“Rettet unsere Erde, wir haben nur diese eine!” “Climate Justice Now!” Sätze, wie diese, liest und hört man seit einiger Zeit häufiger. Auf Plakaten, in Demonstrations-Gesängen, in Talkshows, auf Twitter. Dass es so nicht mehr weitergehen könne. Dass es ein Umdenken und ein entsprechendes Handeln brauche. Und zwar jetzt. Oder am besten schon gestern. Dass wir alles Notwendige tun müssten, um nicht in einem vollständigen Kollaps zu enden. Gibt es Situationen, in denen es legitim ist, radikal zu handeln? Oder sollten wir stets die goldene Mitte suchen? Diesen Fragen möchte ich in der heutigen Episode, insbesondere aus philosophischer Sicht, nachgehen.
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SHOWNOTES:
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- Leseempfehlung: Radikale Kompromisse, ein Beitrag aus der Tageszeitung Neues Deutschland
- Hörempfehlung: Lob der Dissidenz, ein Beitrag von Deutschlandfunkkultur über das Widerständige in unserer Gesellschaft.
- Klassiker: Der Mensch in der Revolte von Albert Camus (1951).
- Sehenswert: Die Ausstellung über die radikale Denkerin Hannah Arendt im Deutschen Historischen Museums in Berlin (27.03.-18.10.2020).
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TRANSKRIPT:
Hallo und herzlich Willkommen zum Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich euch in der heutigen Sendung begrüßen zu dürfen.
“Rettet unsere Erde, wir haben nur diese eine!” “Climate Justice Now!” Sätze, wie diese, liest und hört man seit einiger Zeit häufiger. Auf Plakaten, in Demonstrations-Gesängen, in Talkshows, auf Twitter. Dass es so nicht mehr weitergehen könne. Dass es ein Umdenken und ein entsprechendes Handeln brauche. Und zwar jetzt. Oder am besten schon gestern. Dass wir alles Notwendige tun müssten, um nicht in einem vollständigen Kollaps zu enden.
Aber sollten wir alles dafür tun, wirklich alles? Das klingt doch sehr extrem oder radikal. Denn bedeutete das nicht auch, dass andere Dinge dafür zurückgestellt werden müssten? Wie zum Beispiel unser Streben nach Wachstum. Oder bedeutet es vielleicht sogar, dass andere dafür Leid in Kauf nehmen müssten? Familien sich im Ausland beispielsweise nicht mehr besuchen könnten, da Flüge für sie unerschwinglich geworden sind.
Jede Entscheidung, ganz gleich wofür, bringt Konsequenzen mit sich. Und manchmal frage ich mich, ob wirklich alle Entscheidungen gut durchdacht sind. Denn bei aller Kritik an der Radikalität einiger Klimaaktivist*innen, müssen nicht auch unter den heutigen Bedingungen, die durch Entscheidungen einst geschaffen wurden, Menschen leiden? Was ist mit all jenen, die sich kein Auto leisten können und dennoch den Feinstaub tagein tagaus inhalieren? Oder den Menschen, die jetzt bereits vor Naturkatastrophen aus ihren Heimatländern flüchten müssen? Sind diese nicht auch Teil eines Kompromisses, der nur weniger offensichtlich scheint, da er seltener thematisiert wird, als potentielle Konsumeinschränkungen?
Da kann man sich doch die Frage stellen, ob es denn überhaupt so etwas wie eine “richtige” bzw. allen dienliche Entscheidung gibt. Eine, in der keine Person oder Gruppe den Kürzeren zieht. Oder gar ein Gefangenendilemma entsteht, in dem beide schlechter abschneiden. Ist das möglich? Oder besteht das Leben eben genau darin, dass wir stets Kompromisse eingehen müssen?
