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Feminismus

Linus Giese: Selbstbestimmt leben, [wie] geht das?

von Marilena 7. März 2023

Wer heutzutage seinen Namen- und Personenstand ändern möchte, muss dafür den Weg über das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) gehen. Obwohl große Teile davon für verfassungswidrig erklärt wurden, existiert es bis heute noch. Das soll sich im Sommer diesen Jahres womöglich ändern, sollte das neue Selbstbestimmungsgesetz eingeführt werden. Ein längst überfälliger Schritt, sagt trans Autor Linus Giese.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Linus Giese: “Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung”, Kjona Verlag (2023).
► Linus Giese auf Instagram, Twitter und Tiktok.

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Man stelle sich vor, eine Person, nennen wir sie Mia, entscheidet sich eines Tages ihren Namen ändern zu wollen. Sie geht also zum Amt und lässt ihn zu Max ändern. Damit ändert sich auch das Pronomen: aus “sie” wird “er”. Eigentlich gar nicht so kompliziert. Aber wir leben schließlich in Deutschland, warum also unbürokratisch, wenn es auch kompliziert geht? 

Wer heutzutage seinen Namen- und Personenstand ändern möchte, muss dafür den Weg über das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) gehen. Obwohl große Teile davon für verfassungswidrig erklärt wurden, existiert es bis heute noch. Das soll sich im Sommer diesen Jahres womöglich ändern, sollte das neue Selbstbestimmungsgesetz eingeführt werden. Ein längst überfälliger Schritt, sagt trans Autor Linus Giese. In seinem neuen Buch “Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbst­bestimmung”, entwirft er ein Szenario, wie wir leben würden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung für alle nicht nur ideell eingeräumt, sondern auch gesetzlich verankert wäre. Natürlich können Gesetze allein Menschen kein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Entscheidend ist auch das gesellschaftliche Zusammenleben, wie wir uns als Menschen begegnen. 

Als Linus vor fünf Jahren, mit 31, sein eigenes Coming-out als trans Mann hatte, erntete er sowohl Zuspruch als auch Hass. Mit seinem neuen Buch möchte er vor allem jungen Transpersonen Mut machen für die Zukunft. Weshalb ein Ende der Diskriminierung von trans* Menschen für uns alle mehr Freiheit bedeuten würde, darüber habe ich mich mit Linus Giese selbst unterhalten.

Bevor wir beginnen, noch kurz vorweg: Wenn ihr diesen Podcast gerne hört, freue ich mich, wenn ihr meine Arbeit unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder indem ihr mir an Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Unter allen Unterstützer*innen verlosen wir außerdem ein Exemplar von Linus neuem Buch. Alle Links dazu findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank!

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Linus gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. Und falls ihr meine Arbeit via Steady oder Paypal supporten wollt, findet ihr in den Shownotes alle Links und Infos. Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

7. März 2023

Teresa Bücker: Wie finden wir mehr Zeit [für einander]?

von Marilena 17. Januar 2023

Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Aber sie steht uns längst nicht gleichermaßen zur Verfügung. Mit der Autorin und Journalistin Teresa Bücker spricht Marilena Berends über Ideen, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt.

Shownotes:

Der Werbepartner der heutigen Episode ist HelloFresh. Mit dem Gutscheincode HFSINNESWANDEL ist für Neukund*innen in Deutschland und Österreich nicht nur der Versand für die erste Kochbox kostenlos, sie sparen auch bis zu 90 Euro auf die ersten 4 Kochboxen. In der Schweiz sind es mit HFSINNESWANDEL bis zu CFH 140.

► Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit, Ullstein 11/22
► Teresa findet ihr auf Twitter und Instagram
► Zwischenzeit_en  heißt Teresas Newsletter auf Steady

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Es heißt, Zeit könne man sich nicht kaufen. Was ist dann aber mit der Putzkraft, die unser Haus sauber hält, mit dem Babysitter, der auf unsere Kinder aufpasst oder dem Pfleger, der uns im Alter füttert? Kaufen wir diesen Menschen nicht ihre Zeit ab? Und das nicht selten für einen Preis, für den wir selbst nicht den Finger rühren würden? In einer Gesellschaft, die unter notorischer Zeitnot leidet, können es sich nur diejenigen leisten, sich mehr Freizeit zu verschaffen, die über das notwendige Kapital verfügen. Der Rest muss weiter mit der Zeit um die Wette laufen.

Zeit ist eine Frage von Macht und Freiheit, sagt die Autorin und Journalistin Teresa Bücker. Häufig reden wir von Zeit als etwas, das sich individuell optimieren lässt, um Stress zu reduzieren oder effizienter zu sein. Für Teresa ist Zeit aber viel mehr: eine zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Deshalb plädiert Teresa in ihrem Buch für eine neue Zeitkultur, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen würde. Eine zentrale Rolle spielt für die zweifache Mutter dabei die Care-Arbeit oder vielmehr die “Care-Revolution”, auf die Teresa hofft. Was es damit auf sich hat und wie wir zu mehr Zeitbewusstsein kommen, darüber habe ich mit ihr gesprochen.

Falls ihr nach dem Podcast mehr zu dem Thema erfahren wollt, könnt ihr das in Teresa Bückers Buch, “Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit”, von dem wir unter allen, die Sinneswandel auf Steady supporten, ein Exemplar verlosen. Wie ihr teilnehmt, steht in den Shownotes. Jetzt erstmal viel Freude beim Zuhören!

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Teresa gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. Und ihr wisst, dieser Podcast wäre nicht möglich, wenn es nicht ein paar Menschen gäbe, die meine Arbeit unterstützen. Danke an alle, die das bereits tun. Damit ich Sinneswandel weiterhin produzieren kann, freue ich mich über euren Support. Das geht ganz einfach über die Plattform Steady oder indem ihr mir via Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Das geht auch schon ab einem Euro und steht alles in den Shownotes.

Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

17. Januar 2023

MARYAM.fyi: Wieso bist du [nicht] frei?

von Marilena 5. Januar 2023

Maryam oder auch MARYAM.fyi, wie sie sich als Künstlerin nennt, ist in Deutschland aufgewachsen. Dass sie hier in Freiheit leben kann, verdankt sie ihrem Vater, der damals aus dem Iran geflohen war. Doch was bedeutet unsere Freiheit hier, wenn überall auf der Welt Menschen und insbesondere Frauen gewaltsam unterdrückt werden? Über diese Frage spricht Marilena mit Maryam, deren Leben sich seit der Ermordung der 22-jährige Iranerin Mahsā Amīnī radikal verändert hat. Eigentlich studiert sie Medizin und macht Musik – jetzt ist sie vor allem Aktivistin.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Musik: MARYAM.fyi & David Bay: BARAYE (Frau, Leben, Freiheit)
► MARYAM.fyi auf Instagram – Spotify – YouTube
► Maryam’s DIFFUS Kolumne über die Iran-Revolution
► Woman Life Freedom Collective
► Maryam’s Podcast Empfehlung: Das IRAN Update mit Gilda Sahebi & Sahar Eslah
► Maryam’s Follow-Empfehlungen: Duzen Tekkal, Natalie Amiri, Jasminshakeri, Pegah Ferydoni, Susan Simin Zare


✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

[“Baraye”]

“Für das Tanzen auf der Straße

Für die Angst sich zu küssen

Für meine Schwester, deine Schwester und unseren Schwestern

Für diejenigen, die im Gefängnis sind

Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben

Für die Frau, das Leben, die Freiheit”

