Die jungen Menschen, nicht selten werden sie als “politikverdrossen” bezeichnet – aber stimmt das? Sind es nicht gerade die nachkommenden Generationen, die immer wieder an Politiker*innen appellieren, wenn es um die Einhaltung der Pariser Klimaziele geht? Einer dieser jungen Menschen ist Jakob Blasel. Bereits mit 17 begann seine aktivistische Laufbahn, innerhalb weniger Jahre ist er zu einem der Gesichter von Fridays For Future Deutschland geworden. Heute, drei Jahre später, zieht er von der Straße in den Bundestag. Wir haben mit Jakob darüber gesprochen, wie es zu dieser Entscheidung kam. Stehen Aktivismus und Politik im Konflikt miteinander oder könnten sie gar eine Synthese bilden?
Shownotes:
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Quellen:
►Tagesspiegel: Vom Marsch auf der Straße zum Marsch durch die Institutionen (25.09.2020).
►Bayerischer Rundfunk: Politik statt Protest (06.02.21).
►Tagesschau: Partei statt Straße? (03.07.21).
► die Welt: Ein Klimaaktivist auf dem Marsch in die Institutionen (15.09.20).
► Der Spiegel: Gehört Fridays for Future auf die Straße – oder in den Bundestag? (24.06.21).
►Die Zeit: Kompromisse funktionieren bei der Klimakrise nicht (25.09.20).
►Die Zeit: Grünen Basis will auf Parteitag höheren Co2 Preis durchsetzen (09.06.21).
► Scientists For Future: Die Flutkatastrophe im Juli 2021 in Deutschland und die Klimakrise – eine Stellungnahme von Wissenschaftler:innen der Scientists for Future (22.07.21).
► Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. 4. Auflage. Mohr, Tübingen,( ISBN 3-16-532721-1) , S. 7. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Band 3) (1974).
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Transkript: Jakob Blasel: Sind Politik und Aktivismus (un)vereinbar?
“Alle Menschen, die sagen, den nötigen Wandel werden wir nicht im Parlament schaffen – ja, wo denn sonst? Es darf nicht scheitern. Ohne, dass ich garantieren kann, dass es klappt – ich werd alles dafür geben.”
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Die jungen Menschen – nicht selten werden sie von älteren Generationen als “politikverdrossen” bezeichnet. Starren angeblich den lieben langen Tag auf Smartphones oder präsentieren die neuesten Dance-Moves ihrer TikTok-Community. In Parlamenten, als Anwärter*innen für politische Posten, da sucht man sie vergeblich. Aber stimmt das? Sind es nicht gerade die nachkommenden Generationen, die immer wieder an Politiker*innen appellieren, insbesondere, wenn es um die Einhaltung der Pariser Klimaziele geht? Oder hat das nichts mit Politik zu tun, ist “nur” Aktivismus? Und, wer junge Menschen als “politikverdrossen” bezeichnet, sollte der sich nicht vielleicht auch fragen, ob es dafür nicht gute Gründe gibt? Ob Politik, wie sie bislang gemacht wird, noch zeitgemäß ist? Sicherlich werden die Entscheidungen, die in Parlamenten getroffen werden, nicht mit dem Tempo und den Forderungen vieler Aktivist*innen mithalten zu können, aber nur, weil etwas schon immer so oder so gehandhabt wurde, muss es noch lange nicht für immer so bleiben. So sehen es zumindest einige jener Aktivist*innen, die sich in den vergangenen Monaten und Jahren dazu entschlossen haben, die Seite zu wechseln, von der Straße in die Reichstagskuppel zu ziehen. Einer von ihnen ist Jakob Blasel. Bis vor kurzem noch einer der führenden Köpfe hinter der deutschen Fridays For Future Bewegung. Aber damit ist jetzt erstmal Schluss! Ariane, aus der Sinneswandel Redaktion, hat Jakob gefragt, was ihn zu dieser Entscheidung bewogen hat. Ob er das Gefühl hat, in der Politik mehr bewirken zu können, als auf der Straße. Und, ob Aktivismus und Politik überhaupt im Konflikt miteinander stehen, einen Gegensatz bilden oder, ob sie nicht gar eine Synthese bilden könnten.
