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Achtsamkeit

Wie solidarisch sind wir wirklich?

von Marilena 16. August 2022

Die Forderung nach Solidarität hat seit Jahren Hochkonjunktur. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. In ihrem Kommentar stellt Gastautorin Isabell Leverenz den Solidaritätsbegriff auf die Probe und kommt zu dem Ergebnis: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Azimipour, Sanaz (2022): Rassismus als Infrastruktur. Missy Magazine. 54-58.
► Missy Magazine (2022): Krieg und Flucht. 47-60.
► Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (2019): Was heisst »#Unteilbar« für eine Sammlungsbewegung? Interview mit Hengameh Yaghoobifarah. Belltower News.
► Struwe, Alexander (2019): Was ist emanzipatorische Solidarität?
► Lessenich, Stephan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Reclam. 
► Susemichel, Lea; Kastner Jens (2021): Unbedingte Solidarität. Unrast. 7-11.
► Hausbichler, Beate (2022): Lea Susemichel und Jens Kastner: „Identitätspolitik war zunächst eine Notwehrreaktion“. Der Standard.
► ELES (2021): Plurale Erinnerungskultur: Gemeinsames Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft?, YouTube.
► Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben. R. Piper & Co. Verlag. 173.
► Hark, Sabine (2021): Flucht und Migration. Wir brauchen ein neues Ethos der Solidarität. Deutschlandfunk Kultur.
► Jaeggi, Rahel (2021): Solidarität und Gleichgültigkeit. In: Susemichel, Lea; Kastner Jens: Unbedingte Solidarität. Unrast. 49-66.

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► sinneswandel.art

 

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“Solidarität (von lateinisch solidus “echt, fest“) […] bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit […] Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus. Der Gegenbegriff zur Solidarität ist die Konkurrenz.” So lautet zumindest die Definition auf Wikipedia. Gleichgesinnte oder Gleichgestellte, für sie gilt also das Prinzip der Solidarität. Aber was macht uns zu “Gleichen”? Was verbindet uns? Und zeigen wir uns als Menschen wirklich nur dann solidarisch mit anderen, wenn sie uns ähneln – ob aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der Sprache oder politischen Einstellung?

Angesichts einer Omnipräsenz der Forderung nach Solidarität, hat sich Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz gefragt, wie solidarisch wir aktuell wirklich sind. Ob Solidarität tatsächlich eine Praxis unter “Gleichen” sein muss oder, ob sie nicht viel weiter gehen kann und sollte? Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? Dabei kommt sie zu dem Schluss: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Was das genau bedeutet, erzählt Isabell Leverenz in ihrem Kommentar.

Es ist Sonntag und ich blättere durch die neue Ausgabe des Missy Magazins. Mein Blick bleibt an einer Fotografie der Fotojournalistin Sitara Thalia Ambrosio hängen. Darauf zu sehen, ist ein Bus. Dort, wo für gewöhnlich die Nummer der Buslinie oder ihre Endstation zu lesen ist, steht in orangefarbener Schrift: »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt«. Der Bus wurde von einem Zusammenschluss gemeinnütziger Organisationen bereitgestellt, der Geflüchtete aus der Ukraine nach Berlin bringt, wie die Bildunterschrift verrät. Der orange leuchtende Schriftzug erinnert mich an den Slogan »Defend Solidarity« der Organisation Sea Watch, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden an Europas Grenzen verschrieben hat. Ob »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt« oder »Defend Solidarity«: Beide Slogans eint, dass Solidarität buchstäblich in Bewegung zu kommen scheint – oder in Bewegung kommen muss?! 

Zumindest habe ich den Eindruck, dass die Forderung nach Solidarität seit Jahren Hochkonjunktur hat. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine: Sie wird als unabdingbar erklärt, sie wird proklamiert, sie wird getwittert. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. Darin, dass überfüllte Lager für Geflüchtete zu Beginn der Pandemie, wenn überhaupt, nur schleppend evakuiert werden oder sich an den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter*innen in Schlachthöfen nichts ändert. Dass man Überlastetem Gesundheitspersonal durch Beifall Sympathie zuträgt, anstatt sich für eine Verbesserung von deren Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dass man Studierende of Color ohne ukrainische Staatsbürgerschaft während ihrer Flucht vor Polens Grenzen abweist. Indes ist man sich aber europaweit einig, dass die Menschen aus der Ukraine Solidarität verdienen und ihnen schnellstmöglich und unbürokratisch geholfen werden muss. Dabei stoße ich immer wieder auf das gleiche Argument: »Die sind wie wir«, heißt es. Ich höre es beim Gespräch über den Gartenzaun, lese es im politischen Feuilleton und finde es in sozialen Netzwerken. Ukrainerinnen und Ukrainer seien schließlich Europäer*innen. Im gesellschaftlichen Common Sense scheint Solidarität eine Praxis unter Gleichen zu sein. Aber ist das wirklich so? 

Wie Sand zerrinnt mir diese Argumentation zwischen den Fingern: Wer ist denn eigentlich dieses solidarische »Wir«, von dem die Rede ist? Schließlich ist die Bevölkerung Deutschlands ja in sich bereits heterogen und vielfältig. In der selben Ausgabe des Missy Magazins, ein paar Seiten weiter geblättert, warnt die Aktivistin und Autorin Sanaz Azimipour vor dem entstandenen paneuropäischen Nationalismus, der die Ukraine als Vielvölkerstaat ausblendet und die Menschen und das Land als weiß und christlich labelt. Und ich erinnere mich, dass auch taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah vor einigen Jahren, aus meiner Sicht zurecht, beklagte, dass in Deutschland vor allem die weiße und nicht die antirassistische, feministische und anti-antisemitische Solidarität überwiege. 