So in etwa lautet die Übersetzung einiger Zeilen aus “Baraye”. Dem Lied des iranischen Musikers Shervin Hajipour, der kurz nach der Veröffentlichung inhaftiert worden war und das mittlerweile zur Hymne der Iran-Revolution geworden ist. Die Stimme, die ihr eben gehört habt, ist aber nicht die von Shervin Hajipour. Es ist die Stimme einer sehr guten Freundin von mir: Maryam oder auch MARYAM.fyi, wie sie sich als Künstlerin nennt. Maryam ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Dass sie hier in Freiheit leben kann, ist, wie sie sagt, ein Privileg. Ihr Vater ist damals aus dem Iran geflohen und hat ihr damit genau das ermöglicht: ein Leben in Freiheit. Genau die sieht sie nun aber bedroht. Denn was bedeutet unsere Freiheit hier, wenn überall auf der Welt Menschen und insbesondere Frauen unterdrückt werden? “Jin, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit” – es geht um universelle Werte. Werte, die wir hier für selbstverständlich halten. So ging es auch Maryam lange Zeit, wie sie selbst sagt. Bis zum September 2022, als die erst 22-jährige Iranerin Mahsā Amīnī gewaltsam getötet wurde. Seitdem hat sich Maryam’s Leben radikal verändert. Beinahe täglich postet sie auf Instagram, versucht Aufmerksamkeit zu schaffen für die Protestierenden im Iran und die Inhaftierten, denen zum Teil die Todesstrafe droht. Eigentlich müsste Maryam für ihr Examen lernen. Sie studiert Medizin. Aber so richtig den Kopf dafür hat sie gerade eigentlich nicht… 

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich lerne am meisten durch Geschichten. Ich weiß nicht, ob ich die Dringlichkeit und Relevanz der Revolution im Iran – auch für uns hier – verstanden hätte, wäre Maryam nicht meine Freundin. Deswegen bin ich ihr umso dankbarer, dass sie sich bereit erklärt hat, heute mit mir im Podcast zu sprechen und ihre Geschichte mit uns zu teilen. Und wer aufmerksam zuhört, da bin ich mir sicher, wird verstehen, es ist auch unsere Geschichte.

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Maryam gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. In den Shownotes habe ich außerdem vieles von dem, was Maryam genannt hat – ihre Kolumne, Personen, denen es sich lohnt zu folgen, uvm. – verlinkt. Und ihr wisst, dieser Podcast wäre nicht möglich, wenn es nicht ein paar Menschen gäbe, die meine Arbeit unterstützen. Danke an alle, die das bereits tun. Damit ich Sinneswandel weiterhin produzieren kann, freue ich mich über euren Support. Das geht ganz einfach über die Plattform Steady oder indem ihr mir via Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Das geht auch schon ab einem Euro und steht alles in den Shownotes.

Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

5. Januar 2023

Eva Biringer: Wie wurdest du [un]abhängig vom Alkohol?

von Marilena 20. Dezember 2022

Alkohol ist längst nicht mehr nur “Männersache”. Die Zahl trinkender Frauen, im Vergleich zu Männern, steigt seit 1980 immer weiter an. Und das nicht ohne Grund, sagt Autorin und Food-Journalistin Eva Biringer. Sie war selbst abhängig und schreibt in ihrem Buch “Unabhängig: Vom Trinken und Loslassen” davon, warum Alkohol ausgerechnet auf junge, emanzipierte Frauen eine so starke Anziehung ausübt. Heute ist Eva unabhängig und sagt, dass sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Denn nüchtern sei sie nicht nur glücklicher, sondern auch eine “bessere Feministin”. Was Eva Biringer der Alkohol damals gegeben und wie sie sich von ihm gelöst hat, darüber spricht sie mit Marilena Berends.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Eva Biringer
► “Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen”. Harper Collins, 2021. 
► Eva auf Instagram.

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Die Tage zwischen den Jahren – eigentlich ein Dauerrausch: Hier ein Glühwein, da ein Sekt auf der Weihnachtsfeier, natürlich literweise Wein beim Familienessen, das nüchtern kaum erträglich wäre. Und das Grand Final des Rausches bildet natürlich Silvester. Spätestens, wenn das erste Mal “Dinner for One” im Fernsehen läuft, empfiehlt es sich nicht mehr nüchtern zu sein.