Es ist der 25.01.2019, vor dem Bundeskanzleramt versammeln sich mehr als 10.000 junge Menschen aus ganz Deutschland. Der Wind pfeift an diesem Wintertag durch die Straßen Berlins, doch das Regierungsviertel ist erfüllt von Stimmengewirr und entschlossenen Gesichtern. Am Tag der Aushandlung des Kohlekompromisses fordern die Protestierenden, angesichts der enormen Auswirkungen der Klimakrise, eine engagierte Klimapolitik der Bundesregierung und den Kohleaustritt bis 2030. Zu ambitioniert, zu unrealistisch seien diese Forderungen, heißt es von den Politer*innen: 2038 wird schließlich als Datum für das Ausstiegsabkommen festgelegt – aus Sicht von Fridays For Future ein Kompromiss gegen die Zukunft. Unter den Demonstrierenden ist auch Jakob Blasel. Der 19-jährige Schüler, zu dieser Zeit Sprecher von Fridays For Future Deutschland, hatte bereits 2018 in Kiel eine der ersten großen Demonstrationen der Bewegung mitorganisiert. Politisiert durch die Klimakrise und die, in seinen Augen, ungenügende Reaktion der deutschen Bundesregierung, tritt er 2017 Greenpeace und der Grünen Jugend bei. Nur zwei Jahre später, 2019, ist Jakob zu einem der bekanntesten Gesichter der jungen Klimabewegung in Deutschland geworden. Aber das allein, scheint nicht sein Ziel gewesen zu sein.
Gut ein Jahr später, am 24. August 2020, twittert Blasel: “Der nächste Bundestag ist der Letzte, welcher die benötigten Gesetze für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziel noch beschließen kann. Wir dürfen keinen Weg unversucht lassen, um diese dort umzusetzen. Deswegen will ich 2021 für die Grünen in den Bundestag einziehen. […] Wir brauchen Leute in den Parlamenten, die – für eine gerechte Welt, für die Interessen meiner Generation und für konsequentes Einhalten von Paris kämpfen. Das kann ich nicht alleine – aber ich kann anfangen.” Ein Tweet, der nicht unkommentiert bleiben wird. Neben viel Zuspruch in der Kommentarspalte, titelt die FAZ wenige Tage später: “Fridays for Future verliert Aktivisten an die Politik” und stellt damit die Frage in den Raum, ob es sinnvoll ist, den Protestmarsch auf der Straße gegen den durch die parlamentarischen Institutionen einzutauschen. Jakob ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit gut zwei Jahren Mitglied bei den Grünen. Allzu überraschend kommt diese Entscheidung also nicht. Doch was hat ihn letztlich davon überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist? Das Gefühl, im Parlament mehr bewegen zu können, als auf der Straße mit Fridays For Future?
“Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich im Bundestag mehr erreichen kann, als bei Fridays For Future. Es ist mehr eine krasse Lücke, die ich gesehen habe. Wir haben wahnsinnig engagierte Leute bei Fridays For Future – ich sehe wie es immer mehr werden und wie nach Corona die Bewegung immer stärker wird. Und gleichzeitig, wenn wir in die Politik gucken, haben wir bei den Grünen auch sehr viel Wissen, wie wir die Klimakrise angehen und andere Parteien könnten zumindest auf das Wissen zugreifen. Die gesellschaftlichen Mehrheiten sind da, aber diese Zugkraft und dieser wirkliche Gestaltungs – und Veränderungswille fehlt in der Politik. Das finde ich total krass: wir haben die gesellschaftlichen Mehrheiten, wir haben die Wissenschaft und trotzdem ist so eine Trägheit und Angst vorhanden, während die Klimakrise immer weiter voranschreitet – und gerade weil es zeitlich so knapp ist – wir werden die Weichen in den nächsten vier Jahren stellen oder halt auch nicht – und das hängt alles an uns. Deswegen braucht es Menschen in der Politik, die mit Elan und mit dieser Vermittlung von Dringlichkeit, die es in der Klimabewegung schon gibt, dass die auch endlich in der Politik ankommt. Das ist der Grund warum ich für den Bundestag kandidiere. Aber das ist nie ein Entweder-Oder, so wie das manche Medien hochsterilisieren wollen.”