In der heutigen Episode soll es anders, als vielleicht vermutet, nicht um die Klimakrise und ihre Bewältigung gehen. Diese stellt lediglich ein geeignetes Beispiel für die sich immer wieder entfachenden Debatten um die Frage nach dem richtigen Maß zwischen Radikalität und Kompromiss dar. Gibt es Situationen, in denen es legitim ist, radikal zu handeln? Oder sollten wir stets die goldene Mitte suchen? Diesen Fragen möchte ich in der heutigen Episode, insbesondere aus philosophischer Sicht, nachgehen. Ich betone diese Eingrenzung, da ich mir bewusst bin, dass heute bei weitem nicht alle Aspekte, die mit dem Begriff der Radikalität zusammenhängen, angesprochen werden. Insbesondere das Politische des Radikalen, das dieses Mal nur angerissen werden kann, die Betrachtung aus diesem Blickwinkel, wäre noch einmal eine ganze Sendung wert. Darum wage ich nun erstmal einen Anfang, es ist ein Versuch, sich diesem großen und wichtigen Thema, das unsere Zeit prägt, zu nähern.
Bevor wir in das Thema einsteigen, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Der Podcast ist nämlich komplett werbefrei, was er allerdings nur mit eurer Hilfe bleiben kann. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr meinem Team und mir Produktion des Podcast. Unterstützen könnt ihr via Steady, Paypal und Überweisung. Das geht schon ab 1€. Schaut einfach in die Shownotes, dort habe ich alles verlinkt. Nun wünsche ich euch aber viel Freude beim Zuhören.
Was bedeutet Radikalität überhaupt?
Spannend an dem Begriff der Radikalität ist, dass ihm eine gewisse Ambivalenz anhaftet. In der Kunst und Literatur ist der Begriff des Radikalen zum Beispiel eher positiv konnotiert. Man denke an den Expressionismus oder die Epoche des Sturm und Drang. Das Radikale hat auf der einen Seite etwas sehr Anziehendes, weil es uns aufrüttelt und aus unserem Tiefschlaf erweckt. Auf der anderen Seite kann es auch ungemütlich werden und uns irritieren oder sogar abstoßen weil es mit dem bricht, was wir gewohnt sind.
Mit am treffendsten hat vielleicht der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx ausgedrückt, was “radikal” für ihn bedeutet. Seine Definition bezieht nämlich den Ursprung des Wortes mit ein. „Radikal“ kommt nämlich aus dem Latein, leitet sich von dem Wort radix ab, was „Wurzel“ bedeutet. Und so schreibt Marx „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“. Wenn wir also von Radikalität sprechen, dann wird damit oft ein irreversibler Kontinuitätsbruch gemeint. Die Radikalen wollen zum Wesen der Dinge vordringen, anstatt bloß an ihren äußeren Erscheinungen herumzudoktern. Dabei wird das eigene Sein und Tun einem höheren Ziel unterstellt, für das man gegebenenfalls sogar bereit ist sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Nun könnte man sich fragen, wenn die Radikalen sogar bereit sind sich für eine Sache aufzuopfern, wie unterscheiden sich diese dann von den Extremisten? Oder sind das einfach zwei Synonyme für dieselbe Sache?
Verfassungsrechtlich wird eine sehr klare Unterscheidung zwischen Radikalität und Extremismus gemacht. So gelten zum Beispiel rechtsextremistische Ideologien mit der demokratischen Grundordnung als unvereinbar, unter anderem durch ihre Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit und eine gegen den Gleichheitsgrundsatz gerichtete Fremdenfeindlichkeit. Radikale Strömungen hingegen müssen nicht zwangsläufig gegen die Prinzipien der demokratischen Grundordnung verstoßen. In der Realität verschwimmen die Grenzen jedoch bzw. sie trennscharf voneinander zu unterscheiden ist oft nicht leicht.
Aber auch die Philosophie hat sich mit der Unterscheidung zwischen dem Radikalen und Extremen beschäftigt. Der Philosoph Helmuth Plessner zum Beispiel hat den sogenannten „sozialen Radikalismus“ geprägt. Er glaubte an eine Art Heilkraft des Extremen. So geht es laut Plessner beim radikalen Denken der Philosophie meist um Erneuerung und nicht primär um Zerstörung. René Descartes wäre hier ein Beispiel, der mit seinem radikalen Zweifel einen Neuanfang im philosophischen Denken ermöglichte. “Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich”, waren seine Worte. Das heißt, das einzige, dessen er sich glaubte sicher sein zu könne, war der Zweifel selbst. Und, indem er zweifelte, glaubte er zu denken. Also müsse er doch existieren. Eine für damalige Verhältnisse sehr radikale Sichtweise, die vieles in Frage stellte. Geprägt war Decartes eher rationalistische Theorie vor allem von dem Zerbröckeln des christlich-katholischen Glaubensmonopols und dem damit einhergehenden Fokus auf wissenschaftliche Fakten. Vor diesem Hintergrund, dem Zerbrechen eines bislang bekannten Weltbildes, ist Descartes verzweifelte Suche nach Klarheit und nach einem sicheren Fixpunkt des Denkens doch recht nachvollziehbar.