Ein Leben ohne Alkohol, fast unvorstellbar. Irgendwie gehört er einfach dazu. Er ist überall. Beim Essen, beim Feiern, beim Sport – es gibt immer einen Grund zum Trinken. Und irgendwie tun es ja auch alle. Wer trinkt, ist normal, wer es nicht gut und nicht gerade schwanger ist, macht sich verdächtig. Oder gilt mindestens als Spaßbremse. Dazu kommt, dass Alkohol heute längst nicht mehr nur “Männersache” ist. Tatsächlich steigt die Zahl trinkender Frauen, im Vergleich zu Männern, seit 1980 immer weiter an. Und das nicht ohne Grund, sagt Eva Biringer. Die Autorin und Food-Journalistin war selbst abhängig – vom Alkohol. In ihrem Buch “Unabhängig: Vom Trinken und Loslassen” schreibt sie darüber, warum Alkohol ausgerechnet auf junge, emanzipierte Frauen eine so starke Verführung ausübt. Und darüber, weshalb Trinken heute sogar als Emanzipation gefeiert wird. Eva ist heute unabhängig und sagt, dass sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Denn nüchtern sei sie nicht nur glücklicher und gesünder, sondern auch eine “bessere Feministin”. Was ihr der Alkohol damals gegeben hat und wie sie sich von ihm gelöst hat, das hat mir Eva im Gespräch erzählt. Und falls ihr nach dem Podcast ihre ganze Geschichte erfahren wollt, könnt ihr das in ihrem Buch, von dem wir unter allen, die Sinneswandel auf Steady supporten, ein Exemplar verlosen. Wie ihr teilnehmt, steht in den Shownotes. Jetzt erstmal viel Freude beim Zuhören! 

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Eva gefallen hat, teilt es gerne mit Freunden. Und ihr wisst, dieser Podcast wäre nicht möglich, wenn es nicht ein paar Menschen da draußen gäbe, die mich dabei unterstützen. Danke an alle, die das bereits, zum Teil seit Jahren, tun. Das bedeutet mir wirklich viel und ich freue mich natürlich, wenn es mehr werden, damit ich den Sinneswandel Podcast auch weiterhin produzieren kann. Supporten könnt ihr mich ganz einfach via Steady oder indem ihr mir unter Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen freien Betrag da lasst. Das geht auch schon ab einem Euro und steht noch mal in den Shownotes.

20. Dezember 2022

Cesy Leonard: Warum bist du [so] radikal?

von Marilena 17. November 2022

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Was hilft daher, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Selbstwirksamkeit, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard. Sie hat “Radikale Töchter” gegründet, mit denen sie Workshops gibt, in denen der “Mutmuskel” trainiert wird. Denn den braucht es, so Cesy, um (politisch) aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Wie genau das geht, darüber spricht Cesy Leonard mit Marilena Berends im Sinneswandel Podcast.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Cesy Leonard findet ihr auch auf Twitter.
► Radikale Töchter sind auch auf Twitter und Instagram.
► Podcast der Radikalen Töchter: “Mut für Anfänger”.
► Zentrum für Politische Schönheit

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Ob Klimakrise, Ukraine-Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Massentierhaltung oder Patriarchat – es gibt genug, um nicht zu sagen unzählige Gründe, auf die Straße zu gehen. Oder zumindest Grund genug, um wütend zu sein. Weil diese Welt alles andere als gerecht ist. Weil sie längst nicht allen von uns ein sicheres und lebenswertes Zuhause bietet. Aber was kann ich dagegen oder vielmehr dafür tun, damit sich das ändert?

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich angeblich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Wer hat sich nicht schon einmal klein und machtlos gefühlt, weil alles so überwältigend und vielleicht sogar beängstigend wirkt? Das ist verständlich und wohl auch menschlich. Aber was hilft, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Den Kopf in den Sand stecken oder die Füße hochlegen und alle Verantwortung an “die da oben” abgeben, mag naheliegend sein, hilft aber nachweislich wenig. Aber was dann?