Mir scheint, Solidarität ist hier selektiv, sie gilt nicht für alle im selben Maße. Das, was gesamtgesellschaftlich als Tugend aufgefasst wird und wie ein »schillernder Gegenbegriff« zu Phänomenen der Krise wirkt, ist vielmehr selbst Teil einer regressiven Praxis. Solidarität drohe, so schreibt der Soziologe Stephan Lessenich bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie, zu einer folgenlosen »sozialen Wohlfühlkategorie« zu verkommen. Zu einer Worthülse, die nur bedingt hält, was sie verspricht. Kuschelkurs statt Schlagweite. Es stimmt, Krisen fordern den sozialen Zusammenhalt heraus und damit die Notwendigkeit, Solidarität im Kontext dieser Herausforderungen neu zu formulieren. Daher frage ich mich: Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? 

Grundsätzlich, so fasst es die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi zusammen, kann Solidarität als eine Praxis des »Füreinandereinstehens« verstanden werden. Wird an die Solidarität appelliert, wird ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Haltung erwartet. Doch scheint sich Solidarität dabei bislang vor allem in der Gleichheit zu entfalten. Sie wird damit exklusiv. Bereits in den 90ern plädierte die feministische Denkerin Diane Elam für eine sogenannte »groundless solidarity«, eine unbegründete Solidarität, die nicht der Gleichheit, sondern Vielfalt und Diversität Rechnung trägt. Sie zielt darauf ab, kein vorgegebenes Wir, keine Gemeinschaft zur Voraussetzung von Solidarität zu machen. Gemeint ist hiermit nicht, sich stets vollkommen grundlos solidarisch verhalten zu müssen, sondern, dass gemeinsame Erfahrungen nicht vorausgesetzt werden sollten. »Unbedingte Solidarität«, so schreiben auch Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrem gleichnamigen Sammelband, beruhe nicht auf Gleichheit, sondern auf Differenzen. Es ginge nicht um die Parteinahme für Meinesgleichen, sondern darum, mit Menschen in solidarische Beziehung zu treten, mit denen ich gerade nicht den Berufszweig, das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teile. Eine emanzipatorische Solidarität, entkoppelt von ökonomischen, politischen und kulturellen Grundlagen. Und wer meint, bei dieser Perspektive handle es sich um eine Utopie, dem rate ich einen Blick in die Geschichte der Solidarität: Bereits die Abolitionismus-Bewegung, also der Kampf gegen die Sklaverei, wurde nicht allein von Versklavten geführt; ebenso, wie sich auch Männer für Frauenrechtsforderungen einsetzten; der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika wurde auch von westeuropäischen Weißen unterstützt; die Organisation Lesbians and Gays Support the Miners bestärkten den britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 80er Jahre. Umgekehrt marschierten die Minenarbeiter bei der Lesbian and Gay Pride Parade in London mit. 

Diese Solidarität ohne gemeinsamen Grund, betont Lea Susemichel, könne moralisch, humanistisch oder sozialrevolutionär motiviert sein. Nicht aber durch Ähnlichkeit oder Gleichheit. Es gehe vielmehr um den Einsatz für andere und um die gemeinsame Verantwortung für strukturelle und soziale Ungerechtigkeit. Auch dann, wenn man selbst vordergründig nicht davon zu profitieren scheint. Solidarität ist keine Gegebenheit von Natur aus, sie entwickelt sich nicht ‚ganz natürlich‘. Solidarität ist eine Entscheidung, sie ist politisch. Als Beziehung zwischen Menschen muss sie immer wieder aufs Neue ausgehandelt, gelernt und gelebt werden. Ähnlich wie Demokratie, die nicht einfach gegeben ist, sondern die es gegenüber antidemokratischen Strukturen und Ideologien immer wieder zu verteidigen gilt. Eine solidarische Haltung erschöpft sich dabei nicht in Form einer emotionalen Anteilnahme am Leid anderer oder in der Hilfe sogenannter »Schwächerer«. Es geht vielmehr darum, gemeinsam und auf Augenhöhe Strukturen zu transformieren, die Ungleichheiten hervorbringen oder bereits Bestehende manifestieren.  

