Ist Smalltalk unterschätzt?

von Marilena

Ein kurzer Blick, ein flüchtiges Lächeln – und trotzdem bleibt etwas hängen. In dieser Folge geht es um all die Mikrobegegnungen im Alltag: der Plausch mit der alten Dame im Zug, der Kioskverkäufer der einem nett zulächelt oder der Nachbar mit Hund im Park, der einen immer grüßt. Warum berühren uns ausgerechnet solche Momente manchmal mehr als lange Gespräche mit Freund*innen? Und was passiert, wenn solche losen Bekanntschaften seltener werden?

Shownotes:

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► Mark Granovetter (1973): The Strength of Weak Ties
► Gillian Sandstrom (2014): Social Interactions and Well-Being: The Surprising Power of Weak Ties
► Business Insider (2024): Eine Generation besonders betroffen: Immer mehr Menschen finden es schwer, lockere Freundschaften zu führen
► BMFSFJ: Einsamkeitsbarometer 2024

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Transkript:

Hallo im Sinneswandel-Podcast, ich bin Marilena und ich freue mich sehr, dass ihr heute wieder dabei seid. 

Zuallererst möchte ich mich ganz herzlich bedanken – für die vielen schönen Rückmeldungen zu den letzten Folgen, die ich allein aufgenommen habe. Und dann auch noch beim letzten Mal ohne Skript. Weil das so gut angekommen ist, auch wenn es sich für mich noch richtig seltsam anfühlt, mache ich damit weiter. Auch diese Folge ist wieder ohne Skript – ein weiteres kleines Experiment, vielleicht werde ich besser im Chaotisch Sein.

Wie bin ich zu dem Thema der heutigen Folge gekommen? Es ist schon ein paar Wochen her – ich wollte nach Kiel fahren, beruflich, weil ich dort in den letzten Wochen gearbeitet habe. Und – wie so häufig – ist die Deutsche Bahn mal wieder nicht gefahren. Kein Zug in Sicht, also musste ich spontan eine Mitfahrgelegenheit nehmen. Ich war – wie vermutlich viele – erst mal total genervt. Gestresst bin ich ins Auto gestiegen. Und am Ende war es richtig schön. Eine lustige Fahrt mit drei anderen Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten. Wir alle waren ein bisschen abgefuckt, weil die Bahn nicht gefahren ist – das hat uns vermutlich verbunden.

Es war vor allem eine Begegnung, die besonders war. Wir kannten uns vorher nicht, und heute haben wir auch keinen Kontakt mehr. Trotzdem war diese Fahrt irgendwie wertvoll – ich habe Einblicke in Lebensweisen bekommen, die ganz anders sind als meine.

Ich habe mich danach gefragt: Welche Rolle spielen eigentlich solche kleinen, flüchtigen Begegnungen im Alltag? Unterschätzen wir die vielleicht? Ich musste sofort an mein Stammcafé denken. Ich gehe da schon seit über sieben Jahren hin – sie wissen genau, was ich bestelle. Okay, ich bestelle auch meistens das Gleiche. Aber trotzdem berührt es mich. Sie freuen sich, wenn ich komme. Lächeln. Sagen: „Ziegenkäsesalat?“ – ich nicke. Diese Menschen gehören nicht zu meinem engen Freundeskreis, aber sie sind wichtig für mich.

Oder der Kiosk um die Ecke auf St. Pauli. Auch dort gehe ich regelmäßig hin. Jedes Mal, wenn ich ein Paket abhole oder etwas kaufe, lerne ich den Kioskbesitzer ein bisschen besser kennen. Neulich fragte er, was ich beruflich mache – ob ich studiere. Ich habe ihm erzählt, dass ich beim NDR arbeite, als Journalistin. Es war ein schönes Gefühl – sich besser kennenzulernen, obwohl das ja eigentlich eine flüchtige Bekanntschaft ist, die auf einem Austausch von Geld beruht. Und doch ist es mehr als das.

Wir sprechen oft über enge Freundschaften. Aber was ist mit solchen lockeren, flüchtigen Bekanntschaften? Vielleicht erfüllen die etwas, was unsere engen Beziehungen nicht können.

Im Studium in Lüneburg hatte ich mal ein Seminar über „The Strength of Weak Ties“ von Mark Granovetter. Granovetter hat untersucht, wie Menschen zu ihren Jobs kommen – und herausgefunden, dass schwache Verbindungen eine wichtige Rolle spielen. Sie dienen als Brücken zu anderen Informationen, Perspektiven und Gelegenheiten – weil der enge Freundeskreis oft zu homogen ist. Ich musste da direkt an meinen Volleyballverein denken – ein Ort mit ganz unterschiedlichen Menschen.

Aber es geht nicht nur um den praktischen Nutzen. Sondern auch um das Gefühl, das solche Bekanntschaften auslösen. Die Psychologin Gillian Sandstrom von der Universität Sussex hat sich genau damit beschäftigt. Auslöser war ihre eigene Erfahrung mit einer Würstchenbude, an der sie oft war. Sie entwickelte eine Beziehung zum Verkäufer – und fragte sich, wie sehr solche losen Begegnungen unser Wohlbefinden beeinflussen. Ihre Forschung zeigt: Diese scheinbar belanglosen Mikrobegegnungen – ein kurzer Plausch, ein freundliches Grüßen, Smalltalk im Büro – geben uns ein Gefühl von Zugehörigkeit. Sie helfen gegen Einsamkeit. Gerade auch bei älteren Menschen.

Und: Sie haben weniger Konfliktpotenzial. Weniger emotionale Erwartungen. Man kann sich ausprobieren, spontan sein, neue Seiten zeigen.

Ich selbst mag Smalltalk eigentlich gar nicht. Ich finde ihn oft anstrengend. Vielleicht, weil ich dazu neige, schnell über tiefere Dinge zu sprechen. Aber solche Begegnungen lohnen sich – sie sind wie ein sozialer Klebstoff. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie weniger werden.

Und das ist nicht nur ein Gefühl. Studien zeigen, dass flüchtige Begegnungen und lockere Freundschaften tatsächlich abnehmen. Gründe gibt es viele: Digitalisierung – wir kaufen online ein, daten digital, verbringen mehr Zeit allein vor dem Bildschirm. Individualisierung – mehr Wert auf persönliche Freiheit, Unabhängigkeit. Menschen ziehen häufiger um – viele kennen ihre Nachbar*innen kaum. Und: mehr Homeoffice.

Gerade während der Corona-Zeit habe ich das gemerkt. Ich habe damals in einer eher dunklen Wohnung allein gewohnt. Und plötzlich fehlte mir dieser beiläufige Kontakt zu Fremden. Spazieren gehen, jemandem zulächeln. Ich hatte Glück – ich habe damals meinen Nachbarn kennengelernt. Heute nehme ich bei ihm den Podcast auf. Aus einer flüchtigen Bekanntschaft wurde eine Freundschaft.

Wenn solche Begegnungen weniger werden, dann hat das Folgen: Einsamkeit nimmt zu. Jeder dritte Mensch zwischen 18 und 53 fühlt sich zumindest manchmal einsam – besonders viele Jugendliche. Vorurteile nehmen zu. Studien zeigen: Menschen, die sich einsam fühlen, engagieren sich seltener politisch oder ehrenamtlich – und verlieren schneller das Vertrauen in demokratische Institutionen.

Wie also schaffen wir wieder mehr Raum für Begegnungen?

Ich musste an einen TikTok-Trend denken: „Blessing Strangers“. Über 300 Millionen Videos gibt es dazu auf TikTok. Menschen sprechen Fremde an und überraschen sie mit einer kleinen Geste. Viele dieser Videos sind gestaged, performativ, manchmal problematisch – vor allem, wenn es um Geld oder Obdachlose geht. Aber der Grundgedanke ist schön: Kleine Gesten können große Freude auslösen.

Mein Freund, der vor kurzem in den USA war, hat mir letztens erzählt, dass sich die Leute dort häufiger einfach so Komplimente machen. Ganz locker: „Cooles Shirt“ – und dann gehen sie weiter. In Deutschland passiert das irgendwie seltener.

Aber wie schaffen wir mehr Begegnungen? Nicht nur durch unsere Haltung – also achtsamer durch den Alltag gehen, nicht immer aufs Handy schauen – sondern auch durch Stadtplanung.

Immer mehr Orte werden kommerzialisiert. Es braucht Räume jenseits von Konsum. Plätze, Parks, Fußgängerzonen. Ich musste an Italien denken – an diese Piazzas, wo sich Menschen begegnen. Vielleicht romantisiere ich das auch. Aber ich wünsche mir mehr davon. Und: Barrierefreiheit. Begegnungsorte für alle – unabhängig von Herkunft, Alter oder Einkommen.

Auch mehr Sitzgelegenheiten – wie die sogenannten “Zuhörbänke” – als erweitertes Wohnzimmer gedacht. Oder Straßenfeste, Märkte, Nachbarschaftstreffen.

In Hamburg gibt es den Verein HALLO. Sie fördern offene Räume für nachbarschaftliche, kulturelle Aktivitäten. Es gibt dort z. B. einen Kiosk, wo gemeinsam gekocht, gespielt, geredet wird. Ich habe mir seit Ewigkeiten vorgenommen, mal hinzugehen. Vielleicht mache ich das jetzt wirklich, wo ich es ausgesprochen habe. Vielleicht nimmt mich ja jemand mit?

Ich glaube jedenfalls: Solche flüchtigen Begegnungen sind wertvoll. Natürlich sind enge Beziehungen wichtig. Aber es ist auch gut, offen zu bleiben – für all das, was beiläufig passiert. Vielleicht steckt darin mehr, als wir denken.

Outro

Was war eure letzte flüchtige Begegnung, die euch berührt hat? Gibt es bei euch Alltagsbekanntschaften – Kioskbesitzerinnen, Nachbarinnen – die euch näher sind, als ihr dachtet? 

Schreibt mir gerne an redaktion@sinneswandel.art oder über Social Media. In den Shownotes findet ihr wie immer weiterführende Links und Infos. Und wenn ihr meine Arbeit unterstützen wollt, dann könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Danke fürs Zuhören. Bis bald im Sinneswandel Podcast.

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