Mut, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard, braucht es. Okay, aber wo soll der plötzlich herkommen? Der lässt sich trainieren, wie ein Muskel, so Cesy. Wie das funktioniert, zeigt die Aktionskünstlerin in Mutmuskel-Workshops mit den “Radikalen Töchtern”. Ein Projekt, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst aufgehoben werden und Möglichkeitsräume sichtbar werden, wo sie scheinbar nicht mehr sind. Denn wer Selbstwirksamkeit verspürt, fühlt sich im besten Fall auch ermutigt, ins Handeln zu kommen und wird politisch aktiv. Aber wo fange ich da an? Ganz einfach, sagt Cesy, bei dem, was einen besonders wütend macht. Wieso, das hat Cesy Leonard mir im Podcast erzählt.

…

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Cesy gefallen hat, teilt es gerne. Wenn ihr mehr erfahren wollt, findet ihr in den Shownotes alles zu den “Radikalen Töchtern”. Und, wie immer, auch alles Infos, wie ihr Sinneswandel und damit auch meine Arbeit finanziell unterstützen könnt. Das würde mir helfen und mich sehr freuen. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

17. November 2022

Machen Tinder und Co. [die Liebe] kaputt?

von Marilena 19. Juli 2022

 

Jede dritte Person in Deutschland sucht heute online nach dem nächsten Date. Einige mehr, andere weniger “erfolgreich”. Aber wovon ist das abhängig, was suchen Menschen auf Dating-Apps wie Tinder? Und wie gleichberechtigt sind wir in der Partnersuche? In dieser Episode geht Marilena dem (Online)-Dating auf die Spur, wie es unser Sein und Tun beeinflusst (hat) und wo mögliche Chancen und Risiken liegen. Zu Wort kommen zudem drei Autorinnen: Ann-Kristin Tlusty, Pia Kabitzsch und Anne-Kathrin Gerstlauer.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Literatur & Quellen:
► Aretz, Wera (2015): Match me if you can: Eine explorative Studie zur Beschreibung der Nutzung von Tinder. In: Journal of Business and Media Psychology, S. 41–51.
► 
Dombrowski, Julia (2011): Die Suche nach der Liebe im Netz. Eine Ethnographie des Online-Datings.
► 
Gerstlauer, Anne-Kathrin (2021): Der Gender-Dating-Gap und die Liebe. Audible.
► 
Illouz, Eva (2016): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Suhrkamp.
► 
Kabitzsch, Pia (2021): It’s a date! Tindern, Ghosting, große Gefühle. Was die Psychologie über Dating weiß. Rowohlt.
► 
Paur, Nina (2014): Junge Frauen: Unheimlich unabhängig. ZEIT online.
► 
Tlusty, Ann-Kristin (2021): Süß. Eine feministische Kritik. Hanser.
► Bitkom-Studie zur Nutzung von Online-Dating-Diensten (2019).
► Statista: Tinder Abonnenten weltweit 2022.
► 
Statista: Bumble Nutzer weltweit bis 2020.
► 
Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft: It’s a match! Oder Rassismus?. (2021).

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 

Transkript:

Es ist Sommer. Endlich! Die Sonnenstrahlen kitzeln sanft meine Haut, während ich auf dem Fahrrad sitze – auf meinen Ohren “Modern Love” von David Bowie. An einer roten Ampel bleibe ich stehen, schaue mich um. Mein Blick bleibt an einem Werbeplakat hängen: “Lasst uns Dating wieder besser machen”, steht darauf in dicken, roten Buchstaben. Die Frau, die auf dem Plakat in ihr Smartphone blickt, erweckt nicht gerade den Eindruck, als schenke sie dem Werbeversprechen viel Vertrauen. Und auch ich frage mich, was soll das heißen, “Dating wieder besser machen”? Läuft es wirklich so schlecht in Sachen Partnersuche? War früher alles besser – bevor wir angefangen haben, uns auf Tinder und Co. durch die Profile fremder Menschen zu swipen – stets auf der Jagd nach dem besten Match? Oder ist Dating heute vielleicht einfach nur anders?