Wenn man Jakob zuhört, scheint es sich hier um ein Missverständnis zu handeln. Anstatt sich darauf zu beschränken das Parlament und die Regierung für ihre Untätigkeit zu verurteilen, sieht er die Chance vielmehr darin, genau diese Institution mit seiner Kandidatur von innen heraus mit zu verändern. Für Jakob steht fest, dass jene Entscheidungen, die, die von großer Tragweite sind, genau dort, im Parlament gefällt werden, ohne dass das den Aktivismus auf der Straße überflüssig machen würde.
“Ehrlich gesagt, wenn ich nicht glaube, dass wir das im Parlament umsetzen können, dann würde ich ja auch nicht glauben, dass ich das über Proteste auf der Straße erreichen kann. Das darf kein Widerspruch sein. Alle Menschen, die sagen, den nötigen Wandel werden wir nicht im Parlament schaffen – ja, wo denn sonst? Das ist das zentrale Entscheidungsgremium. Da werden die Weichen gestellt. Es darf nicht scheitern. Das ist der Punkt. Ohne, dass ich garantieren kann, dass es klappt – ich werd alles dafür geben. Ich arbeite mich jetzt schon in die Strukturen von Parlament ein. Auch, wenn ich gar nicht weiß, ob ich in den Bundestag komme oder nicht. Aber ich arbeite jetzt erstmal so. Weil, wenn es klappt, dann möchte ich alles dafür tun, dass die nächste Regierung und der nächste Bundestag die Weichen dafür stelle, dass wir die Klimakrise eindämmen können.”
Das bewerten allerdings längst nicht alle so, wie Jakob. Ein paar, wenn auch nur wenige seiner ehemaligen aktivistischen Mitstreiter*innen sehen den Weg in die Politik kritisch und halten den Protest auf der Straße für wirkungsvoller. Im Gegensatz zu Blasel, sieht Carla Reemtsma, Pressesprecherin von Fridays for Future Deutschland, die Grünen nicht als Partei, die ein “1,5-Grad -kompatibles Parteiprogramm” vorzuweisen hat. Im Interview mit Zeit Campus stellt sie klar: “Das Problem bei der Klimakrise ist: Politische Kompromisse funktionieren nicht. Es gibt keinen Mittelweg, es geht um die Frage: Schaffen wir es, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, ja oder nein?” Auch Soziologe Klaus Hurrelmann äußert sich im Tagesspiegel eher skeptisch: “Für Fridays for Future ist Kompromissfindung Teufelszeug. Ihr Charakteristikum ist die absolute Forderung“, für ihn passt der Sprung einiger Aktivist*innen in die Parlamente nicht zum politischen Tagesgeschäft, das gerade von Kompromissen geprägt sei. Dies könne, so Hurrelmann, “nicht nur zu Spannungen bei den FFF führen, sondern vor allem innerhalb der Parteien, für die ehemaligen Aktivisten antreten.” Idealismus gerät in der Realpolitik nicht selten in die Mühlen der Diplomatie. Viele Nachwuchspolitiker*innen treten ihre Ämter mit hohen Erwartungen an sich selbst an, was sich positiv auf die Gestaltung des Parlaments auswirken kann. Zugleich könnte die erste Legislaturperiode für viele eine Art „Realitäts-Check“ werden. Auf der anderen Seite: Was die Realität betrifft, so ist diese längst nicht in Stein gemeißelt. Kontroverse und Dissens stellen vielleicht sogar den Kern einer jeden Demokratie dar.
In Jakobs Worten steckt viel Elan, Zuversicht und eine große Portion Idealismus, die ihn als Aktivist bei Fridays For Future wohl auch dorthin gebracht hat – ganz an die Spitze, immer voran. Und das trotz Jura-Studium und Praktikum, das er “nebenher” noch absolviert. Aber wie weit bringt aktivistischer Elan im politischen Tagesgeschäft? Als Aktivist, in der Rolle der Opposition, lassen sich vermutlich radikalere Forderungen stellen, als im Parlament. Wie viel Idealismus lässt sich unter der Kuppel des Reichstags wohl bewahren?