Das heißt, Radikalität ist durchaus positiv besetzt, als etwas, das Bestehendes hinterfragt und Neues erschafft. Eine schöpferische Kraft. Man könnte auch sagen, die Radikalen sind bereit, sich für seine Idee aufzuopfern und vielleicht sogar zu sterben. Der Extremist hingegen, um noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, ist sogar bereit anderen Schaden zuzufügen und sie gar zu töten aufgrund seiner Überzeugung. Das macht vielleicht den mit größten Unterschied aus.
Schön und gut, aber was bedeutet das nun in der Praxis? Gibt es in der Philosophie radikale Denker*innen, die die Dinge an der Wurzel packen und alles auf den Kopf stellen?
Definitiv. Einen radikalen Denker habe ich mit René Descartes ja bereits genannt. Es gab aber auch PhilosophInnen, die als radikal bezeichnet werden können. So beispielsweise die französische Philosophin Simone Weil. Sie hat nicht nur Radikalität theoretisch vertreten, sondern diese auch praktisch gelebt. Sie setzte sich für die Unterdrückten ein, war eigentlich ausgebildete Philosophielehrerin, schuftete aber lieber in Fabriken und verschenkte ihren Lohn. Simone war wild entschlossen, den Sinn des Lebens zu finden und das, was sie als richtig erkannt hatte, umzusetzen –koste es auch ihr eigenes Leben. Was es am Ende tatsächlich tat. Ihr Herz versagte schon im zarten Alter von 34 Jahren, da sie sich geweigert hatte Nahrung zu sich zu nehmen, um sich solidarisch mit ihren Landsleuten zu zeigen, die sich im Krieg befanden. Und das, obgleich sie mit Tuberkulose im Krankenbett lag. Das ist schon sehr radikal kann man sagen.
Allerdings, wenn man genauer hinschaut, folgt den meisten radikalen Gedanken der großen Philosoph*innen, meist eine moderate Auslegung. Sie folgt aber nicht, weil diese Denker*innen Angst vor der eigenen Courage hätten. Ganz im Gegenteil. Sie folgt, weil sie den Mut zu ihr haben. Weil sie konsequent genug sind, das zu entfalten, was aus diesen radikalen Gedanken folgt. So steht es mit Kants vermeintlichem moralischen Rigorismus, Nietzsches vermeintlichem Immoralismus,und Adornos vermeintlichem Negativismus. Um nur diese drei zu nennen. Jede wirklich radikale Philosophie verhält sich an den entscheidenden Stellen moderat. Einige würden das sogar als widersprüchlich bezeichnen: Wasser predigen und Wein trinken. Insbesondere in der Klimadebatte wird diese Kritik immer wieder deutlich. Ich denke da an den letzten Sommer zurück, in dem „die Jugend“, die mit FFF auf den Straßen protestierte, angeblich gleichzeitig auf Festivals ihren Müll zurückließ. Oder an die vielen guten Vorsätze, die wir uns machen, von Fleisch- und Flugverzicht, weniger Plastik usw., die wir selten konsequent einhalten.