Wieder zu Hause, klappe ich meinen Laptop auf und gebe in die Suchleiste ein: “Online-Dating, wirklich so schlecht, wie sein Ruf?” Laut einer Bitkom-Studie sucht heute immerhin jede dritte Person in Deutschland online nach dem nächsten Date. Und gut die Hälfte von ihnen hat darüber sogar einen festen Partner oder Partnerin finden können – was laut Studie als Erfolg gilt. Wobei ich wage zu bezweifeln, dass wirklich alle, die sich auf Dating-Apps und Singlebörsen rumtreiben, Ausschau nach einer festen Partnerschaft halten. Ist ja auch vollkommen legitim, etwas Unverbindliches, das nächste Abenteuer, eine Romanze oder einfach nur Bestätigung zu suchen. Ich meine, wer kennt das nicht?! Man liegt abends auf dem Sofa, es regnet, der Weg zur nächsten Bar erscheint endlos lang – und mal abgesehen davon: wer lernt heute schon noch Menschen am Tresen kennen? – also wird die nächstbeste Dating-App auf dem Smartphone geöffnet. Ist ja auch viel bequemer und die Auswahl im Zweifel auch größer. 10,7 Millionen Nutzer*innen weltweit sind mittlerweile auf Tinder angemeldet, verrät mir Google. Und ein weiterer Vorteil: Ich muss nicht sofort reagieren – wenn überhaupt. Zumindest scheint Ghosting heute gesellschaftlich so akzeptiert zu sein, wie Hafermilch im Flat White. Trotzdem, eigentlich natürlich nicht die höfliche Art. Im “echten Leben” würde man sich nach einem kurzen Smalltalk ja auch nicht einfach wortlos umdrehen und sein Gegenüber stehen lassen. Es gibt sicherlich viele weitere Argumente, die sich pro oder contra Online-Dating aufzählen ließen, aber was sich ohne Zweifel sagen lässt, ist, dass Tinder und Co. die Art und Weise, wie wir uns heute einander annähern, bereits verändert hat. Es fragt sich nur, zum Positiven oder zum Negativen?

Online-Dating ist nur so gut oder schlecht, wie wir im Stande sind, es für uns zu nutzen – dieser Überzeugung ist zumindest Pia Kabitzsch. Pia ist Psychologin und erklärt auf YouTube unter dem Namen “psychologeek” wie unsere Psyche tickt. Und sie hat ein Buch geschrieben: “It’s a date! Tindern, Ghosting, große Gefühle. Was die Psychologie über Dating weiß” – der Titel sagt eigentlich alles: Es geht ums Dating. Aber nicht im Allgemeinen oder rein aus Sicht der Psychologie. Pia plaudert im Buch auch aus dem eigenen Nähkästchen: von misslungenen Dates, darüber, wie sie Matches anschreibt und mit welchen Strategien sie bisher am besten gefahren ist – auf der Suche nach dem perfect fit. Mit ihrem Buch hofft sie Lesenden etwas an die Hand geben zu können, das ihnen im Datingjungle etwas Orientierung verschafft – und vor allem das Gefühl vermittelt: “Ich bin damit nicht allein, anderen geht es auch so wie mir!” 

Natürlich habe auch ich meine Erfahrungen mit Tinder und Co. gesammelt, aber Psychologin bin ich keine. Daher möchte ich von Pia wissen, wonach die Menschen auf den diversen Dating-Plattformen eigentlich auf der Suche sind. Stimmt das Vorurteil, dass die meisten nur an One-Night-Stands interessiert sind?