Vor kurzem lauschte ich einer Rede des Judaisten Frederek Musall. Darin ging es um die Frage, wie Vergangenheit neu erzählt werden kann, um die Vielfalt der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Dies gelinge, so Musall, wenn Erzählkulturen in ihren Unterschiedlichkeiten und Verletzlichkeiten ernst genommen würden. Diese  Voraussetzungen, bin ich der Meinung, lassen sich ebenso gut auf solidarisches Handeln übertragen. Um Veränderungen zu erzielen, müsse die etablierte Ordnung der Dinge durcheinander gebracht werden: »Es wird dringend Zeit für einen Remix« sagt Musall. Seine Wortwahl rührt daher, dass er sich der Hip-Hop Musik bekannter Kollektive als philosophischem Denkbild bedient, um seinen Standpunkt zu untermalen. Die mitgeführte Hip-Hop-Metapher lässt sich, meiner Auffassung nach, auch treffend auf Solidarität, die ebenso einen solchen Remix nötig hätte, übertragen. Denn Hip-Hop war und ist Protest. Er vermag es, Solidarität mit benachteiligten oder ausgegrenzten Menschen zu verkörpern. Nicht zufällig wurde Rap-Musik nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 zum Soundtrack der Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus. In der frühen Rap-Kultur diente Hip-Hop Minderheiten als Sprachrohr, deren Geschichten nur wenig oder keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhren. Er kann stellvertretend dafür stehen, wie emanzipatorische Solidarität aussehen kann. In einem Hip-Hop-Song, an dem mehrere Künstler*innen beteiligt sind, so Musall, komme eine »narrative Polyphonie« zum Ausdruck, in der unterschiedliche Erzählungen aufeinandertreffen. Oder anders gesagt: In einem Song können Erzählungen aufeinandertreffen, die jeweils aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungshorizonten erzählt werden. Arrangiert ergeben sie eine Komposition. Das, was die unterschiedlichen Parts eines Songs miteinander verbindet, so Musall, sei weder Inhalt noch Form, sondern ein Arrangement, strukturiert durch Beat und Rhythmus. Sich als Musiker*in in einen Beat einzubringen, erfordert nicht nur Timing und Präzision, auch Achtsamkeit im Hinblick auf Stimme, Betonung und Takt – ein Gefühl für den Flow. Sowohl für den Eigenen, als auch für den der anderen Beteiligten. Wer im Flow ist, kann in die Hookline, den Refrain, einstimmen und durch das Hinzufügen der eigenen Stimme die Aussage der anderen verstärken. 

Folgen wir der Metapher der Polyphonie, so gründet solidarische Praxis nicht auf gemeinsamer Identität, sondern bringt diese überhaupt erst hervor – und das durch gleichberechtigtes und wechselseitiges Ein- und Mitmischen aller Beteiligten. Solidarität erfordert demnach eine Hinwendung zum Anderen als selbstbestimmtes, eigenständiges Subjekt. Dessen Differenz und Autonomie erst anerkannt werden muss, bevor gemeinsame Ziele formuliert werden können. Diese Ziele wiederum, ergeben ein gemeinsames Interesse, oder das, was die politische Philosophin Hannah Arendt als »inter-est« bezeichnet. Der Begriff ist durch einen Bindestrich getrennt; die einzelnen Bestandteile »inter« (zwischen) und »est« (sein) werden durch ihn aber gleichzeitig als zusammengehörig, als »interest«, markiert. Arendt zeichnet ein symbolisches Bild, um zu verdeutlichen, was sie mit »inter-est« meint: Darauf abgebildet, ist ein runder Tisch, der diejenigen, die an ihm Platz gefunden haben, sowohl voneinander trennt, als auch miteinander verbindet. Durch den Tisch entsteht ein Dazwischen, ein Bezugssystem, in dem Menschen ihren Interessen nachgehen. Wenn wir solidarisch handeln wollen, dürfen wir uns demnach nicht mit Polyphonie als bloßem Nebeneinander begnügen. Vielmehr sollten wir gezielt danach suchen, wie die unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven aufeinander bezogen werden können. Wenn man so will, dann braucht Solidarität einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Ein Bewusstsein und Vergegenwärtigung für Anwesenheit, Differenz und Bedürfnis. Einen Beat, der uns herausfordert, an unseren Gewohnheiten und Ansichten zu arbeiten und das gleichzeitige Existieren unterschiedlicher Bedürfnisse auszuhalten. Denn es sind letztlich die Vielfalt der Stimmen, der Streit um Differenz, die etwas bewegen können.

»What we need is awareness, we can’t get careless«, lauten zwei Zeilen aus Fight the Power des US-Amerikanischen Hip-Hop Kollektivs Public Enemy. Auch, wenn der Song bereits 1989 geschrieben wurde, besitzt er für mich auch heute noch Aktualität. Denn er besagt etwas so Einfaches und Wichtiges zugleich: Aufmerksamkeit, »awareness« ist das Gebot der Stunde. Gegenüber sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Entrechtung. Aber auch Aufmerksamkeit gegenüber einer Solidarität, die statt Vielfalt nur das vermeintlich Gleiche schützt. Die exkludiert, statt zu vereinen. Wir sollten uns bewusst sein, dass sich solidarisches Handeln gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Kontexten immer wieder anpassen muss. Für mich heißt das auch, dass wir mehr solidarische Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen und Differenzen hinweg brauchen, im Kampf für eine gerechte Gesellschaft. Solidarität braucht ein Fundament, um nicht nur Phrase zu sein. Sie braucht einen Beat.    

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16. August 2022

Toxische Positivität – ist zu viel Optimismus schädlich?

von Marilena 29. März 2022

“Kopf hoch! Einfach positiv denken!” Wer hat diesen oft gut gemeinten Rat nicht schon einmal gehört? Ja, es stimmt, manchmal hilft es, nicht zu verzagen. Aber manchmal eben auch nicht. Weil wir längst nicht alles in den Händen haben, auch, wenn uns das diverse Selbsthilfe Ratgeber suggerieren. Glück sei zum modernen Fetisch geworden, so die These der Politologin und Autorin Juliane Marie Schreiber. In ihrem Buch “Ich möchte lieber nicht”, schreibt sie von der “Rebellion gegen den Terror des Positiven”. Denn der nerve, belaste und schwäche den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Weil wir Glück als Prestige betrachten und eigentlich politische Probleme als persönliches Versagen verstehen. Eine fatale Entwicklung, gegen die nur Rebellion hilft. Denn die Welt wurde nicht von den Glücklichen verändert, sondern von den Unzufriedenen.

