Peinlich war lange das Schlimmste, was man sein konnte. Coolness bedeutet Kontrolle, Distanz, bloß keine Gefühle zeigen. Jetzt scheint sich das zu drehen: auf Tiktok und in der Popkultur wird das „Cringe-sein“ gefeiert – als neue Form von Ehrlichkeit. Aber steckt darin wirklich Freiheit? Oder ist selbst das “Unperfekte” längst wieder Performance?
Shownotes
Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.
► Verena Bogner (2026): I am cringe, but I am free, Ullstein
► Andreas Reckwitz (2019): Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp
► “im fucking cringe but im… free” Post von Tumblr-User mrkanman
► Tumblr-User sandmandaddy69
► CBC (2022): Phoebe Bridgers on sad music — and why her next challenge is to write happy songs that don’t make her cringe
► TikTok: @yourrichbff
► Instagram: @gesinadem
► David Guetta ft. Akon (2009): Sexy Bitch, Sony Music
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art
Hi und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Ich bin Marilena und ich freue mich, dass ihr heute dabei seid.
Ich sag’s, wie’s ist, mit David Guetta joggt es sich halt einfach besser. Und ja, das ist auch einer meiner Most Played Artists, jedes Jahr wieder in meinem Spotify Wraped. Und nein, ich teile das meistens nicht auf Social Media. Ich glaube, höchstens meine engsten Freunde wissen, was ich so beim Joggen alles höre. Und ich teile das auch meistens nicht, weil ja, mir ist das ein klitzekleines bisschen unangenehm. Halt irgendwie so ein klassisches Guilty Pleasure.
Und irgendwie habe ich mich gefragt, warum ist mir das eigentlich peinlich? Und dann habe ich mal nachgeschaut, was bedeutet Guilty Pleasure eigentlich genau? Und laut Urban Dictionary sind Guilty Pleasures „Something that you shouldn’t like, but like anyway“. Okay, macht Sinn. Und dann habe ich überlegt, okay, was ist noch ein anderes Beispiel davon? Für mich ist das auf jeden Fall sowas wie die Serie „The Summer I Turned Pretty“, die ungefähr gerade alle geschaut haben. Vielleicht ihr auch, maybe? Aber die ist halt super, super, super cringe, aber irgendwie auch ein bisschen geil. Also ich habe sie zu Ende geguckt. Und ich habe das Gefühl, dass solche vermeintlichen Guilty Pleasures eher immer mehr gefeiert werden. Also auf Social Media, aber auch irgendwie, wenn man drüber spricht, anstatt dass sie geshamed werden.
Und vielleicht erinnert ihr euch, dass cringe, also das Wort „cringe“ 2021 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde?! Und ich hatte das Gefühl, danach war ungefähr alles irgendwie cringe. Also ich glaube, die Generation, die das Wort zum Jugendwort gewählt hat, die hat es dann ja schon lange nicht mehr verwendet. Aber. viele andere ältere Menschen danach noch sehr, sehr lange. Und vielleicht ist das auch mit so ein bisschen der Grund, warum es jetzt eine Art Gegenbewegung gibt. Ich meine, wie anstrengend ist es bitte, ständig alles zu bewerten und bewertet zu werden? Und ist es nicht eh viel cooler, einfach zu seiner eigenen Cringiness zu stehen?
Bestimmt habt ihr schon mal Memes in eurem Feed auf Insta oder TikTok gesehen mit dem Spruch „I’m cringe but I’m free“ und die sind auf jeden Fall auch in meinem gesamten Feed omnipräsent, seit so, ich weiß nicht, einigen Monaten auf jeden Fall schon. Und ich hab mich gefragt, woher kommen die eigentlich plötzlich? Und ich habe mal nachgeschaut, weil ich wusste das ehrlich gesagt vorher nicht. Und ihren Ursprung haben diese Memes „I’m cringe but I’m free“ in dem Jahr 2020 und zwar hat da ein User namens, ich weiß nicht wie man den ausspricht, keine Ahnung, mrkanman diesen Satz auf Tumblr gepostet und zwar „I’m fucking cringe but I’m free“ und dieser User ist damit komplett viral gegangen. Also er bekam irgendwie in kürzester Zeit über 30.000 Likes und plötzlich haben immer mehr Menschen Memes mit dem Satz geteilt. Also erst auf Tumblr, da war es zum Beispiel dann der User sandmandaddy69, irgendwie ein bisschen suss der Name, aber naja. Und der hat ein Bild dazu gepostet und zwar ein Ziegenfoto mit dem Text „I’m cringe but I’m free“ und das findet man jetzt halt auch überall auf Insta und TikTok und es gibt auch immer mehr Reels dazu, in denen Menschen, Influencer teilen, was sie eigentlich genau damit meinen.
TikTok @yourrichbff: „Ich habe auf TikTok ein Video gesehen, das meine Perspektive verändert hat. Du fandest es schrecklich, ich fand es lustig. Deshalb bin ich glücklicher als du.“
Instagram @gesinadem: „Mein ganzes Leben lang war mir eigentlich nichts wichtiger, als von Menschen gemocht zu werden. Können wir Cringe nicht eh einfach aus dem Wörterbuch streichen? Naja, hier bin ich. Cringe but free.“
Aber nicht nur Influencer, sondern eben auch einige Promis bekennen sich mittlerweile öffentlich zur Cringiness und ein Beispiel ist Phoebe Bridgers. Und die Musikerin hat mal in einem Interview gesagt, übersetzt natürlich: „Die Leute denken einfach, du bist schlauer, wenn du traurig bist. Fröhliche Liebeslieder haben irgendwie den Ruf, dumm zu sein. Meine nächste Herausforderung im Leben ist es, über Glück zu schreiben, ohne dass es mich cringe fühlen lässt.“ Ich finde das ehrlich gesagt super spannend, weil sie damit genau diesen Konflikt anspricht. Wir feiern Schmerz, Melancholie, Komplexität, Kritik zum Teil auch, aber so richtig ehrliche Freude, Begeisterung oder Naivität, die gelten dann irgendwie halt total schnell als uncool oder peinlich. Deswegen vielleicht ist der Kern von dem „Cringe but free“, dass wir quasi lernen, uns für unsere Freude, für unsere Begeisterung, für unser vielleicht auch Kitschgefühl nicht mehr zu schämen. Und eine Art Gegenbewegung zur quasi ironischen Distanz der 2000er zu schaffen. Und genau das glaubt auch Verena Bogner. Verena ist Journalistin und schreibt gerade ein Buch zu genau diesem Thema.
Verena Bogner: „Cringe ist für mich auch die Angst davor, von anderen beschämt zu werden, für alle möglichen Aspekte der eigenen Persönlichkeit. Also bin ich zu quirky, bin ich zu laut, bin ich zu girly, bin ich irgendwie zu unkultiviert unter Anführungszeichen. Das sind lauter so Dinge, für die einen die Gesellschaft gerne abcringt und das finde ich obviously falsch. Wir sollten den Cringe auf jeden Fall viel mehr embracen, finde ich.“
Ich würde sagen, je älter ich werde, desto besser gelingt mir das auch, würde ich sagen. Also zu Schulzeiten, obviously, ist es mir viel, viel, viel, viel schwerer gefallen. Ja, zu all den Dingen zu stehen, dass ich irgendwie eigentlich wahrscheinlich gerne noch Pferdepullis getragen hätte in der fünften Klasse, aber relativ schnell kapiert habe, kommt irgendwie nicht so gut an. Und jetzt mittlerweile, ja, wo man vielleicht auch ein bisschen oder deutlich weniger social pressure hat, ja, ist es einfacher. Aber trotzdem erfordert es natürlich ein gewisses Selbstbewusstsein, zu sich zu stehen. Und das ist nicht immer so einfach, weil es natürlich auch menschlich ist, dazu gehören zu wollen.
Coolness war und ist heute nach wie vor eine Art Schutzpanzer, weil es geht um Distanz, Kontrolle, Überlegenheit. Und dabei ist mir aufgefallen, das sind alles Eigenschaften, die im Patriarchat eher männlich konnotiert, also geprägt sind. Und genau das sagt auch Verena.
Verena Bogner: „Cool sein geht mit Unemotionalität einher, was ja Stereotyp, männlich ist, cool ist, wer unnahbar ist, ja genau, keine ehrliche Begeisterung zeigt, ja, und ich freue mich dann sehr eben über so große Movements wie die Swifties, wo dann plötzlich Millionen von Girls und Queeren-Personen sagen, so, jetzt zeigen wir euch mal, was cool ist.“
Und vielleicht ist das auch das Spannende an diesem Trend, habe ich gedacht, dass Scham natürlich plötzlich viel sichtbarer wird und dadurch an Macht verliert. Weil wenn ich etwas vermeintlich Peinliches, wie eine Serie, Musik, die ich höre, teile, dann entwaffnen wir uns selber und das kann sich ziemlich befreiend anfühlen.
Verena Bogner: „Ich habe schon so viel Lebenszeit darauf verschwendet, mir Gedanken zu machen, was andere über mich denken, ob die mich cool oder peinlich finden. Und ich habe dann auch Jahre meines Lebens mit unauthentischen Choices einfach verbracht. Das ist ja völlig absurd und bereue ich natürlich auch zutiefst, weil es ist lächerlich. Aber ab dem Moment, wo ich den Cringe embraced habe, ist einfach eine riesige Last von meinen Schultern gefallen. Vielleicht gibt es Leute, die sich denken, ich bin peinlich und Cringe und weird, so fucking what? Es ist einfach egal und dieser Gedanke ist einfach sehr, sehr befreiend und schön und ich versuche das als die große Maxime meines Lebens zu sehen.“
Ehrlich gesagt kann ich das total nachvollziehen, was Verena sagt und trotzdem frage ich mich, ob in dieser Bekenntnis zum Cringesein vor allem auf Social Media wirklich eine Art neuer Freiheit liegt oder vielleicht sogar das Gegenteil.
Und an der Stelle kommt Andreas Reckwitz ins Spiel, der Soziologe. Ich habe nämlich 2020 in der Pandemie, also mitten in der Pandemie, sein Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ gelesen. Ehrlich gesagt ziemlich komplex und ich glaube vieles davon, was er beschreibt, was er analysiert, hätte man auch deutlich kürzer zusammenfassen können. Aber ich habe mich irgendwie durchgekämpft. Und ich weiß auch noch, wie sehr mich das damals beschäftigt hat, weil er, finde ich, ziemlich gut beschreibt, in welche Art von Welt wir leben. Nämlich eine, in der alles besonders einzigartig und authentisch sein soll. Und das betrifft so ziemlich alles. Unsere Arbeit, Beziehungen, Freizeit, Kunst, Social Media. Alles wird nach Singularität, so nennt er das, bewertet. Und im Kern geht es am Ende eigentlich darum, sich abzugrenzen. Also quasi zu zeigen, ich gehöre zu der und der Clique oder beziehungsweise zu der und der sozialen Gruppe. Ist natürlich jetzt nicht so wahnsinnig neu. Aber ich habe mich gefragt, was hat das vielleicht mit diesem „I’m cringe but free“ Trend zu tun? Und ich glaube, ehrlich gesagt, der passt da ziemlich gut rein. Weil auf den ersten Blick wirkt er so ein bisschen wie ein Gegenentwurf zur quasi Abgrenzung. Aber auf dem zweiten Blick ist er vielleicht einfach nur eine neue Variante von demselben.
Und deswegen müssen wir erst mal noch mal ganz kurz von Anfang an oder an den Anfang, weil coolness ist ja lange Zeit immer noch eine Form von Distinktion, also sich abgrenzen. Cool sein heißt, unangreifbar zu wirken und in diesem Kontext wirkt einem cringe but free quasi fast wie so ein Befreiungsschlag, quasi ich mache mich nicht mehr zum Objekt von Coolness oder Authentizität, ich bin einfach ich. Und genau darin steckt eine Performancefalle, sagt Breckwitz, der nennt das so. Wir sollen authentisch sein, aber das ist selbst wieder eine Art von Performance, also es entsteht quasi ein Druck, echt authentisch zu wirken und das ist oft eben genauso anstrengend wie cool zu sein.