“Nur um das mal kurz vorwegzunehmen: Dieses Vorurteil, dass die meisten Menschen auf Dating Apps nur auf der Suche nach einer ‘schnellen Nummer’ sind, das ist kompletter Bullshit. Also das stimmt nicht. Die meisten sind wirklich auf der Suche nach einer Beziehung bzw. nach, ganz kitschig, Liebe. Was mich persönlich aber ziemlich überrascht hat und irgendwie auch erschrocken hat, ist, dass ungefähr 50 Prozent der 18 bis 27 Jährigen auf Tinder nicht Single sind. Fand ich richtig krass und habe mich dann auch gefragt: okay, wow, was macht ihr denn dann auf den Dating Apps? Betonung liegt auf dem Wort ‘Dating’. Und es hat sich herausgestellt, dass super viele einfach nur wegen des Egoboost da sind. Fühlt sich gut an einen Match zu haben. Dann sind die Leute aus Langeweile da. Wegen dieser ganzen Gamification. Zocken da so ein bisschen rum, schauen sich ein bisschen aus Interesse um, was so im Umfeld abgeht, aber ohne wirklich eine Dating-Absicht zu haben. Ja, das fand ich irgendwie eine krasse Zahl auf jeden Fall.”

Okay, nicht alle sind nur auf die “schnelle Nummer” aus. Das entspricht auch nicht meiner bisherigen Dating-App-Erfahrung. Aber die oft fehlende Transparenz über die Absichten meiner Matches, macht es natürlich nicht ganz einfach, die “Hauptgewinne” von den “Nieten” zu unterscheiden. Wobei das im echten Leben natürlich nicht unbedingt anders ist. Auch hier kann sich jemand als Single ausgeben und in Wahrheit bereits verheiratet sein und zwei Kinder haben. Online-Dating macht es allerdings noch einmal wesentlich leichter, sich als jemand anderes auszugeben, als man in Wirklichkeit ist, meint auch Pia:

“Ein weiteres Problem ist auf jeden Fall ‘Catfishing’. Das bedeutet, dass man sich online als eine andere Person ausgibt. Das ist jetzt natürlich ein Extrem, aber das gibt es auch in abgeschwächter Form, dass man sich halt einfach anders darstellt, als man ist. Das ist natürlich sehr einladend online, das fliegt nicht so schnell auf, wie im Offline-Leben.”

Klar, wir wollen uns von unserer besten Schokoladenseite präsentieren, online wie offline. Was allerdings auffällt, ist, dass die Selbstdarstellung – eine Gelungene, versteht sich – in Dating-Apps immer wichtiger wird. Wenige Sekundenbruchteile entscheiden hier, ob nach links oder rechts geswiped wird, ob top oder Flop. Ziemlich oberflächlich, mag man meinen. Aber läuft es im echten Leben wirklich anders? Sind es nicht auch da wenige Augenblicke, die darüber entscheiden, ob wir uns verlieben oder nicht? Ist Online-Dating tatsächlich so viel oberflächlicher – oder liegt das eigentliche Problem vielleicht ganz woanders?

“Gefühle in Zeiten des Kapitalismus” nennt sich eines von Eva Illouzs Büchern, in dem die israelische Soziologin die Auswirkungen unserer kapitalistischen Weltordnung auf Beziehungen unter die Lupe nimmt. Während, laut Illouz, der Konsum zunehmend mit künstlichen Emotionen aufgeladen wird, erleben Gefühle im Kapitalismus das Gegenteil: sie werden kommerzialisiert und zweck-rationalisiert: Lohnt sich die Kontaktaufnahme? Gibt es eine bessere Alternative? Welche Opportunitätskosten entstehen, wenn ich Zeit, Geld und Selbstoffenbarung investiere? Die Notwendigkeit ökonomisch zu denken, mag zwar mit dem romantischen Liebesideal brechen, fügt sich aber wiederum ideal in das neoliberale Narrativ von: “Wer viel leistet – oder swiped – wird auch mit einer erfüllten Partnerschaft belohnt.” Aber, ob das wirklich aufgeht, lässt sich bezweifeln. Durch Online Dating jedenfalls, verstärkt sich, laut Illouz, diese Marktlogik immer weiter. Hier “verwandelt [sich] das Selbst in ein verpacktes Produkt, das mit anderen auf einem offenen Markt konkurriert, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”, schreibt sie. Und natürlich zählt auch hier: wem es am besten gelingt sich zu verkaufen, liegt klar im Vorteil.