Ich vermute, dass es durchaus menschlich ist, das wir uns immer wieder ambivalent verhalten. Da das menschliche Zusammenleben solche Kompromisse erfordert. Der Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes zum Beispiel war der Überzeugung, der Mensch sei im Naturzustand ein wildes Tier, ein Wolf, und nur durch das Zusammenleben mit anderen Menschen könne er die Vorteile der Gemeinschaft und des guten Lebens nutzen. Wie der gute Hobbes das erreichen wollte, sei mal dahingestellt. Aber eine Welt, in der wir alle kompromisslos unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen, hielten vermutlich die wenigsten für eine Wünschenswerte. Insofern kann es ja sogar wohltuend sein, Kompromisse einzugehen, wenn diese das gemeinsame Glück mehren. Jede Form der Beziehung erfordert es, Kompromisse einzugehen. Die Liebe ist da vielleicht als einer der größten zu nennen, da wir unsere Autonomie zugunsten des Zusammenseins zu einem gewissen Teil einschränken.
Nichtsdestotrotz fühlen wir uns häufig hin und hergerissen zwischen dem hedonistischen Streben nach Glück und der Einhaltung unserer moralischen Werte, die sich ja auch mit der Zeit wandeln können. So hat beispielsweise vor ein, zwei Jahren kaum jemand von Flug-Scham gesprochen und heute gehört es beinahe zum Standardvokabular. Was ich damit sagen möchte ist, radikal leben mag ein Vorsatz sein, ihn umzusetzen aber oft alltagsfern. Weil wir als Menschen immer wieder Kompromisse eingehen müssen, um unser Zusammenleben zu gestalten. Einerseits, weil wir intersubjektiv unterschiedliche Bedürfnisse haben, aber eben auch intrasubjektiv, also in uns selbst ambivalent sind.
Damit wir dennoch gemeinschaftlich zusammenleben und Entscheidungen treffen können, braucht es natürlich eine geeignete Form der Kommunikation. Wie so etwas funktionieren kann, damit hat sich unter anderem Jürgen Habermas in seiner Diskursethik beschäftigt. Ihm zufolge kann eine Einigung auf verbindliche Normen, die ein Zusammenleben in Gesellschaft ermöglichen, nur gelingen, wenn aufgeklärte Individuen in der Lage sind, sich austauschen. Ihre eigenen Weltbilder hinterfragen und gemeinsam moralische Werte entwickeln. Und eine verbindliche Norm kann nach Habermas nur dann akzeptiert werden, wenn sie von allen möglichen Betroffenen mit sämtlichen Folgen akzeptiert wird. Allerdings kann man sich nun fragen, ob Konsens und Kompromiss nicht zu unterscheiden sind. Man spricht ja auch gerne von sogenannten „Faulen Kompromissen“.
Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich diese Frage gestellt, ob es wohl gute und schlechte Kompromisse gebe. Für ihn gehört der Kompromiss sogar ins Zentrum philosophischer Reflexion, da wir selten genau das bekommen, was wir wollen. Darum sagt Margalit, sollten wir viel stärker anhand unserer Kompromisse beurteilt werden, als anhand unserer Ideale und Normen. Denn Ideale können uns zwar Wichtiges darüber sagen, was wir gern wären, Kompromisse aber verraten uns, wer wir wirklich sind. Und so lässt sich auch Margalits Antwort auf diese Frage als eine Art Kompromiss werten: Denn auch für ihn sind sie unentbehrlich für das soziale Leben. Wenn es aber faule Kompromisse sind, können sie, sagt er, für ein Gemeinwesen tödlich sein.
Mir kommt da sofort das Bild eines „Fähnchens im Wind“. Wenn wir zu offen sind und uns von jeder Woge mitreißen lassen, laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren. Nicht im Sinne eines festen Kerns unserer Identität. Sondern viel mehr sind wir dann nicht mehr greifbar. Uns fehlt die Standhaftigkeit. Es braucht eine gewisse Positionierung unsererseits, mit der wir uns verorten und dadurch für andere greifbar werden.
Das spricht ja dann wiederum dafür, dass es so etwas, wie eine “goldene Mitte” gebe. Einen Weg zwischen Radikalität und faulem Kompromiss. Eine Balance vielleicht?