“Wie viel Idealismus in den Bundestag passt? Ich muss ehrlich gesagt sagen, ich weiß es nicht – let’s find out. Ich denke das eher vom Ziel her – Klimapolitik müssen wir aus meiner Sicht immer idealistisch angehen. Wir haben ein, in Anführungsstrichen, “Idealbild” und das ist, das wir das 1,5-Grad Ziel nicht überschreiten. Wenn wir von Idealismus reden, dann implizieren wir ja, das alles andere auch irgendwie OK wäre und das ist bei der Klimakrise nicht so – wir müssen dieses Idealbild erreichen, wir müssen unsere gesamte Industrie und gesamte fossile Industrie innerhalb von 15 Jahren komplett über den Kopf werfen – in Deutschland in 15 Jahren, global in 20-25 Jahren. das ist eine total krasse Aufgabe und ehrlich gesagt müssen wir da am Ende landen – wir haben gar keine Wahl. Da ist, wenn man es so nennen will, Idealismus auf der Straße genauso naiv wie in der Politik, aber in der Politik auch nicht weniger naiv, als auf der Straße, weil letztendlich war es immer das, was wir bei Fridays For Future wollten – wir wollten, dass die Politik umsetzt was wir fordern. Und auch das ohne Kompromisse – es war nicht so, dass wir uns Idealziele ausgedacht haben, damit man sich am Ende auf irgendwas einigen kann, wir sind mit dem gekommen was nötig ist.”
Ob Jakob mit seinem Idealismus in der Politik Erfolg haben wird und in den Bundestag einzieht, steht noch in den Sternen. Die Mühlen der Politik laufen langsam und verfolgen andere Regeln. Schon jetzt musste Blasel eine herbe Niederlage einstecken, als er sich im Juni auf dem Grünen Parteitag für einen höheren CO2-Preis stark machte. Die Antwort lautete: Antrag abgelehnt. Die Parteispitze bleibt bei ihrem Vorschlag von 60 Euro ab 2023. Auch die 25-Jährige Wiebke Winter weiß, wie es sich anfühlt, in einer alteingesessenen Partei gegen Windmühlen zu kämpfen. Auch sie setzt sich für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ein. Allerdings nicht wie Jakob bei den Grünen – was vermutlich am naheliegendsten ist – sondern ausgerechnet bei der CDU, einer Partei, die nicht gerade dafür bekannt ist, Vorreiter im Klimaschutz zu sein. Gerade für die CDU sieht sie allerdings eine Chance, da die Klimafrage auch eine Wirtschaftsfrage und die CDU nun mal “die Wirtschaftspartei” sei, so Winter in den ARD tagesthemen. Also Klimaschutz ohne Kapitalismuskritik, könnte man sagen. Aber ganz gleich, ob in der CDU, bei den Grünen oder Fridays For Future, in einer Sache sind sich die meisten Klimaschützer*innen einig: Die Zeit drängt.
“Wir sehen das jetzt gerade in Kanada – da reichen wir an die 50 Grad, es brennen Ölbohrinseln im Meer – wir sind mitten in einer krassen Krise. Ich mache mir richtig Angst – wenn wir tropische Verhältnisse mitten in Stuttgart haben, dann ist das kein Joke mehr. Das ist krasse Realität, die Klimakrise. Und das was wir gerade erleben, ist nur ein kleiner kleiner Teil von dem, was noch bevorsteht, wenn wir jetzt nicht handeln. Wir müssen alle alles geben – alle, die sich gesellschaftlich beteiligen. Alle, die irgendwie das Gefühl haben, Einfluss zu nehmen – und sei es “nur”, auf eine Demo zu gehen. Aber am besten noch mehr politisch aktiv zu werden. Alle sind gefragt. Das ist eine ziemlich krasse Schicksalszeit gerade. Das hängt am Ende nicht an mir, ob ich was im Parlament erreichen kann – das hängt daran, dass wir gesellschaftliche Mehrheiten schaffen und sichtbar machen. Ob ich oder andere in der Politik was schaffen können – das hängt letztendlich an uns allen. Das darf nie hochgebauscht werden, dass es nur an Einzelnen liegt. Das war auch 2019 so, dass die Leute immer gesagt haben Greta Thunberg wird uns retten – das ist Bullshit. Niemand wird uns retten! Wir müssen alle alles dafür tun und aktiv werden. Ich bin total gespannt, ob das klappt. Ich kämpfe dafür in den nächsten Monaten und Jahren, aber ich hoffe, dass ich nicht der Einzige bin.”
