“Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar Aufgabe der Frau?
Shownotes:
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► Anja Schmidt, Verfassungsblog: „Die nackte weibliche Brust als Sittlichkeits- und Rechtsproblem„ 07/21.
► Thomas Becker, MDR: „Halbnackt im Freibad? Was ein Jurist über nackte Brüste sagt„ 05/22.
► Denise Klein, Zeitjung: „Oberkörperfrei-Privilegien: Männer, lasst eure t-Shirts einfach an„ 09/20.
► NRD Hamburg Journal: „SPD in Eimsbüttel will „oben ohne“ in Schwimmbädern erlauben„ 06/22.
►Dlf Kultur: „Oben-ohne nur für Männer? „Nach dem Gesetz sollten alle Brüste gleich sein“ 04/22.
► Jürgen Martschukat, Konrad Adenauer Stiftung: „Über das Politische im Körper„ 12/21.
► Isaiah Berlin: Essays in Honour of E. H. Carr (1974), S. 9.
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Transkript:
Es ist ein Tag Mitte Juni in Hamburg und das Thermometer zählt schätzungsweise 28 Grad. Ich sitze im Freibad auf der Wiese – “oben ohne”. Kein Bikini, der meine Brüste bedeckt. So richtig wohl, fühle ich mich in dabei nicht. Warum und aus welchem Grund ich dennoch so dasaß, davon möchte ich heute erzählen. Dafür muss ich allerdings ein wenig ausholen. Und wir müssen ein paar Tage zurückgehen, vor den besagten Tag im Freibad.
Über meine Brüste mache ich mir ehrlich gesagt selten Gedanken. Eigentlich fallen sie mir oft erst dann auf, wenn sie – meistens von Männern – “beachtet” oder kommentiert werden. Ansonsten sind meine Brüste für mich ein Körperteil, wie jeder andere auch. Sie sind für mich “normal”. Normal, wie das Gesicht, das mir morgens im Spiegel verschlafen entgegenblickt, Zähneputzen oder der Kaffee, der meistens darauf folgt. Dinge, über die ich mir eher selten bewusst Gedanken mache. In letzter Zeit gab es allerdings häufiger Situationen, die mich über Brüste haben nachdenken lassen. Nicht nur darüber, dass ich ganz offensichtlich welche habe, ich meine vielmehr im Allgemeinen – über ihr Vorhandensein, ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft. Und wer jetzt denkt, ich spreche nur von Brüsten weiblich gelesener Personen, der täuscht sich. Denn eigentlich nahm alles seinen Anfang mit der, eines Mannes. Also der männlichen Brust – im Singular. Auch so eine Sache, über die ich mir bislang wenig Gedanken gemacht habe. Aber allein die Terminologie dieser Begriffe, oder vielmehr ihre Verwendung, macht deutlich, dass es hier wohl einen Unterschied geben muss – zumindest in der Wahrnehmung. Aber, beginnen wir ganz von vorne:
Ich sitze mit D. auf dem Balkon und wir trinken Kaffee. D. erzählt mir von einem Festival, auf dem er mit seiner Band gespielt hat. Es sei eine mega Show gewesen – allerdings gab es da so einen Vorfall, erzählt mir D.. Einer seiner Bandkollegen, der Drummer, habe sich auf der Bühne das Shirt ausgezogen. Das mache er öfter, also eigentlich erstmal nichts Besonderes. Aber nach dem Konzert, sei die Sängerin einer anderen Band zu ihnen gekommen und habe ihn darauf angesprochen. Ob er sich denn eigentlich darüber bewusst sei, dass er mit seinem nackten Oberkörper anderen Menschen – insbesondere weiblich gelesenen Personen – vor den Kopf stoßen könnte. Sie, als Frau, könne sich nicht so einfach “oben ohne” auf die Bühne stellen. Ein klassisches Beispiel von offensive masculinity, so die Sängerin. Dabei habe er sich doch gar nichts nichts dabei gedacht, erwidert der Drummer. Was genau daran offensive sei, will er wissen. Ihm das zu erklären, sei sei nicht ihre Aufgabe, lautete die Antwort der Sängerin, erzählt mir D. Autsch! Recht hat sie irgendwie. Und doch zeigt die Unsicherheit des Schlagzeugers, dass hier ganz offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen, vermutlich gar Welten aufeinandertreffen.
Ich habe ganz grundsätzlich nichts gegen Nacktheit einzuwenden – aber die Selbstverständlichkeit mit der sich einige männlich gelesenen Personen im öffentlichen Raum ihren nackten Oberkörper präsentieren, lässt mich doch oft staunen und ich frage mich immer wieder: wieso eigentlich? Ist das einfach “typisch Mann”? Und welche Vorstellungen von Männlichkeit stecken vielleicht dahinter? Ich rufe einen Freund von mir, Anıl Altıntaş an, von dem ich glaube, dass er mir vielleicht eine Antwort darauf geben kann:
Anıl: “Die Frage, ob das “typisch Mann” ist, würde ich anders beantworten. Ich würde sagen, es ist leider “typisch Mann”, weil sich Mann daran gewöhnt hat, in gesellschaftlichen Strukturen zu leben, die vollkommen an seine Bedürfnisse angepasst sind. Und das “Normale” daran, dass man sich zeigen kann, ist eigentlich kein Zustand, der normal sein sollte, weil er letztendlich konstruiert ist und natürlich auch mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun hat. Nämlich, dass Männer nicht in der gleichen Weise, und vor allem ihre Körper, sexualisiert, kontrolliert, limitiert und auch Objekt von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind. Und ich glaube, was daran normal ist, ist die Tatsache, dass wir uns als Gesellschaft daran gewöhnt haben, unsere Bedürfnisse vor allem an Bedürfnissen von Männern auszurichten. Und das ist es, was daran “typisch Mann” ist, dass man sich an diesen Zustand gewöhnt hat und wenig davon abhält, überhaupt darin eine Problematik zu sehen.”
Also alles eine Frage der Gewöhnung bzw. Sozialisierung? Und was sagt eigentlich das Gesetz dazu? Wie viel Nacktheit ist eigentlich erlaubt? Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen es einfach unangebracht ist, sich oberkörperfrei zu präsentieren, weil andere sich dadurch belästigt fühlen könnten. Wie zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln – was mir schon häufiger begegnet ist. Dass ein Mann mir “oben ohne” direkt gegenübersitzt und mir wenig Raum bleibt, mich diesem Anblick zu entziehen. Auch das kann Ausdruck von Macht sein – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst. Aber, wie Anıl sagt, wir haben uns als Gesellschaft scheinbar so sehr damit abgefunden, dass oberkörperfreie Männer in der Öffentlichkeit oft einfach toleriert werden. Was nicht heißt, dass sich alle damit wohlfühlen. Zwar ist Nacktheit grundsätzlich in Deutschland nicht verboten – es gibt kein Gesetz, dass es untersagt, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen – allerdings nur, wenn es ohne „sexuellen Bezug“ geschieht. Und nicht an Orten, an denen sich andere Menschen von der ungefilterten Körperlichkeit gestört fühlen können. Dann gilt Nachktheit gemäß § 118 als Ordnungswidrigkeit. Hierfür können schon mal Geldbußen zwischen fünf und 1000 Euro fällig werden. Allerdings frage ich mich: Ab wann fühlen sich Menschen gestört? Und wer beurteilt das? Das ist alles andere als eindeutig, weswegen § 118 auch als „Gummiparagraph“ gilt – eben eine sehr allgemein gehaltene Regelung, die sich ziemlich weit dehnen lässt. Aber nun genug der Paragraphen-Faselei! Worauf ich eigentlich hinaus möchte, ist die Tatsache, dass des Einen gelebte Freiheit, die eines Anderen einschränken kann. Und selbst, wenn nicht jede nackte Männerbrust, die mir im Sommer auf den Straßen begegnet, für mich zwangsläufig eine Belästigung darstellt, so macht sie mir doch eines deutlich: Ich könnte das nicht – zumindest nicht mit dieser Selbstverständlichkeit. Und damit sind wir bei “Brüste-Situation” Nr. 2:
Es ist Dienstag Abend, die Sonne scheint und ich drehe eine kleine Laufrunde entlang der Elbe. Ein anderer Jogger kommt mir entgegen – “oben ohne”. “Es ist aber auch echt heiß”, denke ich. Verständlich, wer da das Bedürfnis verspürt, sich freizumachen. Aber könnte ich mir das für mich selbst vorstellen? Als Frau, oberkörperfrei joggen? Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Blicke anderer Passanten wären mir wohl garantiert – ich würde mich unwohl und fehl am Platz fühlen. Den männlichen Jogger eben, scheint es nicht im geringsten zu gehen wie mir. Ob der sich wohl darum bewusst ist? In diesem Moment erinnere ich mich an Schilder, die ich letzten oder vorletzten Sommer entlang der Alster gesehen habe. “T-Shirt bleibt an – alle haben fun!”, prangte groß auf denen. Darunter eine kurze Erklärung oder vielmehr Aufforderung an männlich gelesene Personen, ihr “Oberkörperfrei-Privileg” doch bitte nicht auszunutzen. Als Zeichen des Respekts und der Solidarität mit allen Hamburger*innen. Im Prinzip das, was auch die Sängerin, die D.’s Bandkollegen ansprach, gefordert hat: Solidarität – oder im ersten Schritt zumindest Bewusstsein darüber, warum man etwas tut und was man damit vielleicht für Signale aussendet. Aber bedeutet das dann in der Konsequenz, dass sich männlich gelesene Personen grundsätzlich nicht mehr “oben ohne” zeigen sollten? Was sagt Anıl dazu?
Anıl: “Ich finde, die Schilder in Hamburg sind erstmal ein wichtiger Punkt, nämlich um auf die Problematik hinzuweisen und zum Nachdenken anzuregen. Ich würde nicht sagen, dass es eine solidarische Aktion von Männern sein sollte, sondern es ist eine Sache, die einerseits damit zu tun hat, dass sie sich im ersten Schritt reflektieren, also quasi eine Grundlage zur Reflektion. Und sie müssen natürlich auch mal drüber nachdenken, was es überhaupt heißt, in einem öffentlichen Raum seinen Körper so in einer Form darstellen zu können. Und gleichzeitig auch zu fragen, mit wieviel Einschränkungen eigentlich Personen, die als weiblich gelesen werden, umgehen müssen. Und ich glaube, es ist richtig, von einem Privileg zu sprechen. Ich sehe aber auf jeden Fall die Notwendigkeit, dass dieser Diskurs, dass nämlich Männer nicht immer, wenn sie oberkörperfrei sind, darauf hingewiesen werden, dass es ein Privileg ist und, dass sie gerade ihre Macht ausnutzen. Und ich finde, deshalb ist es eigentlich im ersten Schritt ein wichtiger Impuls.”
Und, wenn wir mal ehrlich sind, ist dieser Diskurs ja keineswegs neu: “Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar meine Aufgabe, als Frau?
Diese Frage bringt mich zu “Brüste-Situation” Nummer 3: Es ist noch immer Juni, ich scrolle durch den Nachrichtenfeed auf meinem Smartphone und bleibe an einer Meldung hängen: “Hamburger SPD-Politikerin fordert oben ohne für alle im Schwimmbad”. Im Artikel erfahre ich, es geht hier um Paulina Reineke-Rügge. Sie ist Bezirksabgeordnete der SPD Hamburg-Eimsbüttel und hat gerade einen Antrag eingereicht, mit dem die Oberkörperfreikultur für alle Hamburger*innen möglich werden soll. Spannend! Da hake ich doch direkt mal nach, was sich die SPD von dem Antrag verspricht. ich schwinge mich aufs Rad Ich treffe Paulina Reineke-Rügge in ihrem Abgeordnetenbüro:
Paulina Reineke-Rügge: “Also einmal nur vorweg: Wenn der Antrag durchkommt, dann ist es trotzdem keine bindende Regelung für die Schwimmbäder, sondern eine Empfehlung, die der Bezirk ausspricht. Aber dadurch, dass jetzt der Diskurs da ist, bewegt sich viel in die Richtung. Und mir ist es wichtig aus dem Grund, dass ich glaube, dass eine differenzierte Kleiderordnung zwischen Männern und Frauen oder Personen generell, veraltet ist und, dass es auch veraltet ist die weibliche Brust so zu sexualisieren und diese Differenzen zu machen zwischen den Körpern. Und man muss dazu sagen, angestoßen wurde es ja in Göttingen, wo eine nicht-binäre Person Baden war, die sich dann, obwohl sie sich ja nicht mal als Frau definiert, an eine Kleiderordnung halten musste, die vorgibt, dass Frauen das nicht machen dürfen. Und das hat einfach gezeigt, dass da Aufholbedarf ist und, dass da eine Ungerechtigkeit stattfindet und keine Gleichberechtigung, wie wir sie heutzutage haben sollten oder uns wünschen.”
Von dem Fall in Göttingen hatte ich mitbekommen – der ging ziemlich viral. Jetzt erfahre ich, dass sich daraufhin eine Bewegung gegründet hat, “Gleiche Brust für alle”. Und die hat tatsächlich erreicht, dass seit dem 1. Mai diesen Jahres jede und jeder in den Schwimmbädern Göttingens “oben ohne” baden kann – allerdings nur samstags und sonntags. Also Gleichberechtigung, aber nur am Wochenende? Klingt irgendwie absurd. Ich frage Paulina, was sie davon hält:
Paulina Reineke-Rügge: “Also ich bin froh, dass da überhaupt in irgendeine Richtung gegangen worden ist. Aber ich finde die Regelung tatsächlich super merkwürdig, weil die Brust und die weibliche Brust sieht nicht unter der Woche anders aus am Wochenende. Wenn man jetzt als Grund heranziehen würde, dass die Leute sich gestört fühlen oder belästigt oder ähnliches, wäre es am Wochenende ja noch wahrscheinlicher, weil da die Bäder noch voller sind. Deswegen kann ich die Regelung tatsächlich gar nicht nachvollziehen und ich finde es dann auch wieder schwierig, weil es quasi nochmal ein Zusatz ist und noch bürokratischer. Man muss sich noch mehr merken, wann darf ich was, wie darf ich das machen? Und es sollte einfach viel, viel einfacher werden und viel, viel normaler sein, dass weibliche und männliche Brüste beide, wenn sie mögen, frei sind.”
Apropos sich merken und informieren: der Sprecher der Hamburger Bäderlänger, Michael Dietel, der hält nicht ganz so viel von dem Antrag der SPD. Wieso, will ich von ihm wissen:
Michael Dietel: “Wir sind von dem Antrag und dessen Inhalt schon ein bisschen überrascht, denn es ist aktuell überhaupt kein Thema zwischen unseren Badegästen. Wir werden nicht darauf angesprochen. Es gibt da keine schriftlichen Rückmeldungen und auch keine Nachfragen dazu, wie es denn geregelt ist. Es scheint also so zu sein, dass für die Gesellschaft klar ist, wie man sich gemeinsam in einem Schwimmbad verhalten will und was man jeweils anziehen kann oder vielleicht auch nicht anzieht. Von daher ja, auch unsere Hausordnung gibt es her, dass Frauen oben ohne im Schwimmbad unterwegs sein können.”
Okay, es ist also offiziell nicht verboten. Aber ist es damit bereits erlaubt? Paulina findet, nicht ganz:
Paulina Reineke-Rügge: “Also ganz so stimmt es ja nicht, dass es erlaubt ist, sondern die Regelungen sind relativ schwammig. Es wird davon gesprochen, dass Menschen sich angemessen kleiden müssen. Es ist aber nicht definiert, wer entscheidet, was ist angemessen. […] Und ich glaube, dass gerade jetzt durch diesen breiten Diskurs und dadurch, dass viele darüber sprechen, Menschen doch eher darüber nachdenken, ob sie es dürfen oder eben nicht dürfen, weil es vorher eben nicht geregelt war. Wenn jetzt niemand im Schwimmbad sich “oben ohne” zeigt, würde ich es wahrscheinlich auch nicht tun. Wenn aber viele Menschen es machen, weil sie jetzt davon hören oder überhaupt darüber nachdenken, ist es was anderes. Und gerade das Beispiel Göttingen hat ja gezeigt, dass es Menschen gibt, die es wollen, die es aber noch nicht dürfen. Und deswegen glaube ich schon, dass da eventuell der Wunsch besteht und es wird ja niemand dazu gezwungen. Das heißt, wenn wir uns dafür einsetzen und die Menschen sagen “möchte ich nicht machen”, muss es keiner tun. Wobei ich sagen muss, dass ich im Freundeskreis jetzt von den Resonanzen schon gehört habe. Die Leute sagen auch In einigen Situationen mache ich es doch eigentlich ganz gern und habe es aber bisher nicht gemacht, weil man sich dann doch nicht traut.”
Würde ich mich das trauen? Klar, ist mein erster Gedanke. Für mich sind meine Brüste schließlich ganz “normal”. Warum sollte ich nicht “oben ohne” ins Schwimmbad. Aber, warum tue ich es dann doch so selten? Zeit für ein kleines Selbstexperiment, denke ich mir und damit sind wir auch angekommen bei dem besagten Tag im Freibad: Ihr erinnert euch, es ist Juni, 28 Grad?! Nachdem ich einen freien Platz für mein Handtuch ergattert habe, lasse ich meinen Blick über die Wiese streifen – auf der Suche nach Verbündeten. Aber, alles was ich sehe, sind Männerbrüste. Die einzigen Frauen, die kein Oberteil tragen, liegen auf dem Bauch. Und ich nehme an, sie tun das bewusst. Verzweifelt werfe ich noch einen Blick in die Runde, aber auch der ergibt keinen Treffer. Verdammt! Ich überlege mein Experiment abzubrechen. Als einzige Frau “oben ohne”? Dazu legt sich auch noch eine Gruppe junger Männer neben mich. Das macht es nicht gerade einfacher. Aber, wo liegt eigentlich das Problem? Ich habe doch eigentlich keins – sondern ihr, denke ich mir. Ihr, die mich zu etwas macht, das ich nicht sein will – ein Objekt. Ihr, die meinen Körper parzelliert, in Fragmente zerteilt, in Brüste, losgelöst von mir als ganzem Menschen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, jegliche Kontrolle über mich selbst zu verlieren, fühle mich ausgesetzt, den Blicken, die meinen Körper scheinbar als Einladung begreifen. Aber, wie lässt sich das Problem lösen? Muss ich mich einfach nur überwinden? Zögerlich ziehe ich mein Bikinioberteil aus. Ein wenig rebellisch komme ich mir dabei vor. Allerdings währt dieses Gefühl nicht lange. Ich spüre neugierige Blicke auf mir, möchte am liebsten die Augen schließen, um sie wenigsten nicht sehen zu müssen. So soll sich Freiheit anfühlen? Nein, danke!
Wir leben in einer hypersexualisierten Gesellschaft, die eine Doppelmoral predigt, die absurder kaum sein könnte. In der ein Potenzfeminismus suggeriert: “Fühl dich frei, niemand hindert dich daran! Schließlich leben wir im ach so liberalen “wilden Westen”. Ein BH zwängt dich ein? Lass ihn halt weg! Ach, du störst dich an den Blicken, die dich beinahe ausziehen, wenn man doch tatsächlich deine Nippel erahnen kann? Tja, damit musst du eben leben. So sind sie halt, die “Männer”! Nicht zu bändigen, diese Testosteronschleudern.” So ein Unsinn, denke ich mir. Die Lösung des Problems kann doch nicht liegen, dass Frauen ihre Körper zum Schutz verhüllen oder andersherum, einfach selbstbewusster werden müssen, um “frei” zu sein. Müsste es nicht eigentlich genau andersherum sein? Anıl hält diese Sichtweise auch für ziemlich verquer, wie er mir erklärt:
Anıl: “Dieses Argument, dass Männer sich nicht im Griff haben, ist natürlich sehr problematisch. Weil es im Prinzip die Schuld bei Frauen sieht, während Männer komplett von der Verantwortung befreit werden. Es gibt ja dieses Meme, das sagt nicht “protect women”, sondern “educate your boys”. Und ich finde, das ist erst mal eine richtige und wichtige Umkehr. […] Ich glaube, dass eigentlich Problem ist, Frauenkörper immer nur zu Objektifizieren und sie nur in einem Kontext zu sehen, ohne auch zu denken, dass der Körper ihnen nicht gehört. Und dieser Besitzanspruch ist, glaube ich, ist ein großes Problem, wovon natürlich auch Männer Teil sind, auch durch die Strukturen, in denen wir aufwachsen: Erwachsenenleben, Sozialisation, durch die Art und Weise, wie unsere Medienwelt funktioniert, reproduziert, manifestiert wird. Und ich glaube, das Problem ist, dass wir Männern nicht so wenig zutrauen. Aber es gibt zu wenig Leute an gesellschaftlichen Schaltstellen, die darin ein Problem sehen, weil das aus deren Perspektive, aus einer sehr männlichen, privilegierten Perspektive, das gesellschaftliche Gefüge auseinander bringen würde. […] Das heißt, ich bin immer dabei, Männer müssen in die Verantwortung gezogen werden, weil wenn Männer diese Blicke und diese Art und Weise, wie sie mit Frauen und deren Körpern umgehen nicht in Griff kriegen, dann werden wir auch nicht in einer gerechten Welt leben. Denn man muss sich vorstellen oder Männer müssen sich eigentlich vorstellen, was das eigentlich bedeutet, keine wirkliche Kontrolle über seinen eigenen Körper und sein eigenes Wohlbefinden und seine eigene Sicherheit zu haben. Von daher, es ist unbedingt wichtig, die Sensibilität zu schaffen. Und ich glaube, idealerweise würden wir alle gemeinsam kein Problem damit haben, am See oberkörperfrei zu sein. Aber ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Aber wir müssen diese Frage stellen, damit wir irgendwann so weit sind.”
Aber, wann sind wir so weit? Und wie kommen wir dahin? Nicht nur zum “Oben ohne” für alle. Denn am Ende geht es ja um weitaus mehr. Es geht um nichts Geringeres, als Selbstbestimmung – das Gefühl und die tatsächliche Macht, über den eigenen Körper bestimmen zu können. Es geht um Handlungsfreiheit, und zwar in zweierlei Hinsicht: positiv als die Freiheit, sich nach eigenem Gusto in der Öffentlichkeit bewegen zu können, und negativ als die Freiheit, nicht mit Zumutungen, wie Sexualisierungen, konfrontiert zu werden. Ich möchte mich ohne Angst und Scham frei bewegen können – natürlich unter Achtung der Grenzen anderer. Und genau die stehen zur Debatte. Wo fangen sie an und wo hören sie auf?
Mein kleines Selbstexperiment hat mir eines in jedem Fall vor Augen geführt: der Körper ist ein Politikum – seit jeher. Wobei „politisch“ nicht nur das meint, was in Parlamenten beschlossen wird. Politisch ist auch all jenes das die Teilhabe von Menschen betrifft und unsere Möglichkeiten, an der Gemeinschaft als deren vollwertige Mitglieder partizipieren zu können. Politisch ist aber auch die Gestaltung von Gesellschaft auf allen Ebenen und in all ihren Dimensionen, mit dem dazugehörigen Ringen um Macht und Teilhabe. Zeiten ändern sich, Werte, Normen – all das gilt es zu verhandeln, immer wieder zu hinterfragen. Oder mit den Worten von Isaiah Berlin: „To confuse our own constructions and inventions with eternal laws or divine decrees is one of the most fatal delusions of men.“ Mir ist jedenfalls klar geworden, dass die Forderung nach Teilhabe und das Aufbrechen statisch gedachter Körperlichkeit Hand in Hand gehen. Und das bedeutet immer auch ein Aufbrechen politischer Ordnungen, sozialer Strukturen und vor allem Machtverlust derjenigen, die bislang privilegiert waren. Wie sehr der Körper zentraler Fluchtpunkt dieses Ringens ist, zeigt sich nicht zuletzt in den vielen Kämpfen, die geführt werden, von Menschen, die als Gleichberechtigte anerkannt werden wollen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet anzuerkennen, dass vieles möglich und ein Denken in starren Kategorien nicht mehr zeitgemäß ist, um den gesellschaftlichen Realitäten unserer Gegenwart zu begegnen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet, anzuerkennen, dass die Art und Weise, wie wir Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit wahrnehmen, ansprechen und behandeln, ihre Position in der Gesellschaft beeinflusst. Und diese Position ist immer auch politisch.
Während ich im Freibad sitze und mein Bikinioberteil wieder anziehe, denke ich: “oben ohne” für alle, das ist keine Frage, die alleine im Schwimmbad gestellt oder gar gelöst werden könnte. Es ist auch keine Frage, die sich von mir abschließend beantworten ließe. Ich hatte zwar gehofft, zumindest ein Resumé ziehen zu können, aber auch nach vielen Gesprächen mit Freunden und Fremden, sehe ich keine Eindeutigkeit. Wohl aber die Notwendigkeit, immer wieder vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Wie auch Forderungen zu formulieren, um deutlich zu machen, worum es letztlich bei all dem Ringen im Innen und Außen geht: um Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Und die ist eigentlich nicht verhandelbar.