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► Mehr von und mit Juliane Marie Schreiber.
► Juliane Marie Schreiber: “Ich möchte lieber nicht – Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven”; Piper-Verlag (03/22).

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29. März 2022

Je digitaler die Welt, desto analoger die Träume?

von Marilena 15. März 2022

Florian Kaps, der von allen nur Doc genannt wird, liebt das scheinbar Unmögliche. Deshalb hat er 2008 nicht nur sein gesamtes Vermögen riskiert und damit die letzte Polaroid-Fabrik vor dem Aussterben gerettet, sondern auch das „Supersense“ eröffnet. Eine Manufaktur, die analoge Technologien vor dem Verschwinden bewahrt. Denn Doc ist fest davon überzeugt, dass Analoges auch in einer digitalen Gesellschaft seinen Nutzen hat – vielleicht sogar mehr denn je. Wieso und, was es mit der Sehnsucht nach dem vermeintlich “Echten” auf sich hat, darüber hat sich Marilena in Wien mit Florian Kaps unterhalten.

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► Supersense: Home of Analog Delicacies / Wien.
► “An Impossible Project” – Ein Dokumentarfilm von Jens Meurer (2022).
► Hartmut Rosa: Resonanz. Suhrkamp (2016).

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15. März 2022

Braucht es wirklich mehr Achtsamkeit?

von Marilena 23. Juni 2020

Die Welt dreht sich gefühlt immer schneller. Die Umdrehungen pro Minuten nehmen zu, dass einem schwindelig wird. Alles verdichtet sich, wird mehr und damit komplexer. Soziologen, wie Hartmut Rosa, sprechen von der “Beschleunigten Gesellschaft”. Und der Mensch, das Subjekt in Mitten des Karussells, das sich fortwährend mit zunehmender Geschwindigkeit dreht. Da kann man schon mal seine innere Mitte verlieren. Aber ehe wir uns versehen haben, war auch für diese sich anbahnende Gefahr des überforderten Subjekts, bereits eine Lösung gefunden: Mindfulness oder auf deutsch Achtsamkeit.

Eben dieses Phänomen wollen wir in der heutigen Episode etwas genauer betrachten. Wollen uns anschauen, wo sie ihre Ursprünge hat, was Achtsamkeit verspricht leisten zu können, wo ihre Grenzen und vielleicht sogar Probleme in der Anwendung liegen. Und wir wollen uns die Frage stellen, ob wir sie gerade heute wirklich so dringend brauchen, wie es oft propagiert wird.

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  • Mach (einen) Sinneswandel möglich und werde Mitglied. Unterstützen kannst du auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319.
  • Quellennachweise: Der Hype um die Achtsamkeit: Ein Interview mit dem Psychologen Thomas Joiner im Spektrum Magazin; Buch: „Achtsamkeit: Fortschritte der Psychotherapie“. Band 48 (2012). Prof. Dr. Johannes Michalak ; Aufsatz: Matthias Michal: Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychoanalyse. In: Thomas Heidenreich, Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch ; Buch: „Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse“, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe Band 12 (1974) ; Buddhismus als Popkultur: Thomas Metzinger im Gespräch mit Marietta Schwarz; Fachartikel von Doris Kirch.: Was ist Achtsamkeit?.
  • Sehenswert: ARTE Re: Doku: Moderne Spiritualität: Der Traum vom optimierten Ich; Sternstunde Philosophie: Im Interview mit Jon Kabat-Zinn: Achtsamkeit – die neue Glücksformel? und Sternstunde Philosophie: Im Interview mit Theodore Zeldin: Alle meditieren – wer verändert die Welt?.

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TRANSKRIPT:

Hallo und herzlich Willkommen zum Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich euch in der heutigen Sendung begrüßen zu dürfen. Heute in Co-Produktion mit Edu Alcaraz.

Die Welt dreht sich gefühlt immer schneller. Die Umdrehungen pro Minuten nehmen zu, dass einem schwindelig wird. Alles verdichtet sich, wird mehr und damit komplexer. Soziologen, wie Hartmut Rosa, sprechen von der “Beschleunigten Gesellschaft”. Die sich auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar macht: einer technischen, einer des sozialen Wandels und des Lebenstempos. Und der Mensch, das Subjekt in Mitten des Karussells, das sich fortwährend mit zunehmender Geschwindigkeit dreht. Da kann man schon mal seine innere Mitte verlieren. Aber ehe wir uns versehen haben, war auch für diese sich anbahnende Gefahr des überforderten Subjekts, bereits eine Lösung gefunden: Mindfulness oder auf deutsch Achtsamkeit.   

Ein Begriff unter dem sich mittlerweile vermutlich die meisten etwas vorstellen können. Achtsamkeit begegnet uns im Alltag, auf der Arbeit, in der Werbung. Der Begriff der Achtsamkeit spielt für die in den letzten Jahren rasant gewachsene Szene moderner Spiritualität und Selbsthilfe eine große Rolle. So lassen sich rund um den Achtsamkeits Begriff eine ganze Reihe von Coaching-, Meditations und Dienstleistungsprogrammen finden, welche schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Achtsamkeit im Alltag, bei der Arbeit oder in der Freizeit soll helfen, Stress zu reduzieren, das Leben zu entschleunigen, die psychische Verfassung zu stärken und Bewusstsein für sich und die Umwelt zu schaffen. Aber auch im Gesundheitssektor existiert bereits ein großer Markt diverser Achtsamkeits-Angebote. Für Burnout-Patienten, gestresste Manager*innen oder in Form präventiver Anti-Stress Programme zur Erkennung von Frühwarnzeichen. Natürlich von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannt und bezahlt.

Schon in den 70er Jahren entwickelte der amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn das sogenannte „Mindfulness-based Stress Reduction” Programm, kurz: MBSR, zur Stressbewältigung. Es gibt mittlerweile einige Studien über die Entspannungswirkung dieser Technik, die sogar bei Depressionen helfen soll. Dabei ist der Kern von MBSR gar nicht mal neu, sondern es greift auf eine altbewährte Tradition zurück: die Lehren des Buddhismus. 

In einem hyper-beschleunigten Zeitalter, in einer vernetzten Welt wo alles schneller, effektiver, besser ablaufen soll, wirkt es da nicht beinahe Paradox die jahrhunderte alte Lehre Buddhistischer Lehrmeister wieder stark zu machen?

Andererseits, in Anbetracht der in den letzten zehn Jahren um das 18-Fache gestiegenen Zahl an Arbeitsunfähigkeitstagen in Deutschland, bedingt durch Burnout, kann es da nicht sein, dass die technisierte und hyper-beschleunigte Moderne auf unser Wohlbefinden schlägt und den Anstieg psychischer Krankheiten zu verantworten hat? Ist Achtsamkeit, dann nicht vielleicht die Möglichkeit dem Sog der Geschwindigkeit zu entfliehen?

Die Vermutung liegt nahe, beschäftigen die Menschen sich in der heutigen Gesellschaft doch eh am liebsten mit sich selbst. Suchen und finden Problem und Lösung zugleich in ihrem Inneren verborgen. Als sei sie schon immer dort gewesen und man habe sie nur kurz vergessen. Das moderne Subjekt ist Urheber von allem und damit zugleich gottähnlich dazu befähigt, sich selbst aus dem Schlamassel zu holen. Ganz getreu dem Motto: “Alle Kraft steckt bereits in dir, du musst sie nur erkennen. Und damit dir dies gelingt, lerne deine Gedanken konzentrieren. Je mehr du trainierst, umso besser wirst du. Und umso effizienter, desto… gelassener” – oder war das nicht die Selbstoptimierung?

In der heutigen Episode wollen wir das Phänomen der Achtsamkeit etwas genauer betrachten. Wollen uns anschauen, wo sie ihre Ursprünge hat, was Achtsamkeit verspricht leisten zu können wo ihre Grenzen und vielleicht sogar Probleme in der Anwendung liegen. Und wir wollen uns die Frage stellen, ob wir sie gerade heute wirklich so dringend brauchen, wie es oft propagiert wird.
Bevor wir in das Thema einsteigen, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Der Podcast ist nämlich werbefrei, was er allerdings nur mit eurer Hilfe bleiben kann. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr dem Team und mir die Produktion des Podcast. Unterstützen könnt ihr z.B. via paypal.me/sinneswandelpodcast. Das geht schon ab 1€. Ansonsten schaut einfach in die Shownotes, dort habe ich euch alle weiteren Möglichkeiten verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude beim Zuhören.


Wenn Achtsamkeit nicht neu ist, wo hat es dann seinen Ursprung?
Zwar haben die alten Griechen und Römer eine ganze Menge erfunden, die Achtsamkeit geht jedoch nicht auf sie zurück. Vielmehr fand diese Tradition in Indien, in den Lehren des Buddhismus, ihren Ursprung. In der indischen Literatursprache Pali bedeutet Achtsamkeit „Sati“ und dies beschreibt einen Zustand des Geistes, der sich in vollem Umfang dessen gewahr ist, was in ihm gegenwärtig ist. Das, was wir heute oft als Konzentration umschreiben. Für die Buddhistische Lehre nimmt Achtsamkeit seit jeher eine zentrale Rolle ein. Sie bildet das siebte Glied des sogenannten “edlen Achtfachen Pfades”, der wiederum eine der “Vier Edlen Wahrheiten” des Siddhartha Gautama, also des Buddha entspricht und den Buddhisten als der Pfad zum Nirwana, also der Erlösung dient.

So weit so gut, aber wie fand die Achtsamkeit nun ihren Weg in die Moderne und in unsere heutige Zeit?

Über Umwege fand Achtsamkeit ihren Weg nach Europa. Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Achtsamkeits Begriff nahm im 20ten Jahrhundert die Psychoanalyse vor. Zum Beispiel Sigmund Freud, welcher im Zusammenhang mit Psychotherapie von „kritikloser Selbstbeobachtung“ schrieb oder bei Erich Fromm, welcher den Begriff der Achtsamkeit direkt aus dem Zen-Buddhismus entnahm. Dieser sah im Zen-Buddhismus das Potential, dass über intensive Selbstkonfrontation Verdrängungen aufgehoben werden und Einsicht möglich machen könnte.

In seinem Buch “Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse” schreibt Fromm: „Achtsamkeit ist das, was ich unter „Gewahrsein“ und „Gewahrwerden“ verstehe. Achtsamkeit bedeutet, dass ich in jedem Augenblick meines eigenen Körpers ganz gewahr bin, einschließlich meiner Körperhaltung und dessen, was in meinem Körper vor sich geht, und dass ich ganz gewahr bin meiner Gedanken, also dessen, was ich denke. Ich bin genau dann ganz konzentriert, wenn ich zu diesem Gewahrsein fähig bin.“ So stellt Achtsamkeit für Fromm eine dienliche Methode dar, um mit sich selbst und seinen Mitmenschen gelingende Beziehungen zu führen.

Heutzutage sind Programme zur Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, wie das von  Jon Kabat-Zinn entwickelte, so bekannt, dass sie sogar Einzug ins Europaparlament gefunden haben. Es heißt, solche Praktiken seien eine wichtige Unterstützung für Parlamentarier*innen, denn ihre Arbeit birgt große Anforderungen. Sie entscheiden über das Leben vieler Menschen, von Tieren und der Pflanzenwelt. Da kann ein wenig Achtsamkeit sicher nicht schaden. So gibt es regelmäßige überparteiliche Kurse für Meditation und Yoga. Für die Anbieter solcher Programme entfaltet sich dabei die Kraft der zeitlosen buddhistischen Psychologie, mit Hilfe derer, die beschleunigten Herausforderungen unserer Zeit besser zu bewältigen seien. Wenn uns jetzt beim Schlendern durch unsere Lieblingsbuchhandlung Titel, wie  „Im Alltag Ruhe finden – Meditationen für ein gelassenes Leben.” ins Auge springen, Achtsamkeit in Parlamenten praktiziert wird und ganze Institutionen rund um die Achtsamkeit existieren, sollten wir dann nicht vielleicht genauer verstehen:

Was moderne Achtsamkeit als Praxis eigentlich genau bewirken möchte? Was verspricht sie jenen, die ihren Rat befolgen? 
Die Erwartungstrommel wird hierbei kräftig gerührt. Denn, wer es schafft Achtsamkeit regelmäßig und ernsthaft zu betreiben, dem wird bei manchen Programmen nicht weniger als das pure Glück und wahre Lebensfreude versprochen. Beides sei nicht von äußeren Faktoren und Bedingungen abhängig, sondern im Menschen selbst angelegt. Durch Achtsamkeit entwickle sich ein klarer, stabiler und widerstandsfähiger Geist, durch den es möglich sein, in jeder Situation mit der Kraft der eigenen inneren Ressourcen verbunden zu sein. Damit aber nicht genug. Versprochen wird ein klares Verständnis über das eigene Leben und des Selbst. Außerdem soll es einen lehren, mit sich selbst und anderen geduldiger, mitfühlender und verständnisvoller umzugehen. Die alltäglichen kleinen wie großen Hindernisse werden dabei aus sich selbst heraus mit Leichtigkeit überwunden und dies soll angeblich zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Leben führen. Negative Emotionen und Gedanken werden dabei in sinnvolle Kanäle geleitet, um am Ende zu Gleichgewicht, Souveränität, Stabilität und Lebensfreude zu führen. Wir haben hier ein All-In-One Paket also. Das sogar den Umgang mit anderen umfasst. Konflikte lassen sich angeblich leichter lösen, Ängste reduzieren und Belastungen sollen erfolgreich gemeistert werden. Durch Achtsamkeit sollen wir nicht bloß Ruhe in uns selbst entwickeln, sondern auch Mitgefühl und Verständnis für andere. Es scheint sich also wirklich um einen Multi-Problemlöser für beinahe alle Übel zu handeln.

Und fraglich ist tatsächlich, ob sich die meisten Probleme unserer Zeit nicht durch einen Abbau von Ignoranz und gleichzeitigem Aufbau von Verständnis meistern ließen.

Gleichgewicht im Zeitalter der Turbulenz. Es scheint so als hätten Medizin, Psychoanalyse und östliche Philosophie zusammen eine Antwort auf die Herausforderungen eines hyper-beschleunigten Zeitalters gefunden. Das bewusste Lenken auf den Augenblick, urteilsfrei verharren und erkennen. Und schrieb nicht schon der Schriftsteller Leo Tolstoi in seinem Märchen „Die drei Fragen“, dass nur der Augenblick zähle: „Merke dir also, dass der wichtigste Zeitpunkt stets nur der eine ist: der gegenwärtige Augenblick.“

Was könnte man schon gegen Gleichgewicht und Gelassenheit einwenden? Sollte man es überhaupt? Müssten wir die Folge nicht an dieser Stelle beenden und ganz einfach in das Plädoyer für Achtsamkeit mit einstimmen? Oder gibt es vielleicht doch, wie bei fast allem, eine zweite Seite der Medaille – gar eine Schattenseite?

Natürlich finden sich bereits einige, die ein kritisches Auge, auf diesen Trend um Achtsamkeit geworfen haben. Für den Psychologen Thomas Joiner, Professor an der Florida State University, ist die Achtsamkeitsmeditation zu einer kommerziellen Industrie verkommen und der ursprüngliche Geist verloren gegangen, in einem Interview mit Steve Ayan vom Magazin Spektrum Psychologie, geht er sogar weiter und sagt, das heutige Überangebot verkehre und pervertiere die eigentliche Idee der Achtsamkeit. Im Vordergrund steht für Joiner das Problem, dass es bei der ursprünglichen Idee der Achtsamkeit, nicht um das Ego, ständige Selbstbeschäftigung und Konzentration auf das eigene Denken und Fühlen ginge, sondern gerade um das Gegenteil dessen. Bei der buddhistischen Lehre von Achtsamkeit geht es ihm zufolge um Demut, ein Moment der Distanz und Bescheidenheit. Das sogenannte Selbst, sei hierbei nicht besonders wichtig, sondern „ein Staubkorn im Universum“. Weder stehe es im Mittelpunkt, noch möchte es seine Belange im Vordergrund wissen. Für Joiner mangle es heutigen Achtsamkeitstrainings an eben diesem Moment der Demut. Sie würden den Einzelnen und seine Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellen. Für Joiner ist dies nur ein weiterer Versuch der Selbstoptimierung.

In der buddhistischen Lehre existiert die Vorstellung eines „Ichs“, eines Selbst oder einer Seele nicht. Für sie ist diese Vorstellung bereits eine grundlegende Täuschung über das Wesen der Wirklichkeit. Das was die Menschen als ihr Selbst oder ihre Seele beschreiben, ist für die buddhistische Lehre, ein ständig im Wandel begriffenes Zusammenspiel. Außerdem ist Achtsamkeit kein einfaches Meditieren zwischendurch, sondern bedarf jahrelanges intensives Training und Anleitung, falsch angewendet kann Achtsamkeitsmeditation auch negative Effekte haben, sogar kontraproduktiv wirken. Für manche Menschen ist Ablenkung gerade wichtig und zu viel Selbstfokussierung schadet ihnen.

Für Prof. Joiner ist es außerdem problematisch, dass Achtsamkeit in den Dienst einer Leistungsorientierten beschleunigten Gesellschaft gestellt wird. Oder anders ausgedrückt: Achtsamkeit wird zur Verlängerung eines Selbstoptimierungs-Paradigmas. Das heißt Menschen versuchen zehn Minuten Meditation zu praktizieren, damit sie sich danach umso erfolgreicher, umso schneller, umso fitter, innovativer, gesünder fühlen. Das heißt Achtsamkeit wird als Moment in einer Logik eingesetzt, mit einer Steigerungslogik, die das Problem verursacht und es deshalb nicht überwinden kann. Das Ego wird für den Arbeitsalltag gestärkt, nur um bessere Leistungen erbringen zu können. Wenn Achtsamkeit in diesem Sinne die Funktion erhält, als Mittel zur Selbstoptimierung und zur ungehemmten Beschäftigung mit dem eigenen Befinden zu dienen, ist dies für Joiner Verrat an einer guten Idee und er bezeichnet es als Auswuchs einer wachsenden Kultur der Selbstbespiegelung. Der Soziologe Hartmut Rosa reiht sich in dieser Kritik insofern ein, als dass er die Achtsamkeit Bewegung zudem als unpolitisch beschreibt und ihr vorwirft, sie schiebe das Problem, sich in einer beschleunigten Welt zu behaupten, dem einzelnen Individuum zu. Die Frage nach dem gelingenden Weltverhältnis wird ausschließlich als Persönlichkeitseigenschaft verstanden.

Grundsätzlich können aber beide, der Soziologe Rosa, ebenso, wie der Psychologe Joiner, der Idee von Achtsamkeit dennoch etwas abgewinnen. Indem sie angewendet in Form einer Achtsamkeitstherapie zum Beispiel einem depressiven Patienten helfen kann, mit belastenden Gedanken besser klarzukommen. Joiner empfindet zudem die grundlegende Einsicht, dass unsere Gefühle und Gedanken nicht der Realität entsprechen, sondern diese nur subjektiv widerspiegeln, als durchaus hilfreich. Allerdings gilt für ihn, dass Achtsamkeit nicht als einziger wahrer Weg zur Heilung betrachtet werden solle, da dies nur zu neuen Grenzen führen würde. Logisch! Welche Ideologie tut das nicht?

Wer glaubt, diese zwei eher zurückhaltenden Kritiker seien die einzigen, der hat sich getäuscht. Der Philosoph Thomas Metzinger, Professor für Theoretische Philosophie an der Uni Mainz, setzt noch einen oben drauf indem er eine noch drastischere Position vertritt. Metzinger hält westliche Meditationspraktiken für eine „unglaubliche Verwässerung“ buddhistischer Positionen und buddhistische Motive für einen Teil der Popkultur. Ihm zufolge würden religiöse und philosophische Praktiken angewandt ohne ein tiefes Verständnis für das was diese eigentlich bedeuten und woher sie kommen. So sei Meditation nicht bloß eine Praxis, sondern stelle auch eine ethische Haltung dar. Dies Würde verkehrt, wenn zum Beispiel beim Militär Scharfschützen Achtsamkeitstraining praktizieren, um effektiver zu werden. Oder Unternehmensberaterinnen ihre Pausen für Power-Yoga und Gong-Meditation nutzen, um danach doppelt so schnell in die Tastaturen ihrer Laptops hacken zu können. Auch Metzinger kritisiert in diesem Fall, dass die Achtsamkeits-Bewegung so zu einem Teil der kapitalistischen Verwertungslogik würde und ihre Praxis im Grunde nur noch eine Form von Selbstoptimierung sei. Google zum Beispiel versuchte auf überarbeitete, gestresste und ausgelaugte Mitarbeiter zu reagieren. Da solche, scheinbar, weniger produktiv sind musste Google sich etwas überlegen. Reduzierte Arbeitszeiten, weniger Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz oder mehr Urlaub zum Beispiel?. Nein, nicht bei Google. Ihre Lösung: Kollektives Achtsamkeitstraining. Schweigen beim Mittagessen, Meditation am Morgen. “Suche in die Selbst” wurde als Lösung ausgegeben. Moment? Soll das bedeuten, wer Probleme mit dem stetig wachsenden Arbeitspensum hat, ist am Ende vielleicht selbst schuld, weil er noch nicht die richtigen Techniken zu deren Bewältigung gelernt hat? Genau ein solches Denken kritisiert Metzinger. Aber auch er wendet sich nicht komplett gegen Achtsamkeit, er plädiert für einen sinn- und maßvollen Einsatz von Achtsamkeits Praktiken. Und zwar an Schulen und Universitäten. Denn längst wissen wir, dass die mediale Überflutung unserer Zeit zu verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und sogar Leseschwierigkeiten führt. Probleme, mit denen Studierende und Schülerinnen, ebenso wie deren Lehrbeauftragte, täglich zu kämpfen haben. Laut Metzinger könne Achtsamkeit hier ein geeignetes Werkzeug sein, um diesem Trend entgegenzuwirken. Er plädiert dafür, dass sich im Westen eine neue Bewusstseinskultur entwickeln müsse, damit Kinder von klein auf lernen können, ihre geistige Autonomie zu schützen, um von den vielen Eindrücken unserer Zeit nicht überfordert zu sein. Also quasi Achtsamkeit als Pflicht-Schulfach? Ist das die Lösung?

Was bedeutet das jetzt?
Bei der Kritik an Achtsamkeit oder Achtsamkeits Praktiken, steht nun natürlich die Frage im Raum, ob man sie deswegen gleich vollständig verwerfen muss. Nein, das vermutlich nicht. Denn die berechtigte Kritik, manche Programme würden buddhistische Praxis und östliche Philosophie verfremden, lenkt den Blick auf eben diese Herkünfte und kann auch als Einladung zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit eben dieser, verstanden werden. Außerdem haben alle Kritiker auch klar die Möglichkeiten in der Anwendung von Achtsamkeit benannt. Der Einsatz bei bestimmten Krankheiten, wie Burnout oder Depressionen sowie der Stärkung geistiger Autonomie. Dennoch ist es wichtig, dass ein kommerzielles Programm, nicht als Allheilmittel beworben werden sollte. Obwohl es sehr nützliches sein kann, hilft es eben nicht allen. Und obwohl gute Intentionen hinter jedem dieser Programme stecken mögen, hat Achtsamkeit eine östliche Tradition, die nicht verklärt oder zu Gunsten der Selbstoptimierung innerhalb kapitalistischer Verwertungslogik verfälscht werden sollte. Dabei soll nicht darum gehen, Achtsamkeits Programmen grundsätzlich vorzuwerfen sie würden Geld mit ihrem Tun verdienen. Nein, ein bewusster und respektvoller Umgang mit der buddhistischen Tradition ist unproblematisch. Zwischen rücksichtsloser Aneignung und respektvollem Umgang mit religiösen und philosophischen Praktik existiert ein großer Unterschied. Insofern, dass die Achtsamkeit im Buddhismus, Demut und Bescheidenheit lehren möchte und nicht zur Bereicherung Einzelner dienen möchte.

Zuletzt lässt sich die Frage stellen, ob sich der Begriff der Achtsamkeit nicht für andere Fragen stark machen ließe. So zeigt uns die Corona-Pandemie beispielsweise, wie wichtig Umsicht, Nachtsicht und auch Achtsamkeit für sich selbst und andere sein können. In dieser Situation war es wichtig, sich Bewusstsein über eine Situation zu verschaffen, sowie über die Folgen von egoistischem und rücksichtslosem Handeln reflektieren.

Auch durch die aktuell von der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd in den Mittelgrund gerückte Black Lives Matter Bewegung, drängen sich Begriffe wie Achtsamkeit wieder auf. Achtsamer Umgang miteinander, der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen Zukunft. Der medialen Überflutung beikommen, mit Momenten der Einkehr. Ob dabei das Selbst oder das Nicht-Selbst im Vordergrund stehen sollten ist nochmal eine ganz eigene Frage. Doch ich glaube, dass gerade in einem Zeitalter der Hyper-Geschwindigkeit, Momente der Ruhe und Entschleunigung, Räume schaffen können um über die Verhältnisse, in denen wir leben, wie wir mit der Natur und unseren Mitmenschen umgehen, nachzudenken und zu reflektieren. Bei all den Herausforderungen, die sich uns Menschen stellen, kann Achtsamkeit eine wichtige Rolle spielen ohne das dabei vergessen wird, woher sie kommt, was sie bedeutete und was sie noch bedeuten kann. So fordern nach wie vor tausende Junge Menschen immer freitags die Regierenden dazu auf, achtsam mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten umzugehen. Oder abertausende auf der Welt forderten in den letzten Tagen, dass kein Mensch aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert oder getötet werden dürfe.

Achtsamkeit ist mehr als eine Meditationstechnik, sie ist eine Geisteshaltung. Eine Geisteshaltung von der in einer hyper-beschleunigten Zeit viel zu lernen ist. Denn ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Grundsteine für Morgen, immer heute gelegt werden, halte ich für wichtig. Dabei geht es um gesellschaftliche und persönliche Veränderungen. Das Miteinander und das Füreinander. Einen Moment innehalten und eine Einsicht gewinnen. Nicht, dass uns die Zeit dafür irgendwann verloren geht.

Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch die Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit anderen. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn auch ihr als Mitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Alle infos dazu findet ihr ebenfalls in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald.

23. Juni 2020

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