Jakobs eindringlichen Worte zeigen, es reicht nicht allein von außen auf Parteien Druck auszuüben, sondern um die zum Teil starren und adequierten Strukturen zu verändern, muss Politik auch von innen heraus transformiert werden. Das Reinrufen vom Rand, die Proteste auf den Straßen sind zentral, um Themen in der gesellschaftlichen Mitte und der politischen Arena zu positionieren – aber dann müssen sie dort auch institutionell verankert werden. Sven Giegold, Mitglied des Europaparlaments, der selbst ehemals als Aktivist bei der kapitalismuskritischen Bewegung Attac Deutschland aktiv war, sieht das sehr ähnlich: “FFF hat weltweit die Voraussetzung für den Klimaschutz verbessert, das hätte man aus den Parlamenten heraus nicht geschafft, das zeigt die Kraft einer Bewegung, aber ob dann wieder die richtigen Entscheidungen getroffen werden, das hängt davon ab, ob in den Institutionen auch Leute die gesellschaftliche Kraft aufnehmen”, so Giegold in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk.
Eben dieses Ziel verfolgt auch die 2019 gegründete Partei Klimaliste, die nicht länger warten will, bis die etablierten Parteien mit dem Klimaschutz ernst machen. Über Direktkandidaten und -kandidatinnen will die Klimaliste auf kommunaler Ebene die Einhaltung des 1,5-Grad Ziels zur obersten Priorität machen. Entstanden ist die Partei aus einzelnen Graswurzelbewegungen, die sich aus Umweltschützer*innen und Wissenschaftler*innen zusammensetzen. Sie alle eint die Überzeugung, dass die etablierten Parteien das 1,5-Grad Ziel mit ihrer Politik nicht erreichen können und es daher ein Bündnis braucht, welches diesem Ziel höchste Priorität einräumt. Offiziell am 21. Juni 2021 gegründet, ist die Partei schon jetzt in fast allen Bundesländern lokal und regional vertreten. Wie Jakob, wollen auch sie “frischen Wind” in die deutsche Umweltpolitik bringen. Co-Vorsitzende Doris Vollmer betont in der Zeit, dass ihr Grundanliegen sei, die Klimabewegung zu stärken, dennoch so Kritiker, könne die Partei den Grünen wichtige Stimmen bei der Bundestagswahl kosten und somit eine konsequente Klimapolitik auf Bundesebene entgegen ihrer Bestrebungen untergraben. Fridays For Future distanzierte sich bereits vor der Landtagswahl in Baden Württemberg von der Klimaliste, obwohl sie doch einige Forderungen mit der Bewegung teilt. „Progressive demokratische Mehrheiten sind essenziell, um in den nächsten fünf Jahren den notwendigen Wandel zu tragen. Kleinstparteien wie die Klimaliste dürfen diese Mehrheit nicht aufs Spiel setzen“ , so Line Niedeggen, Sprecherin von Fridays For Future Heidelberg.
Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, welchen Einfluss die neue Partei auf Bundesebene haben wird. Der Trend hin zu mehr Parteipolitik auf Seiten aktivistischer Bewegungen, zeigt sich aber schon jetzt und wird die etablierten Parteien, aber vor allem die Grünen, unter Druck setzen, sich zu positionieren. Wird es eher ein politische Kompromiss, um für die gemäßigte Mitte attraktiv zu bleiben, oder schlagen sie einen radikaleren Weg ein, wie er von Aktivist*innen und der Klimaliste vorgezeichnet wird? Und die Frage bleibt, können wir uns angesichts der sich häufenden Naturkatastrophen, die laut Wissenschaftler*innen vom menschengemachten Klimawandel angetrieben werden, überhaupt einen gemäßigten Weg leisten?