Interessant wird diese Frage auch, wenn man sich den Trend hin zur Achtsamkeit und modernen Spiritualität anschaut, der vor allem für mehr Mäßigung plädiert. Wobei ich vermute, dass dieser Wunsch nach Gelassenheit und die Suche nach einer verlorenen Mitte weniger philosophisch, als vielmehr daher rührt, dass unser Privatleben heute durchökonomisiert ist und damit auch dem Effizienz-Paradigma unterliegt. Wir müssen mehr leisten, in immer kürzerer Zeit und sind zugleich angehalten, flexibel auf die sich verändernden Umstände zu reagieren. Kein Wunder, dass man da den Wunsch nach mehr Gelassenheit verspürt. Was ich allerdings für problematisch halte, ist der Aufruf, allem, was dem Selbst schaden und die innere Ruhe aufrütteln könnte, aus dem Weg zu gehen. So predigen einige der sogenannten Mindfulness Coaches, man solle keine Nachrichten konsumieren, da sie nur über negative Schlagzeilen berichten. Diese radikale Abkehr von einem Teilaspekt der Realität halte ich für wenig zielführend, da wir so Gefahr laufen in unserer kleinen Bubble ein verzerrtes Bild der Welt zu entwickeln weil wir keine Kontroversen und Ambivalenzen mehr zulassen. Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass es als zum Teil frustrierend erlebt wird, wie sich die Welt entwickelt und nicht jeder die Zeit und Kraft hat, sein gesamtes Leben dem Gemeinwohl zu widmen. Allerdings bin ich zugleich der Auffassung, dass gerade das Gefühl, Teil von etwas zu sein, sei es in einer Bewegung, wie FFF oder einem Verein, einen sehr sinnstiftenden Charakter hat, der in unserer heutigen sehr individualistisch geprägten Welt, durchaus hilfreich sein kann. Denn Selbstentfaltung und Gemeinwohl schließen sich keinesfalls aus, sie bedingen sich sogar. Eine Gesellschaft braucht einerseits mündige Subjekte, die sich entwickeln wollen. Andererseits können wir als Menschen alleine nicht überleben und sind auf die Gemeinschaft angewiesen. Insofern denke ich, das es kein entweder oder im Sinne eines Kompromisses darstellt, sondern sich gegenseitig ergänzt und das Leben des Einzelnen sowie uns als Gesellschaft bereichern kann.
Nun ist aber noch immer nicht die Frage nach der “goldene Mitte” beantwortet, ob es diese gibt und, was es mit diesem Maß auf sich hat. Aristoteles bezeichnet in seiner Nikomachischen Ethik die Tugend als mesótes, also Mittelmäßigkeit zwischen zwei Extremen, die es stets anzustreben gilt. Diese Mitte ist allerdings subjektiv und situationsabhängig durch die Vernunft des Einzelnen bestimmt und kann sich zwischen zwei Personen unterscheiden. Um ein paar Beispiele zu nennen: Freigebigkeit ist für Aristoteles die Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Und die Tapferkeit bewegt sich zwischen den Extremen der Feigheit und der Tollkühnheit – weder die Feigheit ist wünschenswert, noch eine übersteigerte, vernunftlose Tapferkeit, die Aristoteles als Tollkühnheit bezeichnet. Dementsprechend zeigt sich die Vorstellung vom guten Leben als eine mittlere Lebensform. Damit ist die Mitte aber gleichzeitig auch ein Äußerstes, das Beste, das möglich ist. Aristoteles gibt auch selbst zu, dass es sehr schwer ist, die Mitte zu treffen. Wie bei einem Dart-Spiel trifft man eben häufiger daneben. Also ist man aufgefordert ständig abzuwägen, um das richtige Maß zu finden. Übung macht den Meister. Je häufiger wir tugendhaft handeln, desto leichter fällt es uns, bis wir irgendwann gar blind die Mitte treffen.
Jungen Menschen wird ja auch häufig unterstellt, noch nicht so viele Erfahrungen gemacht zu haben, im Vergleich zu jenen, die ein gewisses Alter erreicht haben und damit oft eine gewisse Reife besitzen. Je älter wir werden, desto größer ist unser Repertoire an Erfahrungen, auf das wir als eine Art normativer Maßstab zurückgreifen können. Wir lernen Dinge mit der Zeit in Relation zu setzen. Das hat seine guten, wie schlechten Seiten. Einerseits lassen wir uns dadurch vielleicht nicht mehr so schnell aus der Fassung bringen und können gelassener durchs Leben gehen. Auf der anderen Seite besteht in den Extremen ja auch ein gewisser Reiz. Wir spüren uns dann oft besonders intensiv. Unsere Grenzen weiten sich aus. Diesen Prozess durchlaufen die meisten von uns in der Phase der Pubertät, dem Übergang in die Adoleszenz. Wenn wir radikal das Bestehende in Frage stellen, uns vom Elternhaus Stück für Stück abnabeln und unsere eigenen Wege gehen. Ich denke, dass dieser Prozess, sowohl evolutionär, als auch in sozialer Hinsicht wichtig für unsere Identitätsbildung als Individuum ist. Indem wir auch mal anecken und Widerstände spüren, lernen wir uns selbst besser kennen. Insbesondere was wir nicht wollen und dadurch eben auch, was wir uns stattdessen wünschen. Radikalität, im Sinne einer Etablierung eigener Ideale und Wertvorstellungen, gibt uns ja auch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Autonomie.
Und, wenn wir mal ganz ehrlich sind, es braucht ein gewisses Maß an Radikalität. Individuell, wie auch im Sinne der Gemeinschaft. Ohne radikale Denker*innen und jene, die bereit waren für Ideale sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, gäbe es heute wohl kaum Grundgesetz, Frauenwahlrecht, Genossenschaften und wir lebten noch immer unterdrückt von den wenigen Reichen und Mächtigen. Was zugleich bedeutet, dass auch heute nach wie vor radikale Denker*innen und Menschen braucht, die uns immer wieder daran erinnern das Bestehende zu Hinterfragen. Weil noch lange nicht alles gut so ist, wie es ist. Weil Wissen oft nicht ausreicht, um Missstände zu beheben, wie wir beispielsweise in der Klimakrise sehen können.
Da Albert Camus es weitaus besser in Worte fassen kann, als ich, möchte ich abschließend eine kurze Passage aus “Der Mensch in der Revolte” von 1951 lesen:
“Was ist der Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt. Aber, wenn er ablehnt, verzichtet er doch nicht, er ist auch ein Mensch, der ja sagt aus erster Regung heraus. […] So ruht die Bewegung der Revolte zu gleicher Zeit auf der kategorischen Zurückweisung eines unerträglich empfundenen Eindringens wie auf der dunklen Gewißheit […] des Revoltierenden, <ein Recht zu haben auf…>. […] Er demonstriert hartnäckig, daß es in ihm etwas gibt, das <die Mühe lohnt>, das beachtet zu werden verlangt. […] Gleichzeitig mit dem Widerwillen gegen den Eindringling enthält jede Revolte eine völlig und unmittelbare Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst.”
Insofern, um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukehren, ob es so etwas, wie einen richtigen Weg, ein gutes Maß gibt, lautet meine persönliche Antwort: Ja und Nein zugleich. Ja, in der Hinsicht, als dass es stets auszuhandeln ist, was eine gute Entscheidung im jeweiligen Kontext ausmacht. Und dabei nicht nur die Konsequenzen für sich selbst, sondern auch für alles um mich herum in Betracht gezogen werden müssen. Im Bezug auf die Klimakrise zum Beispiel zukünftige Generationen, die real noch gar nicht existieren. Und Nein, insofern, dass es keinen allgemeingültigen richtigen Weg gibt, sondern, dass jede Entscheidung in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist, der sich im stetigen Wandel befindet.
Es ist und bleibt also kein einfaches Unterfangen. Und im Zweifel fahren wir, indem wir uns im übertragenen Sinne aneinander reiben, unsere Sichtweisen austauschen, wohl am besten. Das erfordert aber, dass wir gewillt sind, uns zu begegnen. Und das wiederum erfordert eine gewisse Haltung. Aber dazu vielleicht ein andern Mal…
Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. In den Shownotes habe ich einige weiterführende bzw. interessante Artikel und Beiträge, die im Zusammenhang mit dem heute besprochenen Thema stehen, verlinkt. Wenn euch die Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit anderen. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn auch ihr als Mitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Alle infos dazu findet ihr ebenfalls in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald.