sinneswandel.art
  • Home
  • Podcast
  • Episoden
    • Allzumenschliches
    • Mensch & Natur
    • New Economy
    • Zusammenleben gestalten
    • Zukünfte denken
  • Unterstützen
  • Über
sinneswandel.art
  • Home
  • Podcast
  • Episoden
    • Allzumenschliches
    • Mensch & Natur
    • New Economy
    • Zusammenleben gestalten
    • Zukünfte denken
  • Unterstützen
  • Über

Sinneswandel

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn die Episode euch gefallen hat, dann teilt sie doch gerne mit anderen. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder auf Steady unsere Arbeit unterstützt. Oder auch ganz einfach, indem ihr uns einen kleinen Obulus an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle weiteren Infos, wie auch weiterführende Literatur und Quellenhinweise, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

12. Januar 2021

Anna Mayr: Warum sind Arbeitslose systemrelevant?

von Marilena 5. Januar 2021

Kann es sein, dass Arbeitslosigkeit gewollt ist? Dass das Elend vieler Menschen in Kauf genommen wird, um ein Paradigma aufrechtzuerhalten, das wir seit geraumer Zeit befolgen? Das Dogma des: Ich arbeite, also bin ich. Anna Mayr ist davon überzeugt. In ihrem Buch „Die Elenden“, plädiert Anna Mayr dafür, dass wir uns von Leistungsidealen, dem Glauben an Bildungsgerechtigkeit und unserem Arbeitsfetisch verabschieden sollten. Und für eine Welt, in der wir die Elenden nicht mehr brauchen, um unseren Leben Sinn zu geben.

Shownotes:

► Anna Mayr: Die Elenden: Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Hanser Literaturverlage, 08/2020.
► Virginia Woolf: A Room of One’s Own. 1929.
► Spiegel.de: »Hillbilly Elegy« auf Netflix: Hollywoods Hilflosigkeit. Hannah Pilarczyk.
► Boston Globe: ‘Hillbilly Elegy’: welcome to hard times. Ty Burr.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

5. Januar 2021

2020: Reflexion einer Welt im Wandel

von Ricarda Manth 28. Dezember 2020

Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.

Shownotes:

► SRF: Sternstunde Philosophie: Annemarie Pieper: Die Wogen des Lebens.
► Wolfram Eilenberger in Deutschlandfunk Kultur: Die Kette(n) des Lebens.
► Hans Rusinek im Politischen Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur: Wandel bewältigen. Mit Paul Cézanne neues Denken lernen.
► Sinneswandel Podcast: Maja Göpel: Brauchen wir ein neues Weltbild?.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu Denken. Hugendubel (02/2020).
► 3sat Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020.
► Sinneswandel Podcast: Rahel Jaeggi: Können wir uns selbst finden?.
► Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Suhrkamp (10/2020).
► Tristan Garcia: Das intensive Leben: Eine moderne Obsession. Suhrkamp (04/2017).
► Sinneswandel Podcast: Kübra Gümüsay: Wie beeinflusst Sprache unser Sein?.
► Tupoka Ogette: exit RACISM. Unrast Verlag (09/2020).
► Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Hanser Literaturverlage (09/2019).
► Rutger Bregman: Im Grunde gut. Rowohlt (03/2020).

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: 2020: Reflexion einer Welt im Wandel

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen, letzten Episode diesen Jahres begrüßen zu dürfen.


Eigentlich war ich der Auffassung, die letzte Episode über das Potenzial des Bruchs eigne sich hervorragend als Abschluss. Um 2020, dieses turbulente Jahr, zu verabschieden. Der Überzeugung bin ich nach wie vor. Nichtsdestotrotz, als ich in den vergangenen Tagen das Jahr für mich noch einmal vor meinem inneren Auge habe vorbeiziehen lassen, hat es mich doch gepackt. Genauer gesagt, der Wunsch, doch noch einmal ein paar persönliche Worte zu verlieren. So möchte ich den Versuch wagen, zumindest ein paar der für mich eindrücklichsten Ereignisse noch einmal Revue passieren und euch an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Zudem möchte ich einen kleinen Ausblick in das noch vor uns liegende 2021 geben. 

Zunächst kann man sich fragen, wozu Reflektieren? Zumindest hat sich mir diese Frage gestellt. Also her mit der begrifflichen Herleitung: Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Soweit uns das möglich ist. So war der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz der Auffassung, “Reflexion [sei] nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist.“ Platon sprach von der „Erkenntnis der Erkenntnis“ und Aristoteles nannte die Reflexion das „Denken des Denkens“. Beim Reflektieren lassen wir also nochmals das Vorangegangene vor dem geistigen Auge Revue passieren. Wobei dies zumeist weniger ein rein gefühlsmäßiges Erinnern, als vielmehr eine kritische Prüfung der Situation, eine Beleuchtung aus verschiedenen Standpunkten heraus zum Ziel hat.


Mit diesem Wissen im Hinterkopf, scheint es nur noch wenig verwunderlich, dass wir zum Jahresende noch einmal die Geschehnisse reflektieren, sie kritisch hinterfragen und unsere Rolle in ihnen und der Welt an sich zu verstehen suchen. Die Philosophin Annemarie Pieper sagt in der Sternstunde Philosophie im Schweizer Rundfunk: “Man möchte doch eine Antwort, die darauf hinausläuft, dass man sich sicher ist, es war nicht umsonst.” Eine Suche nach Sinnzusammenhängen, nach Kausalitäten und Selbstwirksamkeit durch das eigene Eingebettet Sein im Kosmos. 

Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Vielleicht ein Grund mehr, weshalb die Philosophie in diesem Jahr ganz besonders gefragt schien. Der Ausbruch des Covid-19 Virus hat uns die eigene menschliche Verletzbarkeit vor Augen geführt, die beinahe in Vergessenheit geraten schien. Sowie, dass wir Teil der Natur sind und nicht über ihr stehen. Was es braucht, sei eine „Politik des Lebens, statt einer Politik der Menschen“, so der Philosoph Wolfram Eilenberger in einem Beitrag des Deutschlandfunk Kultur über die “Die Kette(n) des Lebens”. Und er richtet damit zugleich den Blick auf die Klimakrise, deren Bewältigung, so scheint es manchmal, aufgrund der Pandemie Bekämpfung zu kurz kommt. Munkelten oder hofften einige gar, sie sei durch selbige gelöst, weil man doch weniger fliege und angeblich Delfine im Canale Grande gesichtet habe. Doch der Eindruck trügt. Die Bedrohung durch den Klimawandel ist oder sollte uns gerade durch die Pandemie noch mehr ins Bewusstsein gerückt sein. Eben, weil alles mit allem zusammenhängt. Dass in Wahrheit nichts und niemand nur für sich, unverbunden, atomar isoliert existiert, sondern eingereiht ist in ein Kontinuum, das jedes einzelne Glied mit jedem anderen verbindet und verknüpft. Es geht also um eine neue Betrachtungsweise der Dinge, einen Sinneswandel.

“Probleme wie den Klimawandel werden wir nicht lösen können, wenn wir uns nicht von erstarrtem Denken verabschieden”, meint auch der Philosoph Hans Rusinek im Politischen Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur. “Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik”, führt Rusinek fort. “Mit einem Blick, mit dem sich überhaupt erst reagieren lässt: gelassen, neugierig, bestimmt. Mit dem man sagen kann, dass unser Handeln nicht nur ein reflexhafter Überlebensmechanismus ist, sondern schon eine neue Art zu leben für eine Welt, die sich immer in Entstehung befindet. Eine Welt, die es nicht in den Griff zu kriegen, sondern offen wahrzunehmen gilt. Eine Welt, die nicht aus Dingen besteht, sondern eben aus Kräften, Bindungen und unzähligen Potenzialen – in der nur eines immer sicher ist, dass nichts bleibt, wie es ist.” „Nichts ist so beständig wie der Wandel“, wie schon der antike Philosoph Heraklit von Ephesus feststellte. Nur erscheinen uns die Dinge oft weniger beweglich, manchmal gar festgefahren. Als wäre die Welt nie eine andere gewesen.

Vielleicht ist mir auch aus diesem Grund das Gespräch im Podcast mit der Transformations- und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel besonders in Erinnerung geblieben. „Ändere die Sicht auf die Welt, und es verändert sich die Welt”, lautet ihr Plädoyer in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Buch “Unsere Welt neu Denken”. „Es sind unsere selbst gemachten Regeln, aus denen die Welt, wie wir sie kennen und uns eingerichtet haben, besteht.“ Es liegt also an uns, so Göpel, den Status-quo zu hinterfragen und unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. „Um in der neuen Realität gut zusammenleben zu können, müssen wir auch unsere Vorstellungen von Fortschritt ändern, sonst verschieben wir Probleme einfach weiter in die Zukunft.“ Das fängt schon damit an, welche Sicht auf die Welt wir den nachwachsenden Generationen vermitteln, meint auch der Philosoph Michael Hampe in einem Interview im Philosophischen Jahresrückblick im Kulturzeit extra. Man solle junge Menschen in Schulen und Universitäten weniger auf die gegenwärtige Gesellschaft vorbereiten, als vielmehr darauf, sie umzugestalten.

Und dafür braucht es Selbstwirksamkeit. „Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist das beste Mittel, um in einer Krise von reaktivem Abwehren auf aktive Lösungsgestaltung zu schalten,“ schreibt auch Maja Göpel. Ein Gefühl, das vielen Menschen abhanden gekommen zu sein scheint. Zumindest ist mir dies nachdrücklich durch das Gespräch im Podcast mit der Philosophin Rahel Jaeggi, in Erinnerung geblieben. Sie ist der Überzeugung, unsere derzeitige kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise verschleiere nicht nur viele Zusammenhänge, sondern erschwere es uns Menschen zudem, selbstbestimmt unsere Lebensentwürfe zu realisieren. Geschweige denn, sie zu hinterfragen. Also laufen wir stur immer weiter geradeaus. Bis wir ganz erschöpft sind, von all der sinnlosen Hetzerei nach Produktivität und Effizienz. Gegen die fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt der Soziologe Hartmut Rosa die Resonanz, als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, so Rosa, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet – ein Moment der Unverfügbarkeit. Eines der Bücher und Gedanken, die mich in diesem Jahr maßgeblich beeinflusst haben.

Wir können also nicht alles besitzen, nicht alles beanspruchen. Sonst geht es uns Verlust, wenn wir den Worten Rosas Glauben schenken. Es braucht Maß und Mitte, Begrenztheit, damit wir das (gute) Leben überhaupt wahrnehmen, geschweige denn genießen können. Ein “immer mehr” im Bezug auf unser Wirtschaftswachstum und den angeblich damit verbundenen Wohlstand für alle, ist den meisten schon als Schwindel aufgeflogen. Doch auch im Hinblick auf unsere eigene Lebensweise, scheinen einige in diesem Jahr auf besondere Art mit dem Reiz des Wenigers in Berührung gekommen zu sein. So war während der ersten Lockdown Phase von einer “wohltuenden Entschleunigung” die Rede. Selbst, wenn sie erzwungen war. Denn die ständige Suche nach Intensität sei auch anstrengend, so der französische Philosoph Tristan Garcia. “Süchtig jagen wir neuen Höhepunkten und Extremen nach, immer unter Strom. Kein Wunder also, dass in unseren »Hochspannungsgesellschaften« das Unbehagen wächst.”
           
Doch schnell wurde deutlich und haben wir gelernt, dass dieses Gefühl einer wohltuenden Entschleunigung, längst nicht allen vergönnt ist. Spätestens, als der Begriff der “Systemrelevanz” in aller Munde war, ist vielen bewusst geworden, dass kein kollektives “Wir” existiert. Auch nicht in der Krise. Denn gerade die hebt die Diskrepanzen hervor. Dass wir längst nicht alle gleichsam von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Ebenso, wie die Klimakrise zuerst Arme, Frauen und Kinder trifft, lässt sich dies auch im Hinblick auf das Virus behaupten. Die Pandemie als Brennglas bestehender Missstände, wie es oft betitelt wurde. Dass wir längst nicht alle in einer Gesellschaft mitdenken, lässt sich auch anhand unserer Sprache verdeutlichen, behauptet die Autorin und Aktivistin Kübra Gümüsay, mit der ich mich ebenfalls in diesem Jahr im Podcast unterhielt. Unsere Sprache beeinflusst unser Sein. Wie wir uns in der Welt bewegen. Wie wir denken und handeln. Von einer gleichberechtigten Welt sind wir noch weit entfernt, so Kübra.

Doch lässt sich durchaus behaupten, wir befinden uns zumindest auf einem Weg der Besserung. Wie insbesondere die Black Lives Matter Proteste im Sommer deutlich gemacht haben. Ausgelöst natürlich von einem tragischen Moment, einem grausamen Akt der Gewalt und des Rassismus: Der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten. Die Welle der Empörung sowie Solidarität, die sich im Anschluss an das Geschehen jedoch zutrug, war überwältigend. Und hat viele Menschen dazu bewogen ihr eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen. So , waren in diesem Jahr Bücher wie “Exit Racism” der Autorin Tupoka Ogette oder “Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ von Alice Hasters in aller Munde. Und, wir wissen, Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung. Wenn auch nicht genug. Taten müssen folgen.

Der Mensch ist ein zoon politikon, so Aristoteles. Was meint, dass der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen ist. Nur scheinen wir das zeitweise zu vergessen. Beziehungsweise, die Welt, in der wir leben, macht es uns nicht immer leicht, uns darüber im Klaren zu sein. Dabei seien wir “im Grunde gut”, schreibt der Autor und Historiker Rutger Bregman, dessen Buch ich erst vor wenigen Tagen las. Und geht man von dieser Prämisse aus, so Bregman, sei es möglich, die Welt und uns Menschen in ihr komplett neu und grundoptimistisch zu denken. Dafür müssten wir uns aber zunächst darüber bewusst werden, wie wir werden konnten, wer wir heute sind. Und da wären wir wieder, bei der Reflexion. Dem Innehalten. Dem kritischen Hinterfragen. Man kann aus der Vergangenheit und aus Fehlern lernen. Wie sich an den Wahlergebnissen im November in den USA sehen lässt. Die Niederlage Trumps, als Sieg der Vernunft?! Vielleicht. Es wird sich zeigen. Aber zumindest, und da pflichte ich Bregman bei, haben wir es zu einem nicht unwesentlichen Teil selbst in der Hand. Den Lauf der Dinge mitzugestalten. “Wir” im Sinne der Gesellschaft, in der wir leben. Wohl auch als Einzelne, aber insbesondere, als Teil des Ganzen, der Zusammenhänge. So schreibt Wolfram Eilenberger: „In Ketten leben“ – zunächst ein Urbild menschlicher Unfreiheit. Auf einer weiteren Bedeutungsebene aber auch kraftvoller Ausdruck einer Vision kosmischer Allverbundenheit”. Das mag für die ein oder andere etwas esoterisch anmuten, beschreibt aber in meinen Augen doch recht treffend das bei mir, in diesem Jahr entstandene, durchaus ambivalente Gefühl. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.


So hat sich mir sogar gezeigt, dass Verbundenheit manchmal durch eine gewisse Abhängigkeit erst entstehen kann. So wäre dieser Podcast nicht möglich, ohne die Menschen, die an ihm mitwirken. Dazu zählt ganz besonders Edu Alcaraz, der als Co-Redakteur nicht nur meine geschriebenen Worte sorgfältig prüft, sondern auch selbst durch seine klugen Gedanken einen wesentlichen Teil beiträgt. Nicht denkbar, wäre der Podcast zudem, ohne die technische Unterstützung durch Jan-Marius, der durch sein Geschick Schnitt und Ton perfektioniert, wie auch Ricarda, die alle technischen Fäden im Hintergrund zieht. Ganz besonders freuen, tut mich auch die noch recht junge Bereicherung des Podcast, durch eine größer werdende Zahl an Gastautorinnen und -autoren. Dazu zählen in diesem Jahr Manuel Scheidegger, Isabell Leverenz und Katharina Walser. Bedanken möchte ich mich zudem bei allen Gästen, die für Gespräche in diesem Jahr zur Verfügung standen. 25 Stimmen waren es insgesamt – ich habe es nachgezählt. Mein größter Dank gilt aber wohl den Hörerinnen und Hörern des Podcast. Euch, die ihr mir und uns euer Ohr wie Zeit schenkt. Ohne euch wäre Sinneswandel quasi sinnbefreit. 

Und, um noch einmal kurz zum Thema Abhängigkeit und Verbundenheit zurückzukommen, 2020 war zudem auch das erste Jahr, in dem wir uns unabhängig von Werbeeinnahmen gemacht haben. Und zwar durch oder eher dank euch. Dank all denen, die sich dazu entschlossen haben, als Fördermitglieder den Podcast finanziell zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt, an dem ich diese Worte einspreche, zählt Sinneswandel 173 Mitglieder. Nur auf Steady wohlgemerkt. Ebenso dankbar sind wir natürlich auch für die Beiträge, die uns via Paypal oder Überweisung erreichen. Danke, dass ihr (einen) Sinneswandel möglich macht. Dafür verspreche ich auch hoch und heilig, dass wir weiterhin bemüht sein werden, spannende Beiträge, die zum Mitdenken anregen, für euch zu produzieren. 

Vielleicht ein kleiner Ausblick in 2021: Das Jahr einstimmen, werden wir mit einer Lobeshymne auf die Faulheit. Dem folgen, wird ein Plädoyer für Denkräume und neue Narrative wünschenswerter Zukünfte. Gemeinsam werden wir uns fragen, was es eigentlich bedarf, um Wandel voranzutreiben. Dabei werfen wir auch einen Blick in die Welt der Kunst, des Gestaltens schlechthin. Soweit der Plan. Änderungen vorbehalten. Bedeutet auch, wenn ihr Wünsche, Anregungen, Shitstorms und Liebesbrief loswerden möchtet, dann gerne an redaktion@sinneswandel.art. In diesem Sinne, bedanke ich mich fürs Zuhören und wünsche einen hoffentlich erholsamen Ausklang diesen turbulenten Jahres, wie auch einen erfrischenden Auftakt in 2021. Bis dahin, macht’s gut und bis bald, im Sinneswandel Podcast.

28. Dezember 2020

Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

von Ricarda Manth 16. Dezember 2020

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, so der italienische Philosoph und Marxist, Antonio Gramsci. Dieses Interregnum bezeichnet also einen Zustand des Transits in dem sich die neue Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig spricht Gramsci ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig spüren: das Sichtbarmachen. Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen, um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten, so Gastautorin Katharina Walser. Der Bruch könne uns helfen die Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und uns den veränderten Bedingungen anpassen, wieder in das Bewusstsein zu rufen.

Shownotes:
► Antonio Gramsci: Gefägnishefte.
► projektmagazin: Die Krise als Chance zur Transformation des Denkens und Handelns Silke Nierfeld.
► Süddeutsche Zeitung: Wenn das Virus auf gesellschaftliche Vorerkrankungen trifft Jana Anzlinger.
► ZEIT Magazin: Ein ganz normaler Herbst, nur anders Ilona Hartmann.
► vice: Wie du mit der Pandemiemüdigkeit klarkommst Leonardo Bianchi.
► Dlf Kultur: Wie tragfähig ist das neue „Wir“-Gefühl? Carolin Emcke im Gespräch mit René Aguigah.
► Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: Die Zukunft in der Krise Lisa Suckert.
► Süddeutsche Zeitung: Das Ende der Geschichte? Das Ende der Demokratie! Timothy Snyder.
► Dlf Kultur: Mit Paul Cézanne neues Denken lernen Hans Rusinek.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu denken.
► Geschichte der Gegenwart: Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs Thomas Macho.
► Nikil Mukerji und Adriano Mannino: Covid-19. Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

Wir sprechen oft mit größter Selbstverständlichkeit von Zeit. Von Altem, Vergangenem und dem Neuen, dem Zukünftigen. Sowie natürlich von der Gegenwart, dem Hier und Jetzt. Doch, wo, an welcher Stelle vollzieht sich der Übergang zwischen den besagten Zeiträumen? Wo endet die Vergangenheit und beginnt die Gegenwart? Und, liegt die Gegenwart nicht immer längst schon in der Vergangenheit, wenn wir von ihr sprechen? Man könnte meinen, die Zukunft, das, was noch im Werden begriffen ist, sie sei die einzig Greifbare. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit üblicherweise auf das richten, was kommt. Doch entzieht auch die Zukunft sich bei genauerer Betrachtung der Fixierung auf den Moment. So stellt sich die Frage, ob wir uns nicht immerzu in einem Zustand des Übergangs befinden. Im permanenten Wandel. Das Leben wird so gewissermaßen zum Transitraum. Doch liegt der Unterschied zu Wartezimmer oder Abflughalle wohl darin, dass wir uns im Leben an und für sich weniger als Wartende betrachten, als viel mehr als Handelnde oder Gestaltende. So warten wir üblicherweise nicht einfach auf die Zukunft, sondern evozieren sie bewusst. Zumindest, soweit uns das möglich ist. 

Aber genau dies scheint uns in aktuellen Zeiten abhanden gekommen zu sein. Die Zeit steht in gewisser Weise still. Die Zeiger der Uhren, eingefroren. Die Zukunft ungewiss. Die Vergangenheit, auch sie scheint kein Maßstab, keine Blaupause für das noch Kommende zu sein. Und die Gegenwart? Ja, die Gegenwart steht, wie gesagt still. So fühlt es sich zumindest an. Selbst, wenn die Zeit fortschreitet. Als sei die Welt im Interregnum zwischen Vergangenem und Zukünftigem eingefroren. Ein Bruch in der Zeit. Der den Übergang plötzlich sichtbar macht. Das, was wir sonst nur allzu selten wahrnehmen. Vielleicht des schwindelerregenden Impetus unseres Zeitgeist wegens. Blicken wir nun geradewegs in die Öffnung, den Spalt, der sich aufgetan hat. Und, die aufmerksame Hörerin ahnt es wohl bereits, dass der besagte Bruch, so beängstigend er auf den ersten Blick auch scheinen mag, uns keineswegs nur eine Betrachtungsweise offen lässt. Sicherlich, wer angstvoll in eine pechschwarze Schlucht hinab blickt, der mag wohl kaum in der Lage sein, kühne Zukunftsvisionen zu ersinnen. Hilfreicher könnte es dagegen sein, sich Kintsugi ins Gedächtnis zu rufen. Eine traditionelle Japanische Reparaturmethode. Bei dieser Kunstfertigkeit wird gesprungenem oder gar zerbrochenem Keramik im Prozess des Vergoldens neues Leben eingehaucht. Auch, wenn bei dieser kulturellen Praxis wohl vornehmlich die Ästhetik vordergründig ist, so lässt sich die metaphorische Betrachtung des Bruchs als Potenzial eine neue Sichtweise zu etablieren, gar etwas noch Wertvolleres zu schaffen, vielleicht für unsere gegenwärtige Situation nutzbar machen.

Wie das gelingen kann, darüber hat Gastautorin Katharina Walser einen Essay verfasst. Katharina hat allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der LMU München studiert. Seit ihrem Forschungsprojekt zur „Zwischengeschichte“, für das sie ein Semester an der Yale University verbrachte, beschäftigt sie sich intensiv mit den poetischen Dimensionen von Zwischenräumen. Die Faszination für den Bruch und den Wandel begleitet Katharina also bereits eine ganze Weile.

Bevor wir allerdings einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Wie ihr Mitglied werdet und teilnehmt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

Am 16. November 2020, im Jahr der Covid-19 Pandemie, veröffentlicht die Kölner Band AnnenMayKantereit ihr viertes Studio Album mit dem schlichten Titel „12“. Im Rolling-Stone Magazin heißt es das Album sei Corona Verarbeitung „aus Bildungsbürgerhausen“. Man kann von den melancholischen Anklängen und den zuweilen sehr großen Fragen in diesem „Echtzeit Album“ halten was man möchte, doch haben sie unabhängig von einem künstlerischen Werturteil vermutlich recht, wenn sie in ihrem 40-sekündigen Vorspiel in Chant-artiger Manier singen: „So wie es war, so wird es nie wieder sein“. Was hier den Ton angibt ist die Trauer für eine gekannte, vergangenen Welt und die Angst gegenüber einer ungewissen Zukunft, so singen sie an anderer Stelle: „ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“. Der Titel des Albums gibt Aufschluss über die besondere Wahrnehmung der Gegenwart aus welcher die Zeilen sprechen: die Wahrnehmung der Gegenwart als Endzeit. Die warnende Floskel „5 vor 12“ hat ausgedient, es ist bereits „12“. Mit dieser Metapher des Zeniths der Mittagsstunde wird sowohl die Vorstellung des Höhepunkts einer dramatischen Situation auf den Plan gerufen, wie die Bewegung des Übergangs. Um 12 befinden wir uns in der Zwischenzeit, an der Grenze zwischen Vor- und Nachmittag. Doch bleibt die Zeit selbstverständlich auch in diesem Zwischenzustand in Bewegung. So lässt sich diese Zwischenzeit neben der Markierung eines Höhepunkts auch durch das Ereignis des Umschwungs charakterisieren. Eine solche gleichzeitige Bewegung der Zuspitzung und des Übertritts bestimmt auch das Moment des Jahres: das Moment der Krise.

Die Krise, aus dem altgriechischen krísis, heißt zunächst Entscheidung oder auch Meinung. Ursprünglich im Bereich der Medizin wurde mit der Krise dasjenige Moment bezeichnet in welcher eine Symptomatik einen Höhepunkt erreicht. In diesem Moment entscheidet sich der Verlauf der Krankheit zu einer radikalen Verbesserung oder Verschlechterung des Zustands der Patientin. Erst im Laufe des 17.Jahrhunderts findet der Begriff in einem Konflikt zwischen britischem Königshaus und Parlament Einzug in die Sprachwelt der Politik. Erst sehr viel später verwenden wir ihn für wirtschaftliche Wendepunkte oder Dramengeschehnisse im Privaten.

Antonio Francesco Gramsci, ein italienischer Philosoph, Marxist und Politiker, schreibt in seinem Hauptwerk, den sogenannten Gefägnisheften:  „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“. Auch dieses Interregnum bezeichnet also einen Zwischenzustand, zwischen vergangenen und kommenden Strukturen, einen Zustand des Transits in dem sich die Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig sprechen diesen Zeilen Gramcis ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig zu spüren bekamen: das Sichtbarmachen.

Auch wenn wir noch nicht absehen können in welche Richtung unsere Welt nach dieser akuten Krise kippt, so bleibt im Moment dennoch eines: den Bruch nach bestem Wissen und Gewissen in der Reflexion produktiv zu machen. Dies erfordert eine genaue Betrachtung der Strukturen unserer Gesellschaft, welche unter dem Vergrößerungslas der Krisensituation neu erfahrbar und in ihren Problematiken akzentuiert werden. So versieht die Transformationsexpertin Silke Nierfeld ihren im Mai im projektmagazin veröffentlichten Artikel zur Krise als Chance mit einem Beititel, der sich beinahe als Antwort auf AnnenMayKantereits Tonus der Verabschiedung lesen lässt: „Es soll nicht wieder so werden, wie es vorher war.“ Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten.

Anfang dieses Jahres, oder, wie es so oft heißt „im ersten Lockdown“, hörte man viele solcher Stimmen, die angesichts der Herausforderungen in der Pandemie schnell von Chancen, Möglichkeiten und Aufschwüngen durch die Verlangsamung der Krise sprachen. Man sprach von Entschleunigung, Rückbesinnung und Fokussierung auf das Wesentliche. Die Journalistin Jana Anzlinger schreibt im Juni über diese verfrühte Ideenschmiede im Angesicht der akuten Probleme mit der Verbreitung des Covid-19 Virus in der Süddeutschen Zeitung: das Gerede von Chancen sei ausschließlich ein Privileg derer, die weniger von der Krise betroffen seien und die das große Leid der Pandemie durch ihre schillernden Zukunftsvisionen verkennen würden. In ihrem Artikel heißt es, es helfe „nicht weiter, wenn Bessergestellte abgehoben von der Krise als Chance schwadronieren – Bessergestellte, die sich bequem ins Home-Office zurückziehen konnten, was all den Kassierern, Krankenpflegern und Paketbotinnen nicht vergönnt war. Menschen in schlechter entlohnten Berufen stehen stärker denn je unter Druck und sind besonders vom Virus gefährdet.“ 

Mit dem Ende des ersten Lockdowns schienen die Reden von Chancen abzuflachen, das Gefühl der Handlungsfähigkeit nahm ab und der Wunsch nach der Welt, die abhanden kam, schien die Stimmungen und Schlagzeilen zu dominieren. Die Autorin Ilona Hartmann hält in ihrem Beitrag in der November-Ausgabe des ZEIT Magazins dieses lähmende Gefühl des Herbsts und der sogenannten zweiten Welle fest: „Wie flauschig wirkt rückblickend der erste Lockdown: Man legte sich auf eine Matratze aus Bananenbrot und wartete auf den Sommer.“ Dieses Gefühl des geduldigen Wartens scheint einem Kampf gegen die allumfassende Hoffnungslosigkeit gewichen zu sein. So schreibt Hartmann süffisant: „Herbstspaziergänge sind eine perfekte Gelegenheit, um sich an der frischen Luft Sorgen zu machen.“ Ähnlich beschreibt es der Journalist Leonardo Bianchi im vice Magazin: Wir befänden uns in einem allgemeinen Gefühl der „Pandemiemüdigkeit“. Er verweist darauf, dass laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation 60% aller Befragten angaben von den Regulierung zur Eindämmung des Virus erschöpft zu sein. Der Psychologe Renato Troffa erklärt, dass das Risiko existiere, „gelernte Hilflosigkeit” zu entwickeln. Dieses Phänomen entstehe, wenn wir glauben, einen negativen Zustand überwunden zu haben und dann dennoch erneut damit konfrontiert werden. So verlieren wir das Kontrollgefühl über die Dinge. Hartmann kommentiert weiter humorvoll, wie die geschmiedeten Pläne des Frühjahrs einem kühlen Realismus weichen mussten: „Horoskop für den zweiten Lockdown (gültig für alle Sternzeichen): Nein, du wirst auch dieses Mal den Zauberberg nicht lesen: „Vielleicht ist nun gerade fern von einem Duktus der Abgehobenheit aus der Überforderung und Frustration heraus ein Wille für das neu Denken und Handeln zu schöpfen, eine Kraft freizusetzen, welcher der Philosoph Slavoj Žižek einen Buchtitel widmet: der Mut der Hoffnungslosigkeit. Fern vom Gerede der Selbstoptimierung unter einem Kreativitäsimperativ, der unseren ersten Lockdown zu bestimmen schien und welcher lediglich die Dogmen des Kapitalismus und seine Gebote zur Produktivitätssteigerung vom Büro in unsere Wohnzimmer verlagerte.

Die Frage ist also: Wie können wir aus der anfänglichen Euphorie und dem wachsenden Gefühl von Handlungsunfähigkeit, angesichts der vielen Realprobleme in andauernden pandemischen Zeiten, zu einem produktiven Diskurs zurückfinden, in dem wir das Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückerlangen? Hierzu lohnt sich ein genauerer Blick auf das Paradigma des Bruchs.

Kommen wir hierfür zunächst zurück zur angesprochenen Sichtbarmachung. Gramscis Formulierung zur Hervorbringung von Krankheitsbildern in der Krise bezieht sich deutlich auf ein Hervortreten einer Symptomatik. Klar ist die gesellschaftlichen Erkrankungen, die der Ursprung dieser Symptome sind, liegen schon wesentlich länger vor und sie speisen sich aus einer Vielzahl von Ansteckungsmomenten. Im Bruch mit der bekannten Lebensweise wird deutlich, welche im weitetesten Sinne “Erkrankungen” unserer Lebenswelt wir bisher wenig oder nicht deutlich genug in den öffentlichen Diskurs geholt haben. Wie das angelernte Konsumverhalten, die Unsichtbarkeit der physisch aber vor allem psychisch Kranken, die Ignoranz mit der wir den Alten in unserer Gesellschaft begegnen, die ungleichmäßige Verteilung der Löhne, die unzeitgemäße Ausstattung unserer Bildungsstätten. Die Liste ließe sich so fortführen. In der Krise rücken diese Themen nun in den Vordergrund. Von der Diskussion um schlechtbezahlte Pflegekräfte, über die kursierenden Nummern von Notfalltelefonen und Ersthilfen für häusliche Gewalt, zur Salonfähigkeit des Gesprächs über Mental Health. Im Angesicht der Gefahr und der gemeinsamen Erfahrung des in den privaten Raum Verbanntseins, erleben wir diese Probleme nicht mehr nur als abstrakte Phänomene einer von uns unterschiedenen oder außerhalb liegenden Gesellschaft, sondern wir erleben uns als Betroffene und Abhängige in einem System, das in vielen Bereichen nicht mehr auf unsere Bedürfnisse oder Lebensweisen ausgerichtet zu sein scheint.

Die Unausgeglichenheit des gesellschaftlichen Systems wird nicht zuletzt deutlich in den Maßnahmen, die in der Krise getroffen werden. In den Prioritäten, welche der Staat in Form von Finanzpaketen setzt: Schnell ist klar, dass nicht nur bestimmte Familienmodelle in den Hilfspaketen weniger berücksichtigt werden als andere. Auch ganze Bereiche der Gesellschaft, wie Kunst und  Kultur, werden unter dem Schlagwort der Systemrelevanz oder  unter dem Label der “Freizeitgestaltung” als mindestens zweitklassig deklariert. Diese staatliche Privilegierung oder gar Ausklammerung provozieren die Frage: Welcher Wert wird den verschiedenen Bereichen unseres Lebens bisher beigemessen? Und welchen Wert wollen oder sollten wir ihnen in Zukunft zugestehen?

Neues Potenzial bietet die akute Krise zunächst darin, dieses wir überhaupt vorstellbar zu machen. Insofern konfrontiert uns die Pandemie mit dem Problem widerstreitender Kollektivierungsbewegungen. Die Epidemie führt uns die Diskrepanz des Globalen vor Augen. Die Diskrepanz einer Welt, die im digitalen Raum und im Warenverkehr längst näher zusammengerückt ist, aber eine Form der globalen Solidarität, einer ethischen Verbindung im Gefühl nicht standhalten kann. Diese Diskrepanz betont auch die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke in einem Beitrag im Deutschlandfunk „es [gibt] die Wahrnehmung eines globalen Wir, wie es das vielleicht in der Form so vorher noch nicht gegeben hat“. Dennoch gilt es dieses Gefühl gesellschaftlich tragfähig zu machen, gerade vor dem Hintergrund identitärer Politik, die immer in Krisenzeiten die Spaltung von wir zu den Anderen zurückfordert. Die Krise scheint uns neue Möglichkeiten zu eröffnen, gerade in der Vorstellung einer gemeinsamen Aufgabe, oder eines gemeinsamen Gegners als Virus. Möglichkeiten uns darin zu üben uns als globale Gemeinschaft zu verstehen. So sind beispielsweise die menschenunwürdigen Bedingungen des zu Beginn des Jahres noch größten Lagers für Geflüchtete Personen in Europa, Moria, erst in Zeiten der Pandemie und der dort explosionsartig gestiegenen Zahlen von Covid Infektionen wieder in das Auge der medialen Öffentlichkeit gelangt. Die Schwierigkeit aber eben auch die Chance der Krise liegt darin, ein Wir nicht nur als Gemeinsames dessen zu denken, dass wir alle mit derselben Katastrophe umzugehen haben, sondern auch über eine Solidarisierung. Eine Solidarisierung mit jenen, die von dieser, wie im Übrigen von all den anderen Krisen, als erste und am stärksten getroffen werden. Ein Kollektiv kann so nicht nur im Sinne der Gleichheit gedacht werden, sondern auch und vor allem im Sinne einer Gemeinschaft der Diversität von Lebensumständen.

Unabhängig von einem Werteurteil der bisherigen sogenannten Corona-Politik, hat die Krise vor allem gezeigt, dass wir Handlungsspielraum besitzen die Potenziale ökonomischer, wie sozialer Umwälzungen auszuschöpfen. Vor dem Hintergrund der Schnelligkeit und Radikalität getroffener Entscheidungen, die unter der Absolution des Notstands in diesem Jahr möglich waren, zeigt sich die alte Rede von alternativloser Politik als Ammenmärchen der Konservativen. Ebenso deuten diese Entscheidungen die Menge an politischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten unseres Lebens an, wenn wir in der Lage sind anderen Herausforderungen der Gegenwart mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu begegnen, wie wir es im Angesicht der Pandemie tun.

Die Krise ist wie die Zahl 12 auf der Uhr, ein imaginärer Umschlagplatz. Insofern als sie im Bruch mit dem gewohnten Fortgang der Dinge, die Vorannahme der Gleichförmigkeit des Lebens als falsch entlarvt. Das Potenzial dieses Bruchs liegt in der doppelten Codierung dieser imaginierten Grenzlinie: Indem wir in der Lage sind anhand dieser Linie des Krisenmoments die Geschehnisse in ein Vergangenes und ein Kommendes zu gliedern. Ebenso, wie in der Realisierung dessen, dass ein stets gleichbleibendes System nicht der Natur der lebensweltlichen Dinge entspricht, die unter ihm geordnet werden sollen. Der Bruch kann uns helfen diese Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und unsere Ordnungssysteme den veränderten Bedingungen von außen und veränderten Bedürfnissen von innen anpassen müssen, wieder in das Bewusstsein zu holen. In der zuvor diskutierten direkten Erfahrbarkeit durch den Bruch mit dem gewohnten Fortgang, kann die Chance liegen die relevanteste Aufgabe in Krisenzeiten zurück in den gesellschaftlichen Diskurs zu holen: Zukunft denken.

Lisa Suckert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung. Dieses Jahr veröffentlichte sie einen Beitrag mit dem Titel Die Zukunft in der Krise. Darin schreibt sie: „Vielen Menschen scheint mit dem Ausbruch des Coronavirus ihre Zukunft abhandengekommen zu sein. Vormals gültige Pläne, Routinen, Hoffnungen und Ziele sind in vielen Lebensbereichen hinfällig geworden.“ Gerade deshalb braucht es nach Suckert im Umgang mit der Krise „gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zukunftsentwürfe ebenso wie Impfstoffe oder staatliche Überbrückungsmaßnahmen“. Die Krise, das ist ein unerwartetes Ereignis. „Um jedoch überhaupt erst als „unerwartet zu gelten, bedarf es aber etablierter Erwartungen, von denen diese Ereignisse abweichen können. Erst vor dem Horizont vermeintlicher Planbarkeit, die moderne Gesellschaften kennzeichnet, kann das Unvorhergesehene überraschen.“ Suckert denkt den Bruch also im Sinne dieser genannten Illusion der Gleichförmigkeit von Welt. Die Krise ist als Bruch nach Gramscis Entwurf eben nicht mehr als „stabile Verlängerung der Vergangenheit zu denken“. Dieses ins Wanken geraten der Vorstellungen aus der Vergangenheit, das Beben des bekannten Bodens, das irritiert nicht nur viele, es hinterlässt Angst vor einer Welt im Kommen, deren Organisationsstrukturen man nicht kennt. Gerade deshalb ist es wichtig mögliche Perspektiven vom Bruch in die Zukunft zu denken. Für gewöhnlich – und auch das sehen wir in der aktuellen Krise – wird das Gegenteil getan und eine Unmenge an Energie in die Widerherstellung des Bekannten investiert .

Der Historiker und Professor für Geschichte an der Yale University, Timothy Snyder, nennt diese Art des Festhaltens an bekannten Formen der Lebensgestaltung die ‚Politik der Unvermeidbarkeit‘. Im Zusammenhang mit einer Form der Krise, die jedoch zu der der Corona Pandemie, des Klimawandels und auch der des Kapitalismus untrennbar in Beziehung steht, nämlich die Krise der Demokratie, spricht Snyder von einem Narrativ der Unbedingtheit: „Die logische Schlussfolgerung dieses Narrativs, das von den Neunzigerjahren bis in die frühen 2000er überdauerte, lautet, dass alle anderen mit der Zeit zunehmend so werden wie wir. Dass wir zunehmend werden wie wir. Dass Demokratie unvermeidlich ist“. Innerhalb eines solchen Konzepts ist es die Vorstellung von Zukunft, an  der es Politik und Gesellschaft mangelt. Mit den nationalistischen und populistischen Strukturen, die in den vergangenen Jahren Europa und die USA erschüttern, habe sich allerdings gezeigt, dass eine solche Vorstellung von Unbedingtheit nicht haltbar ist. „Stattdessen hat sich das Gefühl eingestellt, dass sich mithilfe antidemokratischer Argumente Wahlen gewinnen lassen. Diesen Moment des Schreckens, in dem niemand wirklich von der Zukunft spricht, in dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen und in einer Gegenwart des „Wir gegen die“ gefangen sind.“ Das, so Snyder, sei die ‚Politik der Ewigkeit‘. Snyder schreibt weiter, dass sich die Probleme der Demokratie, die Krise der westlichen Welt, in einem Satz am besten darstellen lasse: „Die Zukunft ist verschwunden.“ Denn wenn „wir keine Vorstellung mehr von der Zukunft haben, wenn wir nicht mehr mannigfaltige Ideen davon haben, was noch kommen könnte und welche dieser Zukunftsversionen besser ist, dann ist es für die Menschen sehr schwierig, sich involviert zu fühlen“. Eine solche Politik ohne Zukunftsvisionen, die weiter ungeachtet der Widrigkeiten versucht unter den Prinzipien des letzten Jahrhunderts, wie dem Diktat zu stetigem und linearem Wachstum, kann unmöglich mit den Wandlungsprozessen einer modernen Welt mithalten. Er sieht zwei mögliche Reaktionen: eine ‚Politik der Katastrophe‘, die immer nur momentanes Krisenmanagement betreibt, unter den Dogmen des Fortschrittsgedankens, die allerdings keinen ernstzunehmenden Kurs der Krisenvermeidung einschlägt. Oder aber eine hoffnungsvolle ‚Politik der Verantwortlichkeit‘, die möglichen Versionen der Zukunft entwirft und sich dem Wiederherstellungsdrang von ausgedienten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modellen aktiv widersetzt.

An einer Politik oder schlicht an der Vorstellung von Wiederherstellung festzuhalten, wäre nicht nur reaktionär, sondern würde auch weiterhin Tür und Tor für Formen der Radikalisierung öffnen. So bezieht sich der Publizist Hans Rusinek in einem Gastbeitrag im Politischen  Feuilleton des Deutschlandfunks auf eine Fehlfokussierung des Diskurses in Zeiten von Corona: „Wir reden von der guten Ordnung, den etablierten Organisationen und deren Sinn – aber nicht von Ordnen, Organisieren und Sinnstiften.“ So liefen wir Menschen in die Arme „die etwas Vergangenes great again machen wollen“. Auch die Autorin und Politökonomin Maja Göpel formuliert diese Gefahr in ihrem Buch Unsere Welt neu denken: „Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt.“ Und auch diese Strukturen konnten wir im Zuge des Pandemiegeschehens bereits beobachten, zum Beispiel als Spaltungsphänome zwischen Querdenkern und Befürwortern der politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Vor dem Hintergrund, dass die akute Krise von Populisten und Neoliberalisten wieder genutzt wird, um beispielsweise in nationalistischer Manier das eigene Handeln durch den Ländervergleich von Strategien und Todeszahlen aufzuwerten, lohnt es sich die Funktionsweisen regressiver Rhetoriken zu überdenken. Die Krise ist eben auch, wie es in der von Žižek paraphrasierten Version der eingangs zitierten Gramsci Passage heißt, „die Zeit der Monster“. Vor diesen Phänomenen wird die Dringlichkeit deutlich, statt einer reaktiven Abwehr, wie Göpel formuliert, proaktiv Zukunftsversionen zu bauen. Nicht nur gesundheitspolitischen und wirtschafltichen Fragen ließe sich dann neu begegnen, sondern auch den klimatischen und sozialen Fragen unserer Gegenwart. Wie Göpel schreibt, ist „unsere heutige Welt eine fundamental andere als vor 250 Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wird heute vorwiegend mit der damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen.“ Eine neue und progressive Handlungsmacht muss sich zunächst im Denken formulieren. Auf die Fragen wann der Alltag wieder zurückkehrt, die Wirtschaft sich wieder stabilisiert und alles wieder im Lot sei antwortet Hans Rusinek: „Vielleicht wenn wir verstehen, dass das wahre Problem in dieser Art zu fragen und zu denken steckt: Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik“. Wie unabdingbar eine solche Erneuerung im Denken für unsere Gegenwart ist, formuliert auch der Philosoph und Direktor des Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien, Thomas Macho. Er betont, dass die Pandemie als Krise durch ihren andauernden Zustand ihren Ereignis Charakter verliert und nicht zuletzt unsere Gegenwart als Zeit der langfristigen Krisen in Erinnerung ruft. „Pandemien gehören – ebenso wie Migrationen und man könnte den Klimawandel ergänzen – zur longue durée menschlicher Geschichte.“ Und auch wenn es vermutlich vermessen und naiv wäre zu behaupten, dass wir nach der Corona-Krise eine allumfassende Neucodierung unserer Gewohnheit halten könnten, so birgt der Bruch Potenzial, sofern er für Zukunftsbildung in Gedanken und Handlungen produktiv gemacht wird. Wenn wir in der Lage sind uns auf das „ständige nachjustieren“ einzulassen, wie es die Philsophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in ihrem Band Über Philosophie in Echtzeit als Aufgabe in der Krise betonen.

Der Bruch als Krise zeigt sich also nicht als singuläres Moment, nach dessen Überwindung wir zum Gewohnten zurückkommen werden. Er schärft dagegen unseren Blick für eine Welt im stetigen Wandel, in der wir unsere Bedürfnisse und die Mittel, mit denen wir deren Erfüllung suchen, immer wieder aufs neue Überdenken müssen. Um letztlich den Bedingungen unserer Umwelt und uns selbst gerechter zu werden. Wenn wir verstehen, dass nicht die Anomalie im gewohnten Fortgang die Gefahr birgt, sondern die Vorannahme, dass wir in einer Welt der Regelmäßigkeiten lebten, der eigentliche Fehler im System unseres Denkens ist. Dann können wir die Krise als Möglichkeitsraum begreifen. Als Möglichkeitsraum, in dem wir das Gefühl für unsere Handlungsfähigkeit erneuern und neue Wege beschreiten können, um uns wieder als gesellschaftliche Mitgestalter:innen einer wünschenswerten  Zukunft zu erkennen. 

Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

16. Dezember 2020

Dominik Bloh: Wohnen, ein Menschenrecht?!

von Ricarda Manth 8. Dezember 2020

“Wir bleiben Zuhause” – dies war und scheint nach wie vor der Appell der Stunde zu sein. Ein Zeichen der Solidarität. Zum Schutz, nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch der anderen. So richtig diese Schutzmaßnahme zur Kontaktvermeidung auch ist, scheint sie eines nicht mitbedacht zu haben: Was ist mit jenen, die kein Zuhause ihr Eigen nennen können? 542.000 Menschen waren in Deutschland nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2018 wohnungslos. Welch Hohn schwingt plötzlich in dem Satz mit, “Wir bleiben Zuhause”. Sie leben im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft – unsichtbar, bestätigt auch Dominik Bloh, der selbst lange Zeit auf der Straße lebte. Heute betreibt er “GoBanyo”, einen Duschbus für Wohnungslose in Hamburg.

Shownotes:
► Unterstützt den Duschbus GoBanyo.
► Auch die Kampagne #wärmegeben der Hamburger Initiative Hanseatic Help braucht Hilfe.
► Bei der Caritas finden Betroffene von Wohnungslosigkeit Hilfe sowie ehrenamtlich Helfende Einsatzmöglichkeiten.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

8. Dezember 2020

JJ Bola: Was bedeutet Mannsein heute? (EN)

von Ricarda Manth 3. Dezember 2020

JJ Bola zufolge, befindet sich das Bild „des Mannes“ nach wie vor in einer Krise – vielleicht sogar mehr denn je. In Zeiten von Trump, #MeToo und den Incels, scheint Männlichkeit kein positiver Begriff mehr zu sein. Darum sucht der im Kongo geborene Autor und Aktivist nach Auswegen aus dieser Krise. In seinem Buch “Mask off – Masculinity redefined” versucht er aufzuzeigen, wie vielfältig und fluide Maskulinität sein kann. Dabei hebt er immer wieder hervor, dass obgleich Männer in einem patriarchalen System in vielerlei Hinsicht privilegiert sind, dennoch massiv unter selbigem leiden. Weil auch sie in Rollenbilder sozialisiert werden, die es ihnen nicht immer erlauben, die Art Mann/Mensch zu sein, der sie sein wollen. Feminismus ist also bei weitem keine reine “Frauenangelegenheit”, so JJ Bola. Denn auch Männer würden von dem Durchbrechen patriarchaler Strukturen profitieren. Wie ein Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft, sich frei entfaltender Individuen aussehen kann, darüber hat Marilena Berends sich mit dem in London lebenden Autor JJ Bola ausführlich unterhalten.

Shownotes:
► Sei kein Mann von JJ Bola, erschienen 08/2020 bei Hanser Literaturverlage.
► Leseempfehlung: Judith Butler: Gender Trouble.
► Pro_feministischer Blog, der sich insbesondere mit Kritischer Männlichkeit befasst.
► Hilfetelefon für von Gewalt betroffenen Männern sowie Angehörigen.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

3. Dezember 2020

Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

von Ricarda Manth 24. November 2020

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer.

Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als PionierInnen mit 10€ im Monat unterstützen: Anja Schilling, Christian Danner, René Potschka, Bastian Groß, Pascale Röllin, Sebastian Brumm, Wolfgang Brucker, Philip Alexander Scholz, Holger Bunz, Dirk Kleinschmidt, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Robert Kreisch, Martin Stier, Susanne Längrich, Annette Hündling, Deniz Hartmann, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Birgit Schwitalla, Heinrich Ewe, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Daniela Lange und Andreas Tenhagen.

Shownotes:
► Unterstützt die Organisation Ciocia Basia, die ungewollt Schwangeren aus Polen helfen, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen.
► Heinrich Böll Stiftung: Zum Recht auf Abtreibung in Polen.
► Spiegel: Abtreibungen und Frauenbild.
► Zeit Online: Verfassungsgericht verbietet Schwangerschaftsabbruch bei kranken Föten.
► The Guardian: A backlash against a patriarchal culture.
► Zeit Online: Vertraut den Frauen.
► bpb: Die Paragrafen 219 und 218 Strafgesetzbuch machen Deutschland zum Entwicklungsland.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art


Transkript: Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

Die Stimmung ist angespannt. Nur wenige Tage vor dem “Internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” wird sich weltweit auf Aktionen und Proteste vorbereitet. Trotz der schwierigeren Bedingungen versuchen Frauen den öffentlichen Protest in Zeiten von Versammlungs- und Kontaktbeschränkungen zu verteidigen. Denn auch in diesem Jahr gibt es viele Gründe, sich gegen die ökonomische Ungleichheit und gegen männliche, patriarchale Gewalt und Machtverhältnisse aufzulehnen: Ausbeutung, Diskriminierung, fehlende gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit, Bildung, Politik und Gesellschaft, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und Vergewaltigung. Der Körper der Frau als Zielscheibe patriarchaler Politik gehört alles andere, als der Vergangenheit an, wie sich auch anhand der kürzlich in Polen geplanten Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sehen lässt. Auch dort gehen sie auf die Straßen. Es wird vom “Protest der Frauen” gesprochen. Deren schwarze Kleidung zum Symbol des Widerstands wird, in einem Moment, in dem das Recht, als Frau über den eigenen Körper, das eigene Leben entscheiden zu dürfen, noch weiter beschränkt zu werden droht. 

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer. Der heutige Beitrag soll sowohl die Relevanz der Thematik unterstreichen als auch unsere Solidarität mit den Protestierenden in Polen bekunden. Verfasst hat ihn Gastautorin Isabell Leverenz, die sich bereits seit ihrem Studium der Kulturwissenschaften und Psychologie mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Verschränkungen, wie Rassismus und Sexismus befasst. 

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Vielen Dank.


»Wir haben genug«, »mein Körper, meine Entscheidung«, »To jest wojna – das ist Krieg«, heißt es auf zahlreichen Plakaten der Menschen – vorwiegend Frauen – die derzeit zu Zehntausenden in Polen demonstrieren. Mit »Krieg« ist der Krieg des Staates gegen die Körper von Frauen gemeint. Am 22. Oktober 2020 ist in Polen ein neues Gesetz in Kraft getreten, das es ungewollt Schwangeren fast gänzlich verbietet, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Ohnehin schon hatte das katholisch geprägte Land – neben Irland und Malta – eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Europäischen Union. Seit 1993 war in Polen ein Abbruch nur dann legal, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit oder das Leben der Mutter gefährdet, sie Folge einer Straftat ist, oder eine schwere und irreversible Beeinträchtigung des Fötus vorliegt. Mit dem neuen Gesetz gilt letzterer Grund nun als verfassungswidrig. Das heißt: Es zwingt Frauen dazu, ihre Schwangerschaft auch dann fortzuführen, wenn der Fötus entweder unheilbar erkrankt oder nicht lebensfähig ist. Es schränkt damit ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung noch weiter ein. Und – diesen Punkt möchte ich anmerken – das Gesetz adressiert zwar Frauen, betrifft aber in der Praxis Menschen mit Uterus, also auch trans-Männer und Personen mit nicht-binären oder intersexuellen Geschlechteridentitäten. 

Das Verfassungstribunal begegnet mit dem neuen Gesetz dem mit Abstand häufigsten Abtreibungsgrund in Polen: Etwa 95% aller legalen Schwangerschaftsabbrüche erfolgen wegen einer Fehlbildung oder einer schweren Erkrankung des Fötus. Für die regierende rechtskonservative PiS-Partei ein Verstoß gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf Leben. So drängen sowohl die PiS als auch die katholische Kirche schon seit Jahren darauf, das Recht auf Abtreibung weiter einzuschränken. Mit allen Mitteln: Um eine endgültige Durchsetzung des Abtreibungsverbotes zu erwirken, übergingen die Ultra-Konservativen eine parlamentarische Debatte und ließen das Gesetz auf direktem Wege durch das Verfassungstribunal ändern. Ein Tribunal, das sich seit der Justizreform 2015 und 2016 vorrangig aus Abgeordneten der PiS zusammensetzt. Damit wurde es politisiert und seiner Unabhängigkeit beraubt. Aus dem Polnischen übersetzt bedeutet PiS »Recht und Gerechtigkeit«. Welch Ironie. Gerechtigkeit – fragt sich, für wen? Mit dem neuen, de facto totalen Abtreibungsverbot verfügt eine männlich dominierte Instanz über die Rechte von Frauen und nimmt ihnen ihr dahingehendes Selbstbestimmungsrecht.

Trotz der durch die Pandemie herrschenden, erschwerten Protestbedingungen lehnen sich Menschen in ganz Polen vehement gegen die seit nun fast drei Jahrzehnten anhaltende Aberkennung der Rechte von Frauen auf und fordern den Rücktritt der Regierung. Allen voran, sind es insbesondere junge Frauen, die sich empört zeigen. Marta Lempart, eine der Köpfe der polnischen Frauenbewegung, reflektiert die Wucht des Widerstandes; sie sagt: »I think it is a whole backlash against a patriarchal culture, against the patriarchal state, against the fundamentalist religious state, against the state that treats women really badly«. Die Gegenbewegung zielt auf das Patriarchat als Obrigkeit der Kirche, als hierarchisches Gesellschaftssystem und auf das von Männern dominierte soziale System, in dem die Rechte der Frauen offenbar Rechte zweiter Klasse sind. Hiermit unterstreicht die Aktivistin den stark moralisch aufgeladenen Diskurs.

Das Abtreibungsgesetz in Polen greift die Rechte von Frauen an; es diskreditiert ihre körperliche Integrität und ihre Autonomie. Und: Es widerspricht dem weltweit anerkannten Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft. Die Aktivistin Sarah Diehl unterstreicht dies: »Unsere christlich-männlich und technokratisch geprägte Kultur macht aus einer Stärke der Frau, ihrer Gebärfähigkeit, eine Schwäche. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit«. Durch das Abtreibungsverbot werden ungewollt Schwangere in die Illegalität gedrängt – in Polen werden Schwangerschaftsabbrüche jährlich in mehr als 100.000 Fällen illegal durchgeführt. Es geht hier also nicht darum, ob eine Abtreibung stattfindet, sondern vielmehr: wie. Illegale Abbrüche werden zumeist unsachgemäß durchgeführt und sind daher lebensgefährlich für ungewollt Schwangere.

Schon seit Jahren plädieren christliche Fundamentalist:innen und Abgeordnete der PiS-Partei für das totale Abtreibungsverbot. Ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung des Fötus stellt für sie eine Form der »Eugenik« dar, so der genaue Wortlaut. Das neue Gesetz sei somit eine Chance, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu beenden. Die Ultra-Konservativen inszenieren sich hiermit nicht nur als Sprecher:innen von Menschen mit Behinderung, sie greifen gleichermaßen ein Ziel der Interessenpolitik der Frauen- und Behindertenbewegung heraus. Etabliert werden soll mit dem Verbot eine sogenannte »Willkommenskultur für Kinder«, ein Ausdruck, der nicht selten in Wahlprogrammen oder Ansprachen rechtskonservativer Politiker:innen auftaucht. Ich frage mich, kann das ein effektiver Weg sein? Sollte nicht eher auf gesellschaftspolitischer Ebene, anstelle auf individueller Ebene angesetzt werden? Sollten nicht eher mehr Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderung und ihre Familien aufgebaut werden? Sollte nicht eher dem bestehenden Ableismus, also der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, aktiver begegnet werden, damit bestehende, gesellschaftliche Barrieren abgebaut werden können, die letztlich die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit Behinderung maßgeblich beeinflussen? Und weiter: Es scheint mir nicht verwunderlich zu sein, dass jene Männer, die die Gesetze in Polen erlassen – die de facto keine Geburt am eigenen Leib und die Veränderungen im Körper erfahren haben – diesen intensiven Prozess, der nach der Geburt bei weitem nicht abgeschlossen ist, Frauen zumuten, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Als sei dies nun mal die Aufgabe der Frau, das Gebären. Und das nicht selten dazu gehörende körperlich und psychisch erfahrene Leid, eben ihre Bürde, die sie zu (er-)tragen hat. Ihr Leben gegen das des ungeborenen Fötus. Dass sowohl die eigentlich ungewollte Schwangerschaft als auch die Geburt Leid für die Betroffenen bedeuten können  und sie sich bei einer illegalen Abtreibung in Lebensgefahr begeben, scheint dem Ziel der polnischen Regierung, dem »Lebensschutz«, wie sie es ironischerweise bezeichnen, offenbar nicht zu entsprechen. 

Grundsätzlich halte ich  das Thema Abtreibung für eines, das im gesellschaftlichen Diskurs unmittelbar mit Trauer, Scham und Trauma verbunden wird. Es wird angenommen, dass Schwangere auf ihren Abbruch ausschließlich mit negativen Gefühlen reagieren. Bis auf wenige empowernde Ausnahmen – wie etwa die britische Fernsehserie »Sex Education« oder das Filmdrama »Niemals, Selten, Manchmal, Immer« – vermitteln Filme und Serien ein zumeist eindimensionales Bild: Die weiße junge cis-Frau, eingebettet in ein Schuld- und Schamnarrativ; also voller Zweifel und Schuldgefühle, sich fragend, ob der Eingriff die richtige Entscheidung war. Sozialwissenschaftliche Befragungen belegen jedoch das Gegenteil: Wenn ungewollt Schwangere die Chance auf eine Abtreibung haben, lassen sich ihre Gefühle nicht ausschließlich auf Trauer und Scham reduzieren; viele fühlen sich vor allem erleichtert und sind sich sicher, die für sich richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ein Schwangerschaftsabbruch ist mit Nichten gleichzusetzen mit einem Zahnarztbesuch, jedoch sollte in dem medialen Diskurs um Abtreibung berücksichtigt werden, dass Betroffene unterschiedlich mit ihren Erfahrungen umgehen. Eine differenzierte Betrachtung sollte dementsprechend auch in der Öffentlichkeit stattfinden – denn diese prägt massiv unser Denken.    

In nur wenigen Ländern gelten Schwangerschaftsabbrüche nicht als Straftat. Kanada etwa gilt als das Vorzeigebeispiel für einen liberalen Umgang mit dem Thema Abtreibung; es handelt sich hier um eine ärztliche Behandlung, die keiner staatlichen Einmischung bedarf.      In Deutschland werden Abtreibungen zwar unter bestimmten Voraussetzungen geduldet, sind aber gesetzlich als Straftat verankert. Der gesellschaftliche und politische Umgang mit dem Thema zeigt, dass Europa, so wie es sich gerne inszeniert, als Vorreiterin der Welt und als Hort der Geschlechteregalität, nicht so progressiv ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Um der Misslage in Polen zu begegnen, hilft die durch Spenden finanzierte Berliner Initiative Ciocia Basia ungewollt Schwangeren aus dem Nachbarland, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen. Das macht deutlich, wie dringlich die Situation für viele Betroffene ist. Die jungen Aktivist:innen in Polen rufen immer wieder »Solidarität ist unsere Waffe«. Deshalb halte ich es für wichtig, Organisationen wie Ciocia Basia, Pro-Choice-Bündnisse oder Initiativen für sexuelle Selbstbestimmung zu unterstützen. Vor allen Dingen aber ist ein gesellschaftliches Umdenken unabdingbar. »Trust women«, lautet einer der Slogan der US-amerikanischen Pro-Choice-Bewegung, angelehnt an den Abtreibungsarzt George Tiller. Er war es, der auf das frauenfeindliche Denken hinter den Abtreibungsverboten- und Debatten aufmerksam machte. Ginge es um die Sexualität und die Gebärfähigkeit, mangele es an Vertrauen gegenüber Frauen, weshalb Staat und Gesellschaft über sie und ihren Körper verfügen möchten, sobald sie schwanger werden. Was jedoch völlig fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass ungewollt Schwangere die kompetentesten Expertinnen in dieser Situation sind. Dass sie in der Lage sind, die Konsequenzen einer Mutterschaft, die nur sie tragen müssen, zu überblicken. Was fehlt, ist ein Raum, der sogenannte Tabuthemen wie Abtreibung, Fehlgeburten oder postnatale Depression anerkennt und damit sensibel verhandelbar macht. Ein Raum, der eine Schwangerschaft, die Mutterschaft oder Elternschaft von ihrem einseitigen Narrativ, dem als puren Glückszustand, löst. Es braucht mehr Information, mehr Dialog, mehr Verständnis und vor Allem braucht es mehr Autonomie für ungewollt Schwangere. 


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos sowie Quellen, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.


24. November 2020

Kunst und Kultur – (in Krisen) nicht systemrelevant?

von Ricarda Manth 18. November 2020

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und dem Vorgefundenen machen. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich.

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” kreist. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Diese Debatte verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt und hat hierzu einen Essay verfasst, der nun als erster Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcast erscheint.

Shownotes:
► Till Brönner’s Wutrede.
► Julian Nida-Rümelin über die Corona-Maßnahmen: Kulturzeit-Gespräch.
► Kunst, Kritik und Krise: NZZ-Kolumne von Konrad Paul Liessmann.
► Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960).
► Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis (2014).
► Alva Noë: Strange Tools: Art and Human Nature (2015).
► Amelie Deuflhard zum Theater-Lockdown: FAZIT-Beitrag.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art 
► sinneswandel.art

Transkript: Kunst und Kultur, (in Krisen) nicht systemrelevant?

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und den vorgefundenen Verhältnissen machen. Die gesamte menschliche Welt, sofern sie auf Aktivitäten und Leistungen des Menschen zurückgeht. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich. “Der Punkt, an dem der Mensch schon da ist, die Kultur aber noch nicht, ist ein theoretischer Nullpunkt.” So formulierte es kürzlich die Professorin Dr. Birgit Recki während einer Kulturphilosophie Vorlesung, der ich gespannt lauschte. 

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” zu kreisen scheint. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir als Menschen in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Eben dieser Debatte um Kultur und Systemrelevanz, verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt. Und ich freue mich sehr, dass er mit seinem Essay, den er zu diesem Thema verfasst hat, den ersten Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcasts veröffentlichen wird. In meinen Augen ein wichtiger Schritt, um Sinneswandel zu öffnen, als Raum zu Denken, der mitgestaltet werden möchte. Nicht nur durch meine Wenigkeit, sondern, der bereichert wird durch möglichst vielfältige Perspektiven und Gedanken von unterschiedlichen Gastautorinnen und -autoren. Über Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Einreichung von Beiträgen, ist auf der Website www.sinneswandel.art mehr zu lesen.

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn das Recherchieren und Produzieren des Podcast ist nicht nur zeitintensiv, sondern kostet, wie fast alles im Leben, auch Geld. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude mit dem Gastbeitrag von Manuel Scheidegger über Kultur und Systemrelevanz.


“Sowas wie heute habe ich noch nie gemacht. Muss daran liegen, dass ich ziemlich sauer bin. Seit Monaten schaue ich mir jetzt nicht nur an, wie eine gesamte Branche durch Corona lahmgelegt wird, sondern erlebe auch, wie auffällig verhalten und geradezu übervorsichtig Bühnenkünstler:innen sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern, obwohl ihre Existenz gerade fundamental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurückhaltung aus unseren eigenen Reihen für fatal, weil sie ein völlig falsches Bild der dramatischen Lage zeichnet, in der sich unser Berufszweig aktuell befindet. Und ich denke, es ist an der Zeit einmal klarzustellen, worüber wir gerade sprechen. Denn hier geht es nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um uns alle. Und es geht um Geld, viel Geld.” – Mit dieser Wutrede hat sich der bekannte Jazzmusiker und Kulturunternehmer Till Brönner am 27. Oktober dieses Jahres an seine Follower:innen gewandt. Ein Tag später hat die Bundesregierung offiziell verkündet, dass „Theater, Opern- und Konzerthäuser sowie ähnliche Einrichtungen“ bis Ende November in den Teil-Lockdown müssen. Ähnliche Einrichtungen, das sind solche, die ebenfalls „der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind“. Darunter fallen laut Beschluss der Bundesregierung auch Fitnessstudios, Freizeitparks, Spielbanken oder Bordelle. Diese Reihung hat – sagen wir es mal offen – Anlass zu Fragen gegeben.

Spielbanken und Bordelle sind gesellschaftliche Realitäten. Und es kann  – bei allen diskussionswürdigen Fragen, die sie aufwerfen  – sogar interessant sein, darüber nachzudenken, was Glücksspiel und Sexarbeit mit unserem Bedürfnis nach Kunst teilen. Auch gegen Fitnessstudios und Freizeitparks ist nichts einzuwenden. Aber ob Kultur wirklich nur der Ergometer des Grosshirns und Kunst eine Art Disneyland – nur mit Anspruch ist, darüber lässt sich streiten. Die Debatte, die Brönner sich gewünscht hat, ist durch den Beschluss lautstark losgetreten worden.

Zahlreiche Stimmen haben sich zu Wort gemeldet: Im Grundsatz waren sich alle einig. Die Pandemie muss natürlich bekämpft werden, Einschränkungen ergeben Sinn. Punkt. Aber bitte „in sich stimmig, halbwegs logisch“, forderte etwa der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida Rümelin und wunderte sich, dass in ICEs vier Personen an einem Tisch sitzen, während in Museen und Theatern weit ausgefeiltere Hygienekonzepte längst Maßstab waren. Warum sind Gottesdienste erlaubt, aber die Versammlungsfreiheit in der Kunst eingeschränkt? Ist Theater nicht eine säkulare Form jener Sinnsuche, die im Gottesdienst gesucht wird? Schließlich sei Theater doch wie die Liebe, zwar nicht existentiell, aber „lebensrelevant“, so der Intendant Stefan Märki. Etwas prosaischer ist da Brönners Hinweis, dass im Kultur- und Kreativbereich mehr Menschen als in der Automobilindustrie tätig sind. Und 2019 sage und schreibe über 170 Milliarden Euro umgesetzt wurden (vgl. Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft). Gegen solche Zahlen und überhaupt jede Idee, die Kunst zu Markte zu tragen, wetterte der Philosoph Konrad Paul Liessmann in der NZZ: Kunst war nie lebensrelevant und er zitiert den Spätaufklärer Karl Philip Moritz: „Das Nützliche ist der Feind des Schönen.“ Wer Kunst retten will, so Lissmann, „sollte unverblümt einbekennen, dass es Menschen gibt, die etwas brauchen, das zu nichts zu gebrauchen ist.“ Nicht einmal zum Leben? Und auf keinen Fall zur Gestaltung von Freizeit? Aber wozu dann?

Die Frage ist brisant. Denn in der Debatte um die Systemrelevanz von Kunst haben sich bereits die ersten Entscheidungen eingeschlichen: So hat die Stadt Bamberg schon angekündigt, die Mittel für Kultur im nächsten Jahr um 25% zu streichen. Da nützt es dann auch nichts mehr, dass die Kulturstaatsministerin Monika Grütters Kultur als „systemrelevant“ bezeichnet, „weil sie das kritische Korrektiv in unserer Gesellschaft“ ist. Wer braucht schon ein kritisches Korrektiv, wenn die Zeiten selbst kritisch sind?

Für viele ist Kunst und Kultur wieder einmal dort angekommen, wo sie zu lange schon war: Am Rande der Gesellschaft, nicht wirklich systemrelevant. Aber ist dieses System umgekehrt denn auch kulturrelevant? Wie es der Poetryslammer Rainer Holl ironisch umgedreht hat. Was ist denn ein System ohne Systemkultur? Und was wäre, wenn wir besonders in Krisenzeiten mehr Kunst und Kultur brauchen und nicht weniger? Wenn sogar jedes System genuin davon abhängt, dass es sich – gerade durch die Impulse von Kunst und einer Kultur der kollektiven Auseinandersetzung mit ihr – zu wandeln vermag? Was wenn Menschen ohne Kultur nichts sind und das heißt: Kultur für uns alles ist? 

Doch was ist denn eigentlich Kunst? Diese Frage sprengt natürlich jeden Rahmen. Und das ist zugleich ihr erstes Kennzeichen. Kunst sprengt Rahmen. In diesem Sinne hat etwa der Philosoph Jacques Derrida in „Die Wahrheit der Malerei“ die Frage nach dem Rahmen als wesentliches Moment der Kunst bezeichnet. Kunstwerke rahmen immer wieder neu. Sie lassen uns spielerisch bestimmen, wovon sie handeln, was sie einrahmen und was sie ausklammern. Was sie zeigen, was sie verhüllen und was undarstellbar bleibt. Sie lassen uns darüber streiten, worum es geht und wie es darüber geht. Kein Kunstwerk ist einfach da, genauso wenig wie kein Mensch einfach ist. Kunstwerke und Menschen fordern Gespräche, wenn sie verstanden werden wollen, und das heißt, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, dass man sich auf sie einlässt. Sich dem Spiel des guten und offenen gemeinsamen Gesprächs hingibt und nicht der Intention, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren und auf jeden Fall recht zu behalten. Kunst und Kultur eröffnen empathische Gesprächsräume unter Gleichen. Sie halten die Demokratie am Laufen. Sie trainieren den Diskurs als einen gemeinsamen, pluralen und wertschätzenden – und das ist dann tatsächlich Fitness für das 21. Jahrhundert.

In der Kunst lernen wir aber nicht nur zu verhandeln, sondern auch ganz praktisch zu handeln. Denn Kunst bricht immer neu mit Routinen. Und Handeln, wenn es nicht automatisiert und in blinden Prozessen verläuft, ist unsere Fähigkeit, mit Unterbrüchen und Überraschungen umzugehen, auf die Veränderungen der Welt zu antworten, in dem wir eben – handeln. Dass das nicht immer glückt und mitunter tragisch sein kann, genau das zeigt die Kunst. Aber sie tut es, wie der deutsche Ästhetiker Martin Seel sinngemäß einmal gesagt hat, indem sie, was ein Kreislauf der Gewalt ist, in ein Spiel von Formen übersetzt. Schmerz wird zu Lust. Angst zu Optimismus. Kunst ist Krise in Permanenz, aber immer produktiv und positiv. So ist Kunst ein Tool, aber, wie der amerikanische Gegenwartsphilosoph Alva Noë sagt: ein “strange tool”, das heißt eines, das uns herausfordert, zuerst einmal herauszufinden, wofür es zu gebrauchen ist und das heißt: was wir überhaupt tun könnten. Kunst und Kultur sind keine Freizeit-, sondern Zukunftsgestaltung. Der Ort, wo wahre Innovation ihren Anfang nimmt. 

Das Problem ist: Wenn Kunst heute im politischen Alltagsgeschäft um systemrelevante Betriebe und finanzielle Unterstützung in Vergessenheit gerät, dann liegt das auch an einer Tradition, die Kunst seit der Moderne als autonom versteht. Autonomie hieß nämlich zu oft, die Kunst habe spezielle Gesetzmäßigkeiten, sie sei ihr eigenes System und nicht auf anderes übertrag- und schon gar nicht funktionalisierbar. Noch viel zu viel verstecken sich Künstler:innen selbst hinter dieser Parole, wenn sie gefragt werden, was ihre Kunst bewirken soll: “Nichts. Ich irritiere nur”, war zu lange eine Standardantwort, die sich der praktischen Relevanz enthebt und sich vor Verbindungen mit dem Außerhalb der Kunst scheut. Die Krise bietet nun die Chance, das Auratische, die Verklärung der Kunst zum Aussergewöhnlichen, zu nivellieren und anders zu denken. Kunst ist zunächst nämlich eine menschliche Praxis, in der wir uns in unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Mitteln immer wieder selbst neu gestalten, so der Berliner Philosoph Georg W. Bertram. 

Wenn Kultur die Summe unserer gemeinsamen Auseinandersetzungen ist, die durch Kunst im weitesten Sinne angestoßen werden, dann ist der Vergleich mit dem Freizeitpark, den der Bundesbeschluss evoziert, mehr als schief. Kunst und Kultur sind nicht an der Peripherie der Stadt, sie sind mitten drin in der Gesellschaft. Jeder Mensch, der Fragen stellt, Annahmen und Handlungsmuster erneuert, ist – frei nach dem Künstler Josef Beuys – Künstler und Künstlerin. Kunst ist der Name für das, was passiert, wenn Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und spielerisch transformiert werden. Egal ob in Unternehmen, im Kanon der moderne Kunstwerke oder in der Diskussion über “das System”. Kunst ist ein demokratisches Werkzeug. Es macht deutlich: So muss es nicht sein. So kann es werden. Oder mit dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty gesagt: Malerei und Kunst im Allgemeinen “ordnen die prosaische Welt neu”. 

Nun nochmal zurück zur aktuellen Situation, der Coronapandemie und dem Shutdown der Kunst. „Vielleicht sollten wir mal ein bisschen zurücktreten und uns nicht so hyperüberschätzen.“, sagt Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg. Und sie fragt: „Können wir uns nicht irgendwo in einem anderen gesellschaftlichen Bereich sinnstiftend betätigen? Für eine Zwischenzeit Schauspielerinnen und Schauspieler zu alten, vereinsamten Menschen schicken, in Gesundheitsämtern aushelfen?“

Natürlich ist in Krisen jede Hilfe gefragt. Auch ein Beitrag der Kunst- und Kulturszene – aber wenn, dann am besten künstlerisch, mit Fragen, mit kreativen Ideen, dem Aushaltenkönnen, Verlangsamen und jener Resilienz, die Künstler:innen immer schon hatten, weil sie nicht das System interessiert, sondern vor allem das, was es am Laufen hält, es unterbricht und umwirft, aber ohne das kein System der Welt je Bestand hat: das Leben selbst. 

Was könnte in diesem Moment sinnstiftender sein, als der Kultur neue Räume zu erschließen, statt alte zu schließen? Wo es in Schulen zu eng ist, könnten Museen einspringen – und gleich eine neue Form einer Schule des Sehens und Denkens mit Bildern erproben. Wo es an Betreuung fehlt und Jugendliche zu oft allein an Playstations sitzen, könnten neue Filmclubs entstehen oder gerne auch Clubs, in denen Games, ihre Erzählungen, Figuren und Themen gemeinsam diskutiert werden. Wo nach interdisziplinären und innovativen Lösungen gerufen wird, könnte man endlich auch Künstler:innen mit an den Tisch sitzen, sie sind nämlich gerade faktisch arbeitslos. Insgesamt bietet die Krise die Chance, dass wir mit Kunst und Kultur wieder mehr lernen, dass produktive Dissonanz Lust bedeutet und kein Niederbrüllen, und echtes Querdenken sehr viel sozialer, integrativer und – das sei erlaubt – einfach auch schlauer ist als jene meinen, die es am lautesten für sich reklamieren. 

Kunst und Kultur sind super. Wie vieles andere auch. Sie sind ein fantastisches Element unserer Kultur – neben anderen. Sie eröffnen Räume, in denen wir Welt neu in den Blick nehmen und Ideen entwickeln. Jedes System, das sich auf eine reine instrumentelle Mittel-Zweck-Beziehung und die Macht der Effizienz und Funktionalität reduziert, fährt gegen die Wand. Denn gerade Krisen zeigen: was überhaupt ein Mittel ist und was Ziele, die uns inspirieren, braucht Gespräch. Dissonanz. Demokratie. Offenheit. Culture of Failure. Ambivalenz. Widerspruch. Freude. Oder sagen wir einfach: überhaupt Kultur.


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch diese Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos sowie Quellen, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

18. November 2020

Erik Marquardt: Kann Solidarität grenzenlos sein?

von Ricarda Manth 12. November 2020

Grenzen – sie bilden nicht nur geographische Flächen Trennlinien. Sie finden sich auch in unseren Köpfen wieder. Als Konstruktionen, als ordnungsschaffende Elemente, die eine pluralisierte Welt hoffen vor dem Zerbersten zu bewahren. Grenzen schaffen Sicherheit. Erfüllen jedoch nur so lange ihren Zweck, wie sie selbst zur Gefahr werden. Weil an ihnen Menschenleben hängen. Denen es durch ihr Schicksal nicht vergönnt war, auf der “richtigen” Seite des Zaunes das Licht der Welt zu erblicken. Kann das gerecht sein?

Diese Frage stellt sich auch Erik Marquardt. Als Mitglied des Europäischen Parlaments setzt er sich unermüdlich für die Einhaltung Europäischer Grundwerte, wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ein. Wie Migrationspolitik in seinen Augen gelingen kann, darüber habe ich mit Erik Marquardt ausführlich gesprochen.

Shownotes:
► Erik Marquardt auf Twitter, Instagram und auf seiner Website.
► Erik betreibt auch einen eigenen Podcast: Dickes Brett.
► Unterstützt die Kampagne #LeaveNoOneBehind.
► Bleibt informier – z.B. über die Seebrücke.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

12. November 2020

Rebekka Reinhard: Wie gelingt uns Vielfalt im Denken?

von Marilena 3. November 2020

In unsicheren Zeiten wächst die Sehnsucht nach Einfachheit und Entweder-oder-Denken. Das ist verständlich, aber nicht zeitgemäß, argumentiert die Philosophin Rebekka Reinhard. Unsere Vernunft wach zu machen und offen zu sein für das Vieldeutige und Widersprüchliche, weitet unseren Blick für andere Möglichkeiten – und für Reichtum und Schönheit einer vielfältigen Welt. Das »wache Denken« begegnet der Vereinfachung mit einer Lust am Spiel, am Experiment, am Wagemut. Und das brauchen wir, laut Rebekka Reinhard, heute dringend, um zu neuem Wissen zu finden, zu einer intelligenten Verbindung von Verstand und Emotion, von Hirn und Herz.

Shownotes:
► Wach Denken: Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch von Rebekka Reinhard. Erschienen 09/2020 im Verlag der Körber Stiftung.
► Mehr von und über Rebekka Reinhard auf ihrer Website.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

3. November 2020
Neuere Beiträge
Ältere Beiträge

Kategorien

  • Episoden (65)
    • Allzumenschliches (22)
    • Mensch & Natur (13)
    • New Economy (10)
    • Zukünfte denken (15)
    • Zusammenleben gestalten (23)

Schlagwörter

Achtsamkeit Arbeit Bildung Corona Demokratie Digitalisierung Diversity Emanzipation Ernährung Freiheit Gemeinwohl Gender Glück Grenzen Identität Kapitalismus Klimawandel Kommunikation Konsum Lebensgestaltung Leistungsgesellschaft Liebe Nachhaltigkeit Natur New Work Philosophie Reisen Selbstentfaltung Sinneswandel Solidarität Ungewissheit Utopie Vegan Vision Wachstum Wirtschaft Zukunft Zukunftskunst
  • Spotify
  • RSS

Copyright Marilena Berends © 2020 | Impressum | Datenschutzerklärung | Kontakt

Diese Website benutzt Cookies. Wenn du die Website weiter nutzt, gehen wir von deinem Einverständnis aus.OKNeinDatenschutzerklärung