Das verheerende Hochwasser in Westdeutschland im Sommer diesen Jahres zeigt, der Klimawandel ist längst in Deutschland angekommen: “Erste Kipppunkte werden jetzt überschritten und Hitzerekorde gebrochen, Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage und wir unsere Zukunft. Politiker*innen, die weiter nur für den guten Ruf “Klimaschutz” betreiben, führen zu einem kompletten Versagen gegenüber meiner Generation. Wir können uns keine weiteren 4 Jahre Versagen leisten”, twittert Jakob bereits am 24. August 2020. Ein Konflikt zwischen Politik und Aktivismus stellt sich nicht, wenn wir die Frage der Klimaerwärmung als gesellschaftliche Frage anerkennen, auf die es, so Blasel, nur eine gesamtgesellschaftliche Antwort geben kann: zu Handeln, und zwar jetzt, bevor es zu spät ist. Dafür brauche es engagierte Menschen innerhalb und außerhalb staatlicher Institutionen. Denn, so Jakob, Greta allein wird uns nicht retten. Doch was bewegt Menschen, aktiv zu werden? Was mobilisiert sie, den Marsch auf der Straße oder durch die Parlamente zu wählen? Beide Wege sind mühselig, erfordern Zeit, Kraft und Ausdauer. Was kann Menschen motivieren, diese “Sisyphusarbeit” dennoch auf sich zu nehmen?
“Erstmal müssen wir anerkennen, dass die aller aller meisten Menschen eine politische Meinung haben und die allermeisten Menschen auch Veränderung wollen – in Deutschland und der Welt. Wenn wir schaffen wollen, dass diese dann auch aktiv werden – also von diesem “nicht zustimmen” oder von den Ideen, die die Leute haben – hinkommen wollen zu Protest und zu einem gewissen Gestaltungswillen – also zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung – dann müssen wir erstmal eine Geschichte erzählen, warum überhaupt jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wie wir was erreichen wollen und dann ist es eigentlich relativ simpel. Es geht dann darum, die eigenen Freunde mitzunehmen, die eigenen Bekannten und die bringen dann wieder ihre Freunde und Bekannte mit. Das ist letztendlich der Schlüssel – ich glaube das ist kein Hexenwerk. Wir müssen gemeinsam agieren und das immer wieder als eine höhere Mission, als nur unsere eigene Vision, erzählen. Bei Fridays For Future ging es zum Beispiel nie darum Fridays For Future groß zu machen, sondern es ging darum, die Klimapolitik der gesamten Regierung zu ändern und diese übergeordnete Geschichte müssen wir allen erzählen von denen wir erwarten, dass sie mit uns mitmachen. Was man da noch tiefer machen soll, weiß ich nicht. Die Methoden sind eigentlich klar, das entsteht vor allem aus einer Motivation und aus uns selber heraus.”
Ob eine übergeordnetes Narrativ und Gestaltungswille allein, aus uns Aktivist*innen machen und damit die Krisen den 21. Jahrhunderts bewältigt werden, ist fraglich. Aber Hoffnung und eine Erzählung, wofür es sich lohnt zu kämpfen, ist sicherlich kein falscher Weg, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und aktiv die Zukunft mit zu gestalten. Ganz im Sinne Karl Poppers, der Aktivismus als “Die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens” charakterisierte. In diesem Sinne, schreibt uns gerne unter redaktion@sinneswandel.art, was euch bewegt oder bewogen hat, aktiv zu werden. Könnt ihr Jakobs Entscheidung in die Politik zu gehen nachvollziehen, und was braucht es eurer Meinung nach, um den Weg in eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft zu gestalten? Wir sind gespannt!
Vielen Dank fürs Zuhören. Wie ihr wisst, ist es unser Bestreben, möglichst unabhängig und werbefrei produzieren zu können. Das müssen wir uns allerdings auch leisten können. Daher, wenn ihr Sinneswandel gerne hört, freuen wir uns, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle Infos zur Episode, Quellen und weiterführendes Material findet ihr, wie immer in den Shownotes. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast!