißt das, wir müssen erst selbst Erfahrungen machen, damit wir uns betroffen und handlungsfähig fühlen? Geht es nicht auch anders? Gastautorin Julia Gaidt glaubt daran, dass es möglich ist. indem wir Geschichten erzählen. Geschichten, die es uns ermöglichen, Erlebtes nachzufühlen. Die uns die Augen öffnen und aktivieren. Eine solche Geschichte hat Julia Gaidt zu erzählen. Von einem Erlebnis, das sie selbst und ihr Weltbild erschüttert hat und das sie in dem Wunsch teilt, dass es auch andere berührt und ermutigt, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen.
Shownotes:
Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.
► IPCC Report on Global Warming of 1.5°.
► Luisa Neubauer & Alexander Repenning: Vom Ende der Klimakrise.
► Vortrag Luise Tremel: „Aufhören. Warum, wie, wer und wann am Besten was“.
► 1,5°C-Ziel Machbarkeitsstudie.
► bpb.de: Wie hängen Pandemie, Umweltzerstörung und Klimawandel zusammen?.
► Greta Thunberg: Ich will das ihr in Panik geratet!.
► Carbon Clock des MCC.
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Transkript: Die Zerstörung (m)einer Illusion – ein Erfahrungsbericht
Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.
Betrifft uns etwas persönlich, entsteht Betroffenheit. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes berührt, fühlen mit und nicht selten empfinden wir das Bedürfnis, uns zu involvieren. Oft erst, wenn wir etwas selbst mit unseren eigenen Sinnen gesehen und erlebt haben, können wir das Ausmaß der Dinge begreifen. Wie der Backpacker, der auf Reisen beim Surfen im Müll schwamm und infolgedessen ein Unternehmen zur Bekämpfung von Plastik gründete. Oder die Schülerin, die in einer Tier-Doku sah, wie die Wurst, die sie täglich auf dem Pausenbrot aß, eigentlich hergestellt wird und danach zur Umwelt- und Tierschutzaktivistin wurde. Es gibt viele Beispiele, wie diese. Doch manchmal frage ich mich, ob es wirklich immer erst diese persönliche Betroffenheit, das eigene Erleben bedarf, um sich involviert und infolgedessen handlungsfähig zu fühlen? Gibt es überhaupt irgendetwas, das uns nicht betrifft – in einer globalisierten und vernetzten Welt, wie unserer? Zumal in der Natur eh kein “Dein” und “Mein”, kein intern und Extern existiert – alles ist mit allem verwoben. Nicht umsonst sprechen Expert*innen, wie der Klimawissenschaftler Mojib Latif immerzu von der Gefahr drohender Kipppunkte. Treibhausgase lassen die Temperaturen ansteigen, die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt an, Wetterextreme häufen sich, Dürren entstehen, Ernten bleiben aus… ein globaler Kreislauf, in dem kein Teil isoliert von einem anderen zu betrachten ist. Und doch leben wir heute so, als mache es einen Unterschied, wenn der globale Norden seine Emissionen und seinen Müll einfach im globalen Süden ablädt. Und solange die Näherinnen unserer hierzulande billig erworbenen T-Shirts, im gefühlt weit entfernten Bangladesh sitzen und wir ihr Elend nicht sehen können, scheint die Welt für viele heil zu sein. Kein Grund etwas zu ändern. Selbst, wenn wir uns insgeheim dessen bewusst sind, dass nicht alles mit rechten Dingen geschieht.
Doch das Bewusstsein um einen Zusammenhang allein hat nur geringen Einfluss auf das tatsächliche Handeln. Nicht zu wenig Wissen, sondern ein mangelndes Gefühl an Betroffenheit sei die Ursache, so Klimapsychologin Janna Hoppmann. Letztendlich gehe es vor allem darum, nicht nur den Kopf anzusprechen, sprich Faktenwissen zu vermitteln, sondern auch über das Gefühl der Betroffenheit das emotionale Erleben des Themas mit einzubeziehen, damit ein Prozess des Umdenkens und Hinterfragens losgetreten werden könne. Diese Theorie untermalt auch der Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem Buch “Eine Frage der Ehre”, demzufolge fünf Phasen existieren, innerhalb derer sich “moralische Revolutionen” vollziehen, wie sie Appiah bezeichnet. So wird in Phase eins das Problem, nehmen wir mal den Klimawandel, gänzlich ignoriert, in Phase zwei wird es immerhin anerkannt, jedoch fehlt der persönliche Bezug, um etwas zu ändern. In Phase drei wird schließlich auch die persönliche Betroffenheit anerkannt, allerdings werden noch genug Ausreden gefunden, weshalb ein Handeln unmöglich ist – vermutlich die Phase, in der wir uns gegenwärtig im Bezug auf die Bewältigung der Klimakrise befinden – erst in Phase vier wird schließlich das Problem angepackt. Und in Phase fünf blickt man schließlich mit einem Kopfschütteln zurück und fragt sich, wie man überhaupt so lange warten konnte.
