Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

von Henrietta Clasen

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, so Aktivistin Carola Rackete, die als Kapitänin der Sea-Watch 3 mit 53 libyschen Geflüchteten im Juni 2019, entgegen den Anweisungen des italienischen Innenministeriums, im Hafen von Lampedusa anlegte. Für die meisten wirkt ihr Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde. Auch, wenn Racketes Geschichte durch die mediale Präsenz große Bekanntheit erfuhr, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetze auflehnt und damit viel aufs Spiel setzt. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

Shownotes:

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► Carola Rackete: “Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation”. Droemer Knaur (2019).
► Ihr findet Carola auch auf Twitter.
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► Auch hörenswert: Interview im Sinneswandel Podcast mit Erik Marquardt “Kann Solidarität grenzenlos sein? Über Hoffnung auf Europäische Lösungen und Menschlichkeit” (11/2020).

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Transkript: Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

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Es ist der 29. Juni 2019. Im Hafen von Lampedusa, der südlichsten Insel Italiens, geht eine Frau von Board eines Schiffes. Nicht irgendein Schiff und nicht irgendeine Frau. Es ist die damals 31-jährige Kapitänin und Aktivistin Carola Rackete, welche die Sea-Watch 3 verlässt – allerdings nicht allein. Mit ihr an Bord befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch 40 libysche Geflüchtete. Carola Rackete und ihre Crew hatten die Menschen am 12. Juni aus dem Mittelmeer geborgen, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Also bereits 17 Tage, bevor die Sea-Watch 3 in Lampedusa anlegte – ohne Erlaubnis, denn die wurde den Seenotrettern von der italienischen Behörde verweigert. 

Doch anstelle sich von den Worten des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini einschüchtern zu lassen, beschließen Carola Rackete und ihre Crew, ungeachtet der Verweigerung der italienischen Behörde, dennoch einzulaufen. Nicht zuletzt, weil die humanitäre Lage an Bord der Sea-Watch 3 sich immer weiter zuspitzt. Da das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen bestimmt, dass Gerettete an einen sicheren Ort gebracht werden müssen, steht für Rackete fest: Sie werden im 250 Seemeilen entfernten italienischen statt dem libyschen Hafen, der nur 47 Seemeilen entfernten ist, anlegen – weil Libyen, wie auch die EU-Kommission erklärt, kein sicherer Ort für Schiffbrüchige sei. Entgegen den Anweisungen der Guardia di Finanza, die noch versucht das Anlegen zu verhindern, läuft die Sea-Watch 3 in der Nacht vom 29. Juni im Hafen von Lampedusa ein. Als die Kapitänin das Boot verlässt, wird sie nicht nur mit Applaus, sondern auch mit Beleidigungen der lokalen Bevölkerung empfangen. Der Kapitänin drohen nun im Zweifel bis zu 50.000 Euro Geldbuße sowie bis zu zehn Jahre Haft. Der Vorwurf lautet: Verweigerung des Gehorsams gegenüber Vollstreckungsbeamten, Leistung von Widerstand gegen ein Kriegssschiff sowie unerlaubtes Einfahren in italienische Hoheitsgewässer. Noch in derselben Nacht wird Carola Rackete verhaftet und unter Hausarrest gestellt, die Sea-Watch 3 beschlagnahmt. Salvini twittert derweil: „Mission erfüllt! Verbrecherische Kapitänin festgenommen, Piratenschiff beschlagnahmt, Höchststrafe für die ausländische Nichtregierungsorganisation.“

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit, für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, das hatte die Kapitänin bereits am Tag zuvor der taz in einem Interview gesagt. Für die meisten von uns wirkt dieses Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde – nicht viele würden vermutlich ein solches Risiko eingehen. Zwar wurde am 19. Mai 2021, also fast zwei Jahre danach, das Verfahren gegen Carola Rackete eingestellt – es hieß, die Kapitänin habe mit ihrem Vorgehen ihre Pflicht erfüllt, weshalb das Anlegemanöver nicht als Widerstand gegen ein staatliches Schiff eingestuft werde –  doch dieser Ausgang war keineswegs sicher. Was also hat Carola Rackete dennoch dazu bewogen, dieses Risiko einzugehen? Auch, wenn ihre Geschichte durch die Präsenz in den Medien eine große Bekanntheit erlangte, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetz aufgelehnt hat und damit viel aufs Spiel setzte. Als “ziviler Ungehorsam”, wird der Protest auch bezeichnet, den Menschen im Namen der Gerechtigkeit austragen. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

“Ich glaube, dass es sehr häufig einen Unterschied gibt, zwischen der innen Wahrnehmung und der Außenwahrnehmung so einer Aktion. Wo von außen vielleicht etwas als überraschend wahrgenommen wird, während es innerhalb der Leute, die informiert sind, schon vollkommen klar ist, was passiert. Das heißt, als ich 2019 als Kapitän der Sea-Watch 3 verhaftet wurde, war es so, dass mir natürlich zu Beginn dieser Reise klar war, dass es ein Strafverfahren geben würde. Dieses Strafverfahren ist nicht zufällig entstanden. Der Kapitän, der vor mir an Board war, hat eigentlich genau das gleiche gemacht wie ich, er ist aber unbekannt geblieben und hat auch ein Untersuchungsverfahren gegen sich laufen. Deswegen war es auch, auf Grund der politischen Situation, vollkommen klar, dass es bei mir ähnlich sein würde. Aktivismus erfordert, insbesondere, wenn es sich um Aktionen des zivilen Ungehorsams handelt, gute Vorbereitung. Und zwar sowohl im Inhalt bezüglich der Aktion, als auch juristisch und psychologisch. Man sollte sich wirklich bewusst sein, warum man etwas macht, warum man es wichtig findet und sollte möglichst nicht unbedacht in eine Aktion hineingehen. Ich möchte nochmal das Beispiel von Rosa Parks bringen, die ja selbst in Europa häufig bekannt ist. Sie war während des Civil Rights Movements eine Frau, die dafür bekannt wurde, dass sie als Schwarze Person im Bus saß und dann ihren Platz nicht hergeben wollte, obwohl weiße Fahrgäste zugestiegen sind und dann auch verhaftet wurde. Und in der Folge davon entstanden diese Montgomery Bus Boycotts – das heißt, die gesamte Busfirma wurde boykottiert in der Stadt. Diese Episode war ein wichtiger Teil in der Bürgerrechtsbewegung. Und viele Leute denken, dass Rosa Parks zufällig verhaftet wurde. Dass sie einfach an dem Tag, wo sie verhaftet wurde, in diese Situation geraten ist und sich dann entschieden hätte, nicht aufzustehen. Tatsächlich ist es aber so, dass Rosa Parks über Dekaden in der Bewegung für Rechte Schwarzer Menschen involviert war. Dass sie Training erhalten hat – sie war zum Beispiel am Highlander Institut – ein Institut, wo viele Aktivisten politisiert wurden, wo auch Martin Luther King und andere sehr bekannte Personen der Bürgerrechtsbewegung vor Ort waren und sich mit den Aktivisten fortgebildet haben. Den gleichen Protest hat sie schon einmal versucht und dabei kam es nicht zu einer Reaktion der Zivilgesellschaft. Das heißt, unser Bild von Rosa Parks heute ist sehr weichgespült. Wir sehen das als Zufall, wobei sie politisch organisiert war. Sie war gut vorbereitet, sie hatte Netzwerke und sie wusste ganz genau, was sie getan hat. Und das ist für heutiges politisches Handel, für Aktivismus, essentiell. Wir müssen uns vorbereiten. Wir sollten auf keinen Fall ohne gute Unterstützung in solche Aktionen hinein gehen.”

Was für Außenstehende also oft nach spontaner Aktion, nach mutigen und selbstlosen Held*innen aussehen mag, dahinter stecken in der Realität sehr viel öfter eine ganze Reihe von Menschen mit gut organisierten Strukturen und klar durchdachten Plänen. Bei Extinction Rebellion Deutschland, zu deren Unterstützerinnen auch Carola Rackete gehört, sind es beispielsweise über 110 Ortsgruppen, die eigenständig agieren, Aktionen planen und durchführen. Das Presseteam von Extinction Rebellion arbeitet hochprofessionell, es gibt Chat-Gruppen, die Journalist*innenen über geplante Aktionen informieren. Die Aktivist*innen agieren nicht incognito, sie suchen die Öffentlichkeit, haben sogar eigene Fotografen und Kamerateams dabei. Das können sich längst nicht alle, die aufbegehren und zivilen Ungehorsam betreiben, erlauben. Viele Aktivist*innen kennen wir gar nicht, so Rackete, da sie sich verstecken müssen, um nicht ihr Leben zu riskieren.

“Wichtig ist, dass wir uns unserer Privilegien bewusst sind, die wir als weiße Menschen in Europa haben. Wir sind in Ländern, in denen wir Aktivismus machen können, ohne große Gefahr für unsere Unversehrtheit erwarten zu müssen, wo wir großen Einfluss auf die Industrieländer, nämlich auf die Länder, wo Emissionen verursacht werden, wo die Hauptsitze von Firmen sind, die Übersee Ökosysteme zerstören. WIr haben viel mehr Möglichkeiten uns einzusetzen, als Menschen in anderen Ländern und diese Möglichkeiten müssen wir auch wahrnehmen. […] Ich glaube, dann können wir auch erkennen, dass wir in unserer Situation für Aktivismus gar nicht besonders viel Mut brauchen.” 

Und die Frage ist ja auch, ob Aktivismus immer radikal sein muss. Gerade viele der Aktionen von Extinction Rebellion gehen einigen zu weit. Obwohl ihr oberstes Gebot “strikte Gewaltfreiheit” heißt. Damit knüpft die Bewegung an eine Tradition zivilen Ungehorsams an, die Störungen öffentlicher Ordnung dann als legitim ansieht, wenn sich eine große Anzahl an Bürger*innen ungerecht behandelt fühlt. Radikal ist Extinction Rebellion nur in ihren Forderungen – wobei, sind die Aktivist*innen das wirklich? Ist es radikal, wenn man für das Überleben von Menschen und Umwelt protestiert, oder ist es nicht vielleicht sogar radikaler, einfach stur weiterzumachen wie bisher?

“Wir sind im sechsten Massensterben der Arten, das erste was von den industriellen Gesellschaften ausgelöst ist, wir sind in einer Klimakrise – es scheint immer noch so, dass trotz der ganzen Versprechen, die wir überall hören, die großen Konzerne eigentlich nicht wirklich irgendwo im nächsten Jahre ihre Emissionen ändern wollen. Wir steuern also immer noch auf irgendwas zwischen 3-5 Grad zum Ende des Jahrhunderts Erderwärmung zu, was natürlich überhaupt nicht kompatibel ist mit dem Überleben der Gesellschaft, wie wir sie kennen. Und wenn wir sehen, wie dramatisch diese Lage ist, dann ist eigentlich das einzig radikale weiter zu machen, als sei nichts gewesen. Und dann müssen wir uns natürlich fragen, was sind die Machtstrukturen, die es überhaupt ermöglichen, dass diese Art von gesellschaftlichem Leben und Wirtschaften einfach so weitergeht, obwohl sie ganz offensichtlich die Lebensgrundlagen für Menschen und auch nicht menschliche Wesen auf diesem Planeten komplett zerstört und das innerhalb weniger Dekaden. Wenn wir uns das vor Augen führen, welche katastrophalen Konsequenzen es hat, wenn wir nicht handeln, dann ist der Aktivismus auch überhaupt nicht mehr radikal, sondern schlicht notwendig. Es ist wichtig, dass wir uns als Zivilgesellschaft auf verschiedene Art und Weisen. Aber wir können nicht einfach, sehenden Auges, auf dieses Kliff zu laufen, das immer näher kommt, wenn wir nichts tun. Das heißt, der Aktivismus ist in dem Sinne nicht radikal, sondern das einzig Vernünftige. Aktivismus darf meiner Meinung nach radikal sein, denn es gibt natürlich viele verschiedene Möglichkeiten, Aktivismus zu machen – z.B. die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, wir sehen viele Bürgerinitiativen, Verkehrsinitiativen für Radwegeausbau – alles mögliche. Und all diese Initiativen sind wichtig und sollten uns in die Richtung gesellschaftlicher Transformation bringen, die wir brauchen, um die ökologischen- und auch sozialen Probleme, die immer mehr zunehmen, zumindest abzumildern. Allerdings ist die Radikalität wichtig, um den gesamten Diskurs zu verschieben. Das heißt, nur wenn wir Gruppen haben, die auch radikal sind, die z.B. zivilen Ungehorsam nutzen oder wie im Dannenröder Wald Bäume besetzen oder Autobahnen blockieren, dann können wir es schaffen, dass andere Teile der Gesellschaft sich auch weiter in diese Richtung bewegen und sich der Diskurs in diese Richtung verschiebt. Das heißt nicht, dass alle Menschen Bäume besetzen müssen, aber dass es wichtig ist, dass es immer eine radikale Seite einer zivilgesellschaftlichen Bewegung gibt.”

Ob nun radikal oder nicht, für Aktivistin Carola Rackete ist eines unausweichlich: dass wir Handeln. Denn das Nicht-Handeln hätte größere Konsequenzen für uns, werde deutlich teurer, als wenn wir jetzt energisch anpackten.

“Wir müssen mehr darüber nachdenken, was die Konsequenzen davon sind, wenn wir nicht handeln. Häufig sehen wir ja, was uns auch in den Medien präsentiert wird, die angeblichen Kosten von Klimaschutz – weniger wird uns präsentiert, was die Kosten sind, wenn wir gar keinen Klimaschutz machen – das die viel größer und dramatischer sind. Das ist glaube ich ein wichtiger Punkt, dass wir uns bewusst werden, dass auch, wenn wir uns politisch nicht einbringen, dass das Konsequenzen hat und, dass das auch eine Entscheidung ist. Und, dass diese Entscheidung nichts zu Tun oder sich nicht öffentlich zu Äußern, nicht Teil dieser Transformation zu werden, dass das gravierende Konsequenzen hat. Nicht nur für Menschen, die jetzt schon von der Klimakrise betroffen sind, sondern natürlich auch für uns selber. In Deutschland ist die Klimakrise schon spürbar und sie wird immer schlimmer und das wissen wir bereits.”

Aber was bedeutet es überhaupt zu Handeln? Und wie erweist es sich als wirksam? Für die Philosophin Hannah Arendt bedeutete Handeln, als die höchste Form des Tätigseins, immer auch politisches Handeln. In ihrem wohl bekanntesten Werk, „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“, geht sie genauer darauf ein, was sie darunter versteht. Politisches Handeln unterscheidet sich bei ihr von „automatischen Prozessen oder zur Gewohnheit gewordenen Verfahrensweisen“, von einer „Welt, in der sich nichts ereignet“. Das politisch handelnde Subjekt allein, ist in der Lage, solche Prozesse zu unterbrechen, von ihm hängt es ab, ob der Raum der Pluralität als politischer Raum erhalten bleibt. Denn die Dinge sich selber zu überlassen, bedeutet, so Arendt, den Ruin von Zivilisation und Kultur. Dabei versteht die Philosophin politisches Handeln, nicht als die Machtergreifung Einzelner. Seit Plato, so Arendts Kritik, wurden Regierungssysteme als Herrschaftsformen verstanden, bei denen wenige über viele herrschen. Die Bestimmung von Politik als Handeln hebt diese Trennungen auf. Nicht Einzelne herrschen, sondern Menschen treten handelnd miteinander in Beziehung. Nichtsdestotrotz stellt politisches Handeln für Arendt keine moralische Verpflichtung, kein Opfer für die Aufrechterhaltung politischen Raums dar. Es ist vielmehr ein Impuls, der von Spontaneität und einer Lust am Handeln geleitet ist. Verantwortung sieht Arendt nicht nur als existenzielle Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit, sondern auch als eine Öffnung über die privaten Interessen hinaus in einer gemeinsamen Welt. Sie schreibt: “Verantwortung heißt im wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere folgen werden; in dieser Weise ändert man die Welt.“

Doch eine Frage bleibt: Was befähigt uns Menschen, diesen Handlungsspielraum zu entdecken, uns der eigenen Selbstwirksamkeit bewusst zu werden? Und ist es ausreichend, wenn wir alle paar Jahre unseren Wahlzettel in die Urne werfen, oder geht politisches Handeln darüber hinaus?

“Jedes Handeln ist politisch. Aber ich glaube eine viel größere Frage ist, ob wir in der Zivilgesellschaft verstehen, dass wir noch viel mehr und auch absichtlich organisiert uns politisch einbringen müssen. In Deutschland und auch Europa wird die politische Debatte eher über Wahlen geführt – also die Aufgabe der Bürger*innen sei es dann zur Wahl zu gehen oder sich selbst für ein politisches Amt zur Verfügung zu stellen und das sei dann die Art und Weise wie man politisch mitwirken könne. Und das ist natürlich grundlegend falsch. Wir sehen, dass es notwendig ist, sich auch anders politisch zu engagieren. Denn, obwohl es wichtig ist, zur Wahl zu gehen – ich kann ja nur für das abstimmen, was überhaupt im Parteiprogramm drin steht – und die Frage, wie ich das Parteiprogramm verändere, von außen, auch wenn ich nicht Mitglied dieser Partei bin, ist ganz essentiell. Wir sehen das hervorragend am Beispiel der Klimabewegung FFF, die in Deutschland ja die Parteiprogramme aller Parteien verändert haben, obwohl sie sich nicht hauptsächlich dadurch engagieren, dass sie in die Parteien eintreten und sie von innen verändern, sondern, dass das auch ein Prozess ist, der von außen passieren muss. Das Ganze wird vielleicht auch klar, wenn wir uns ansehen, wie Frauen an das Wahlrecht gekommen sind – sicher nicht, indem sie dafür selber abgestimmt haben. Insofern ist es glaube ich wichtig, dass wir politisches Handeln viel weiter definieren. Abgesehen von den naturwissenschaftlichen Fakten, mit denen wir in den Medien häufig konfrontiert werden, ist es wichtig uns dessen bewusst zu machen, wie soziale Veränderungen überhaupt funktionieren. Wie die sozialwissenschaftlichen Fakten, sind zur Transformation von Gesellschaften, wie sowas abläuft – dass es kein Umlegen eines Schalters ist, sondern ein Prozess, in dem Veränderung von einer kleinen Gruppe von Leuten angestoßen werden, der sich dann immer mehr Menschen anschließen. Dass es ein Prozess ist, bei dem wir versuchen müssen, dass alle Menschen Teil davon werden; dass alle Menschen etwas zu dieser Transformation, die wir unbedingt brauchen, um unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten zu erhalten, dass sie davon Teil sein müssen. Aber das wir auch umgekehrt die Machtstrukturen abbauen müssen, die dieses aktuelle System an seinem Platz halten. Ich glaube viele Menschen haben das durchaus verstanden, und es ist eher eine Aufgabe der Menschen, die sich engagieren, andere Leute davon zu überzeugen, dass sie etwas verändern können, aber ihnen auch Hilfe zu geben, sich zu engagieren. Es gibt viele psychologische Barrieren und viele Menschen, die zwar das Problem sehen, sich aber Sorgen machen, dass sie nichts erreichen können oder nicht wissen wie. Ich glaube da müssen die Menschen, die schon aktiv sind, versuchen Hilfe zu leisten und auf ganz verschieden Ebenen ermöglichen Leuten dieses Selbstvertrauen zu geben und zeigen, dass sie etwas erreichen können und wie, damit sie anfangen können sich zu engagieren, denn niemand fängt an sich zu engagieren und erreicht aus dem Nichts heraus was Großes. Es ist ein Prozess, indem sich Leute unterstützen und im Regelfall sind wir Teil einer Gruppe und nicht alleine. Das ist glaube ich eine ganz wichtige Komponente – dieses gemeinschaftliche Handeln, das Lernen von anderen Gruppen, um politisch und sozial aktiv zu werden und das ganz dringend auch außerhalb der politischen Parteien und außerhalb der typischen Wahlzyklen.” 

Wenn politisches Handeln im Umfeld vielfältiger Vorstellungen und Interessen entsteht, bedeutet das auch, dass Übereinstimmung nicht erzwungen werden kann. Was wir allerdings tun können, ist an eine mögliche Gemeinsamkeit zu appellieren. Hannah Arendt, die diesen Ansatz vertritt, beruft sich dabei auf den aristotelischen Gedanken, dass für ein freiheitliches Zusammenleben die Freundschaft unter Bürgerinnen und Bürgern nicht unterschätzt werden darf. Durch den Austausch erst entsteht die Welt als das uns Gemeinsame, so Arendt. Wenn wir uns mit anderen zusammentun, um zu handeln, dann geht dem, angesichts der Vielfalt der Mit-Handelnden, eine Entscheidung für etwas Gemeinsames und Neues voraus. Wie Carola Rackete sagt, die größte Hürde liegt vermutlich in dem Gedanken, nichts bewirken zu können. Und, um diesem Trugschluss entgegenzuwirken, liegt es an jeder und jedem Einzelnen, mit Mitmenschen – ob Schwester, Freund, Oma oder Arbeitskollege – ins Gespräch zu kommen. Nicht moralisierend oder gar dogmatisch, als vielmehr, offen, neugierig und, indem wir unsere eigene Begeisterung auf andere übertragen. In der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Vielen Dank fürs Zuhören. Wie ihr wisst, ist es unser Bestreben, möglichst unabhängig und werbefrei produzieren zu können. Das müssen wir uns allerdings auch leisten können. Daher, wenn ihr Sinneswandel gerne hört, freuen wir uns, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle Infos zur Episode, Quellen und weiterführendes Material findet ihr, wie immer in den Shownotes. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast! 

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