Und das ist natürlich irgendwie so ein bisschen ironisch. Selbst das Cringesein wird dadurch wieder ästhetisiert. Also wir performen unsere vermeintliche Unperfektheit. Und dabei ist mir ehrlich gesagt sofort, also vor allem auf Social Media eingefallen, es gibt mittlerweile ziemlich viele Reels, in denen es auch darum geht, öffentlich zu zeigen, dass man weint. Das ist natürlich total wichtig, dass Weinen irgendwie einerseits zum Beispiel nicht nur etwas ist, was Frauen tun, sondern auch Männer weinen. Aber gleichzeitig ist es dann irgendwie so mit perfekter Musik unterlegt und in perfektem Licht und dadurch natürlich irgendwie vielleicht auch gar nicht so wahnsinnig authentisch. Und man könnte quasi sagen, dass sich bei dem Trend einfach irgendwie, dass es sich bei dem Trend einfach um eine neue Form der Singularität handelt. Also Abgrenzung nicht durch Coolness, sondern eben durch bewusstes Nicht-Cool-Sein. Und ich habe Verena mal gefragt, was sie darüber denkt. Tatsächlich sieht sie das Ganze ein bisschen anders.
Verena Bogner: „Alles, was wir machen, ist performativ. Alles. Vor allem im Internet. Alles ist performativ und ich finde daran auch nichts Schlechtes. Und natürlich ist auch das Vor-sich-her-Tragen von I am cringe performativ, aber es geht halt dann, finde ich, darum, was dahinter steckt. Also blöd ist es ja dann, wenn man was nach außen trägt und dann ist nichts dahinter oder man lebt dann das Gegenteil davon und man trägt es nur nach außen, weil es ein Trend ist. Das finde ich cringe, ehrlich gesagt.“
Wahrscheinlich ist die Lösung am Ende vermutlich auch einfach, möglichst wenig darüber nachzudenken, ob andere etwas vielleicht cringe oder nicht cringe finden. Also generell einfach viel, viel weniger auch sich selbst und andere zu bewerten, weil ich habe mir gedacht, die Menschen, die häufig von anderen als cringe bezeichnet werden, weil sie vielleicht Swifties sind oder ganz unironisch Wandtattoos feiern, tun das ja nicht, weil andere es als cringe ansehen und sie jetzt sozusagen teilen wollen mit anderen, dass sie voll fein damit sind, eben vermeintlich cringe zu sein, sondern weil sie das einfach ganz, ganz ehrlich lieben. Und das ist ja eigentlich die allerbeste Absicht, oder nicht?
Verena Bogner: „Eine Qualität, die ich erst zu schätzen gelernt habe im Laufe der, ich sage mal, letzten zehn Jahre, ist ehrliche Begeisterung. Ich finde, es gibt nichts Schöneres, als wenn jemand auf einem Konzert die kindliche Freude in den Augen hat, egal ob man schon Mitte 30 ist oder nicht, oder ob jemand total abnöedet, so egal welchem Thema. Also ich liebe das, wenn sich jemand wirklich für was begeistert und diese komische Abgebrühtheit, diese ständige ironische Distanz zu allem abgelegt hat. Aber es gibt ja immer noch auch sehr viele, die Popmusik irgendwie minderwertig finden, cringe finden, was für dumme kleine Mädchen finden, die keine Ahnung von Musik haben und ich sage, die haben gar keine Ahnung von Musik. Also ich feiere Pop, ich feiere alles, was Mainstream ist.“
Outro
Mein Resümee aus dieser Folge ist auf jeden Fall, dass David Guetta in meiner Running Playlist seinen Platz behält und zwar ganz unironisch und ohne das Guilty vor dem Pleasure. Und ich bin auf jeden Fall total gespannt, was euer vermeintlicher Guilty Pleasure ist, der am Ende gar keiner ist. Schreibt mir das super gerne, entweder als Mail an redaktion@sinneswandel.art oder ihr könnt auf Spotify auch Kommentare hinterlassen zur Folge oder auf Social Media, da findet ihr mich auch. Ich würde mich auf jeden Fall total freuen und natürlich auch, wenn ihr Lust habt, meinen Podcast zu supporten, das geht ganz einfach via Steady oder über Paypal. Alle Infos dazu und zur Folge findet ihr wie immer in den Shownotes. Und das war’s von mir, bis zum nächsten Mal im Sinneswandel-Podcast.