Müssen wir wirklich selbst Erfahrungen machen, die uns wachrütteln, damit wir uns betroffen und infolgedessen handlungsfähig fühlen? Ich hoffe es nicht. Denn nicht nur haben wir nicht die Zeit dafür, auch wünsche ich es keinem Menschen, erst Leid am eigenen Körper oder der Nahestehender erfahrungen zu müssen, damit sich etwas bewegt. Geht es nicht auch anders? Kann es vielleicht auch gelingen, dass wir miteinander mitfühlen, Betroffenheit jenseits geografischer Distanzen und nationaler Grenzen empfinden, das uns dazu befähigt uns für andere und damit zugleich für uns selbst einzusetzen?
Gastautorin Julia Gaidt glaubt daran, dass es möglich ist. Vor allem, indem wir Geschichten erzählen. Geschichten, die es uns ermöglichen, Erlebtes nachzufühlen. Selbst, wenn wir nicht live mit dabei waren. Geschichten, die uns die Augen öffnen und aktivieren, statt lähmen. Die uns Mut machen und Hoffnung geben. Eine solche Geschichte hat Julia Gaidt zu erzählen. Von einem Erlebnis, das sie selbst und ihr Weltbild erschüttert hat und das sie vor allem in dem Wunsch teilt, dass es auch andere berührt und ermutigt, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen.
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Die “Apokalypse” war für mich bisher ein diffuser und allenfalls mit Science Fiction verbundener Begriff. Über den Klimawandel wusste ich als Akademikerin, Anfang 30 natürlich Bescheid. Aber ich muss mir beschämt eingestehen, dass dieses Wissen geschichtenlos war. Einigermaßen gut verdrängt und weit weg, in der fernen Zukunft. Beides hat sich im vergangenen Jahr grundlegend geändert. Ich habe jetzt eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, die mein Leben erschüttert und mich wachgerüttelt hat. Und ich erzähle sie, in der Hoffnung, es werde auch anderen allein beim Hören so gehen. In der Hoffnung, dass sich damit meine Vermutung, dass nur durch die Erfahrung persönlichen Leids, eine grundlegende Transformation zu erreichen sei, die dem fortschreitenden Klimawandel ein Ende setzt, als falsch bewahrheitet.
Ich lebe vorübergehend in den USA, genauer gesagt, in der Bay Area bei San Francisco, in Kalifornien. 2020 war hier ein sehr schwieriges Jahr. Zu den massiven Einschränkungen durch die Corona-Pandemie kam eine diffuse Angst aufgrund der politischen Situation und der Tatsache, dass wir das Land zwar hätten verlassen können, aber nicht hätten zurückkehren können. Konkret bedeutet das bis heute, unsere Freund*innen und Familien in Deutschland seit über einem Jahr nicht gesehen zu haben. Und als wäre das nicht genug, war der Sommer extrem trocken, mit mehreren Hitzewellen und in der Folge einer ab Mitte August verheerenden Waldbrandsaison. Letztere bedeutete für uns über zwei Monate lang ungesunde bis schwer schädliche Luft mit nur wenigen Atempausen. Und, da unser 18 Monate alter Sohn noch keine Maske hätte tragen können, die vor den Rauchpartikeln geschützt hätte, waren wir die meiste Zeit in unserer Wohnung gefangen. Unser Luftreinigungsgerät lief auf Hochtouren. Eine von Tag zu Tag weiter fortschreitende Ausnahmesituation, die irgendwann zur absurden “Normalität” wurde. Und in diesen Zustand hinein platzte völlig unerwartet “der Weltuntergang”. Er kündigte sich schon am Vortag durch eine kaum noch leuchtende, blutrote Sonne inmitten eines senfgelben Himmels an. Aber was am nächsten Morgen, dem 9. September 2020 auf uns wartete, hätte ich mir nicht im Traum ausmalen können.
Der Morgen dämmert viel später als gewohnt, und in orange. Das klingt erst mal malerisch-schön. Wir alle kennen diese bunt gefärbten Himmel bei Sonnenauf- und -untergang. Aber schon beim zweiten Hinsehen, und vor allem mit fortschreitender Tageszeit wird klar, dass hier etwas ganz anderes, ganz und gar nicht Schönes geschieht. Der Himmel ist von einer so dicken Rauchdecke durch die Waldbrände bedeckt, dass das Tageslicht nur als rötlicher Schimmer durchdringt und ich von Licht im engeren Sinne eigentlich gar nicht sprechen kann. Mitten in das dämmerige Orange wird es ab vormittags zehn Uhr immer röter – und dunkel. Nicht so finster, wie in einer sternenklaren Nacht ohne Mond, aber doch so dunkel, dass wir in der Wohnung Licht brauchen, um die Hand vor Augen erkennen zu können. Draußen sieht es auf den ersten Blick aus, als befänden wir uns mitten in der Nacht, inmitten einer Großstadt: bewölkter Himmel, es hat gerade frisch geschneit und die niedrige Wolkendecke und die Schneedecke werfen sich abwechselnd das Licht der Straßenlaternen zu. Erst fasziniert es mich, dass es mitten am Tag so dunkel sein kann und es nach drei Tagen mit 35 Grad jetzt auf einmal nur noch 16 Grad sind. Aber es bleibt und bleibt dunkel. Es wird immer beengender. Angsteinflößender. Rausgehen geht nur für wenige Minuten. Die Luftqualität ist unzumutbar. Kurz für ein Foto wage ich mich aber dennoch ins Freie. Dabei fällt mir auf, dass in dieser dunkelroten Atmosphäre, auf Dachziegeln, Autos und jedem einzelnen Blatt, ein gräulicher Schatten liegt. Und spätestens da ist der Vergleich mit der friedlich, weißen Schneenacht hinüber. Die Welt ist von Asche bedeckt. Ein toxisch und leblos wirkender fahler Anstrich. Und es schneit tatsächlich, wenn ich im Scheinwerferlicht genau hinsehe – aber, was da vom Himmel rieselt, ist Asche. Wir ziehen uns in die letzte Herberge die bleibt zurück: unsere Wohnung, in der es noch Strom gibt. Also Licht. Und etwas zu Essen. Und dank der Kombination aus Strom und Luftreinigungsgerät auch saubere Luft zum Atmen. Die Welt draußen ist auf einmal so lebensfeindlich, wie ich sie mir nur vorstellen kann. Wobei das nicht ganz stimmt. Ich konnte mir so etwas vorher nicht vorstellen. Und sicher geht es noch viel schlimmer. Langsam aber sicher bekomme ich eine Idee davon, wie es auf dem Mars oder der Venus sein muss: Unbelebbar. Die dicke Rauchschicht über uns und um uns herum erstickt jedes Gefühl von Hoffnung. Lässt vergessen, dass darüber tatsächlich die Sonne scheinen muss. Es wird unvorstellbar, dass irgendwo auf der Welt der Himmel gerade blau ist. Es scheint räumlich und zeitlich kein Ende der Dunkelheit in Sicht. Nach sozialer Isolation und Bewegungseinschränkung durch ein Virus über Monate und Verlust der Luftqualität über Wochen, ist nun auch das Tageslicht verschwunden.
Es ist kein Geheimnis, dass das große Ausmaß der Waldbrände in Kalifornien dem menschengemachten Klimawandel zuzuschreiben ist. Und mit diesem Wissen und dem für mich bisher abstrakten Wissen, dass diese Extreme in den kommenden Jahren immer weiter zunehmen werden (1), wird für mich in der roten Dunkelheit auf einmal eine grauenhafte Zukunft der Erde sichtbar: Ich sehe mein Kind in dieser Dunkelheit aufwachsen, drinnen, ohne Sonnenschein, ohne frische Luft, ohne die Möglichkeit mit anderen Kindern lachend über einen Spielplatz zu rennen. Ich sehe, dass unter dieser Rauchdecke faktisch kein Leben möglich sein wird, denn ohne Licht kein Pflanzenwachstum. Ich sehe das Leben der Menschen auf unserem einst so grünen Planeten, in dieser blutroten Dunkelheit verschwinden. Ich sehe all das, wie durch eine Glaskugel, und bekomme Angst. Eine existentielle Angst, wie ich sie noch nie gefühlt habe. Ein „normales“ Leben scheint auf dieser Welt mit fortschreitender Zerstörung unserer Lebensgrundlage nicht mehr möglich zu sein. Mein Leben war gut bisher. Ich könnte das verkraften, klar, auch wenn es viel zu betrauern gäbe. Aber mein anderthalbjähriger Sohn wird nie ein „normales“ Leben kennenlernen.
Meine Zukunftsvision hält nur für einige Minuten, vielleicht einige Stunden an, die Dunkelheit für einen Tag und die wirklich schlechte Luftqualität für eine Woche. Danach wird das Unvorstellbare wahr: Wir können zum ersten Mal nach sieben Tagen wieder vorübergehend lüften, das Haus verlassen, und die Sonne scheint. Ich muss mich vergewissern, dass die Welt da draußen tatsächlich noch existiert. Und ich lebe an einem so privilegierten Ort, dass sie das für mich auch tut. Ich bin weder evakuiert worden, noch ist mein Haus abgebrannt, noch habe ich Angehörige oder mein eigenes Leben in den Flammen verloren, wie so viele andere. Aber etwas in mir ist zerstört worden. Der Glaube daran, dass die Welt einfach immer weiter so existieren wird, wie ich sie kenne. Dass mögliche politische Unruhen die größten Unsicherheitsfaktoren in meinem Leben seien. Dass ich weiterhin ein Leben in Frieden fernab von Kriegen und Naturkatastrophen führen würde. Dass es wirklich wieder eine echte “Normalität” nach der Pandemie geben wird. Es ist, als wäre ich aus einem Traum aufgewacht, nur beginnt da erst der Albtraum. Meine bisherige „Normalität“ hat sich als Illusion entpuppt. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich in meinem Glauben, dass alles immer irgendwie gut werden wird, erschüttert.
Klar, ich wusste vorher von der „Erderwärmung“. Sie wird auch bekämpft, von den einen ideologisch, von den anderen tatsächlich. Aber insgesamt viel zu wenig. So viel wird klar, wenn ich mich nur wenige Tage mit dem Thema beschäftige. Mit Entsetzen reibe ich mir in diesem Jahr zum wiederholten Male die Augen – was haben wir nur getan? Was tun wir tagtäglich? Und dann wird schnell klar, selbst wenn ich als einzelne Person jetzt versuche, mein Leben komplett umzustellen, wird das im Großen und Ganzen nicht viel ändern. Erst, wenn alle oder ein Großteil der Menschen wirklich etwas ändern würden, wäre diese Krise aufzuhalten. Sprich, es bräuchte einen Sinneswandel – auf allen Ebenen. Aber vor allem systemisch. Ohne diese Kehrtwende ist es nicht möglich, was Luisa Neubauer in ihrem Buch “Vom Ende der Klimakrise” Adorno-like zusammenfasst: „Es gibt kein nachhaltiges Leben in einer nicht-nachhaltigen Gesellschaft.“ (2 S. 37) Es braucht also einen gesellschaftlichen Wandel. Hin zu einem System, das auch funktioniert, ohne den Planeten dabei zu zerstören. Ein System, das nicht darauf fußt, die natürliche Lebensgrundlage aktueller und zukünftiger Generationen auszubeuten. Uns wird immer wieder gepredigt, wenn es nur genug neue innovative, „grüne“ Techniken gäbe, dann müssten wir uns nicht einschränken und können einfach mit unserem, auf Wachstum aufbauenden System weitermachen. Aber laut dem Ökonomen Niko Paech ist das Unfug. Er plädiert für eine Gesellschaft ohne Wachstum und erklärt mit dem Begriff der “Postwachstumsökonomie”, wie das möglich sei (3). Aus einer etwas anderen Sicht beschreibt die Historikerin und Transformationsforscherin Luise Tremel, wie das „Aufhören“ mit unserem System möglich wäre und vergleicht diesen Prozess mit der Abschaffung der Sklaverei (4). Auch hier war der Wohlstand Vieler von der Ausbeutung, in diesem Falle der Versklavten, abhängig. Heute ist unser Wohlstand von fossilen Infrastrukturen und Energieträgern abhängig, die Gegenwart und Zukunft ausbeuten. Und wie auch die Sklaven damals, wird sich die Erde nicht von selbst von der Ausbeutung befreien können – oder nur in einem Ausmaß, dass vermutlich mit unserem Aussterben einhergeht – sondern wir, die davon profitieren, müssen uns bewusst für diesen Verzicht entscheiden. Es bedarf laut Luise Tremel einer „freiwilligen Selbstdeprivilegierung“ (4). Luisa Neubauer fasst das in ihrem Buch so zusammen: „Es geht also um ein bewusst angestrebtes Weniger: weniger quantitatives Wachstum, weniger Ressourcenverbrauch, weniger Emissionen, weniger Ausbeutung. Im Idealfall würde das Wohlstandsparadigma das Beste beider Welten miteinander vereinbaren: hohe soziale Standards, aber wenig Treibhausgase und Umweltbelastungen. Globalisierung ohne globale Abhängigkeiten. Wachstum, ja, aber nur eines, das auch glücklich macht. Also ein qualitatives Wachstum: an Freiheit, Zufriedenheit, Gesundheit und Unabhängigkeit.“ (5 S.175-176) Klingt eigentlich gar nicht nach Verzicht.
Das ist keine neue Botschaft. Und ich bin auch nicht ihr Urheber. Aber vielleicht konnte ich sie vorher nicht sehen, nicht begreifen, mich nicht aktiv mit ihr beschäftigen, ohne wirklich am eigenen Leib die Erfahrung gemacht zu haben, was diese Zerstörung unserer Lebensgrundlage durch unseren – und damit meine ich vor allem den westlichen – Lebensstil bedeuten wird. Und ich habe „nur“ einen Tag im Dunkeln gesessen. Mir ist bewusst, dass es Millionen von Menschen weltweit gibt, die deutlich drastischere Erfahrungen durchleben, machen mussten und wohl leider machen werden. Warum berichte ich das also alles hier? Ich möchte meine Geschichte erzählen, die Trauer um die möglicherweise verlorene Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder teilen, in der Hoffnung, ein winziges Stück zu ihrer Rettung beizutragen. Ich möchte die kurze Meldung aus der Tagesschau vom „roten Himmel über San Francisco“ erlebbar und fühlbar machen. Erst Monate nach dem Ereignis bin ich auf ein Wort gestoßen, das das Gefühl, die Angst, die ich empfunden habe, als “Solastalgie” benennt. Das ist ein noch relativ neuer Begriff für den Schmerz, die Trauer und die psychische Not, die durch den Stress entstehen, wenn Menschen von Umweltzerstörung z.B. im Rahmen der Klimakrise betroffen sind. Zu wissen, dass es ein Wort für mein Gefühl gibt, tut gut und hilft beim Verstehen. Begreifen werde ich diesen dunklen Tag aber wohl nie in Gänze.
Ich werde an dieser Stelle keine Fakten zur Klimakrise vortragen. Dass wir unter 1,5 Grad bleiben müssen, ist bekannt (1). Es wurde im Pariser Klimaabkommen auf politischer Ebene sogar beschlossen. Nur umgesetzt wird es bislang nicht. Es liegt an uns, u.a. bei der nächsten Wahl, dafür zu sorgen, dass Deutschland dieses Ziel wieder ernst nimmt und alles erdenklich Mögliche tut, um das zu erreichen. Denn es ist möglich, noch (!), wie eine Studie, die von Fridays for Future beim Wuppertal Institut in Auftrag gegeben wurde, erst kürzlich gezeigt hat (6). Nur wird es nicht reichen, ein bisschen mehr Fahrrad zu fahren, auf Plastikstrohhalme zu verzichten und mit gut gemeinten Floskeln die Menschen zu beruhigen. Ein alternativer, rundum nachhaltiger Lebensstil ist aktuell eher ein Luxus, den sich die meisten Menschen in Deutschland nicht leisten können. Und es wäre unfair, den einzelnen Bürger*innen die Verantwortung dafür zu überlassen. Es wird nicht reichen „Kompromisse zu suchen“, wie so oft propagiert wird, wenn es mal wieder heißt, „es werde ja schon viel getan, aber man müssen ja auch…“.
Alle Kosten, in allen Bedeutungen des Wortes, werden zweitrangig werden, wenn es die Welt, wie wir sie bisher kennen, so nicht mehr gibt. Wenn Banken „too big to fail“ sind, warum nicht auch unser Planet? Und wer jetzt meint, die Bekämpfung der Corona-Pandemie stünde erstmal im Vordergrund, und danach müsse die Wirtschaft wieder dran sein und für Klimaschutz sei leider keine Zeit, der begeht einen großen Denkfehler: Denn durch unser derzeitiges, auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem, und die dadurch immer weiter fortschreitende Zerstörung des Planeten, entstehen Pandemien, wie die aktuelle überhaupt erst. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit zum Beispiel warnt davor, dass das Risiko für eine solch rapide und gefährliche Verbreitung von Viren weiter steigen wird, wenn die Menschen nicht aufhören, in den natürlichen Lebensraum von Tieren einzudringen (7). Genau wie bei der Pandemiebekämpfung, gilt auch beim Klimaschutz: Es gibt den ausgehandelten Kompromiss zwischen „dem Problem“ und „der Wirtschaft“ nicht. Sondern auch „die Wirtschaft“ – und eigentlich sollte es doch viel eher „die Menschen“ oder „die Gesellschaft“ heißen – kann nur geschützt werden, wenn das Problem konsequent, sinnvoll, vollständig und vor allem zeitnah angegangen wird. Genauso, wie ein verzögerter und halbherziger Lockdown weder Wirtschaft noch Menschen nützt, wird eine halbherzige Bekämpfung der Klimakrise, die dadurch angestoßenen, sich verselbstständigenden Prozesse nicht aufhalten oder auch nur abmildern können. Eine Vertagung der Lösung in die Zukunft ist in beiden Fällen, mehr als fatal.
Es gibt viele Lösungsansätze und Fachleute, die sich schon lange mit der Bekämpfung der Klimakrise beschäftigen. Die Ressourcen dazu sind längst vorhanden. Sie müssen nur genutzt werden. Es ist zwar klar, dass dies kein leichter und günstiger Weg sein wird. Mir ist jedoch klar geworden, dass es der einzige, bezahlbare Weg ist, der überhaupt die Möglichkeit mit sich bringt, dass unser Planet langfristig so bleibt, wie wir ihn zum Leben benötigen. Die Bekämpfung der Zerstörung unserer Lebensgrundlage muss das Wahlthema 2021 werden, an dem keine Partei vorbeikommt, wenn sie gewählt werden will. Nur so können wir die Katastrophe noch abmildern. Greta Thunberg hat gesagt: „ich will, dass ihr in Panik geratet.“ (8) An diesem schwarz-roten Mittwoch im September habe ich diese Panik erlebt. Sie ist absolut berechtigt und keinesfalls „Angstmache“, als welche sie so gern abgetan wird. Aber sie darf nicht lähmen, sondern sollte uns aktivieren, an dem Zustand etwas zu ändern. Und zwar jetzt! Nach neuesten Berechnungen bleiben der Menschheit, gerechnet ab Ende 2017, noch 420 Gigatonnen CO2, auf Deutschland runtergerechnet 4,2 Gigatonnen, die verbraucht werden dürfen, soll die globale Erhitzung auf maximal 1,5°C begrenzt werden. Was mehr als wünschenswert ist, wenn wir nicht in eine unaufhaltbare Abwärtsspirale rutschen wollen, die unser Leben, so wie wir es kennen, wohl beenden wird (1). Aber was bedeuten diese Zahlen nun? Bei der aktuellen Verbrauchsmenge von 42 Gigatonnen pro Jahr weltweit, ist dieses Budget Stand Mai 2021, in 6 Jahren und 7 Monaten aufgebraucht (9). Das sind keine zwei Legislaturperioden mehr! Und das macht die kommenden Wahlen so wichtig und im wahrsten Sinne des Wortes lebensentscheidend. Für die Menschen in meiner aktuellen Umgebung wird langsam Realität, was an vielen anderen Orten der Erde schon lange gilt und an wieder anderen bald drohen wird: der bisherige Lebensraum, der uns als zu Hause galt, wird zunehmend unbewohnbar, wenn wir weiter verdrängen, was unser maßloser Lebensstil und das ausbeuterische kapitalistische System mit dem Planeten anstellen.
Die Waldbrandsaison ist hier erst einmal vorüber. Der Himmel strahlt wieder in Königsblau, und sollte es doch gelegentlich regnen, spüre ich eine unfassbare Dankbarkeit. Auch die Nächte sind wieder sternenklar. Wenn ich die Planeten direkt neben dem Mond stehen sehe, dann ist für einen kurzen Moment sichtbar und im Raum begreifbar, wie schräg ich auf der Erde gerade durch das Weltall schwebe. Dann ist erahnbar, was Astronaut*innen oft berichten: die Tatsache, dass wir auf der Erde leben können, ist in diesem schwarzen, unendlichen und lebensfeindlichen Weltall etwas ganz Besonderes und Schützenswertes. Es liegt in unseren Händen, sie zu erhalten. Und, wir müssen die Menschen und Parteien wählen und unterstützen, die diese Dringlichkeit verstanden haben.
Ich danke euch fürs Zuhören. Wenn der Podcast euch gefällt, dann teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Außerdem würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir weiterhin gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.