Ich weiß noch, als ich mir zum ersten Mal die App mit dem zündelnden Feuer als Logo runtergeladen habe – das muss wohl 2012 gewesen sein. Ich kam mir dabei nicht nur ziemlich verboten und obszön vor, es fühlte sich darüber hinaus auch ziemlich falsch an. Menschen, ohne sie jemals in echt gesehen zu haben, zu bewerten, indem ich sie hin und her wische. Als würde ich online gerade nach einem passenden Schuh suchen: “Ach, der gefällt mir, den nehme ich!” oder “Oh ne, gar nicht mein Fall, weg damit!”. Während sich das Gefühl von Verbotenheit heute bei vielen Dating-App-Nutzer*innen angesichts der Popularität wohl gelegt haben wird, will der seltsame Beigeschmack beim Swipen einfach nicht ganz weggehen. “Irgendetwas daran fühlt sich nicht “richtig” an, es fehlt nur noch, dass man seinen Matches eine Bewertung geben kann”, erzähl mir Hannes, ein Freund, beim Kaffee. Klingt gar nicht mal so unrealistisch. Vielleicht lesen wird bald in Apps Sätze, wie: “Nettes Date, gerne wieder” oder “Konnte echt gut küssen, aber die Frisur war ein echter Stimmungskiller”. 

Vermutlich bedarf es solcher Bewertungen aber auch gar nicht, weil der Algorithmus der Dating-Apps diese Arbeit bereits für uns übernimmt, indem er vorselektiert. Und zwar anhand eines sogenannten ELO-Scores – oder “Desirability Score”, wie Tinder ihn nennt. Der soll die „Attraktivität“ der User ermitteln, um ihnen ähnlich begehrenswerte Profile vorzuschlagen. Erhältst du viele Likes, swipest was das Zeug hält und chattest mit deinen Matches, steigert das angeblich deinen ELO-Score. Wie genau das Bewertungssystem allerdings funktioniert, hat Tinder bislang nicht preisgegeben. In der Kritik stehen Match-Making-Algorithmen jedoch immer wieder. Auch deshalb, weil sie angeblich Diskriminierung und Sterotype weiter zementieren. So hat die Dating-App OkCupid festgestellt, dass ostasiatisch gelesene Männer und Schwarze Frauen die schlechtesten Chancen haben, ein Date zu finden. Das heißt, wenn überwiegend weiß gelesene Personen als attraktiv befunden werden, was die Auswertungen von OkCupid nahelegen, dann wird Weißsein zu einem hohen Indikator für ein Match, spricht eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit im Dating-Game. Selbst wenn die Hautfarbe für den Algorithmus per se kein entscheidendes Kriterium für Attraktivität darstellt.

Aber nicht nur der Algorithmus selbst ist Teil des Problems, auch die Kategorien, die uns Dating-Apps zur Selbstbeschreibung und Partnersuche anbieten, können diskriminierende Effekte haben. Wer weiß ist, hält die Kategorie “Hautfarbe“ womöglich für irrelevant. Wer sich als heterosexuell definiert, für den spielt die sexuelle Orientierung vielleicht keine Rolle. Schmerzhaft werden Kategorien aber dann, wenn wir uns darin nicht wiedererkennen. Während bei Tinder beispielsweise nur eine Suche nach Männern, Frauen oder beiden Geschlechtern möglich ist, bietet OkCupid satte 22 Gender-Optionen, darunter Transgender, Genderqueer, Genderfluid und einige, von denen selbst ich zugeben muss, noch nie von gehört zu haben. Die Auswahl zeigt aber auch, dass sich etwas tut. Und, wie Pia bereits sagte, sind Apps eben nur so gut, wie die Menschen die sie nutzen oder eben programmieren. Abgesehen davon, sind digitale Technologien nie neutral. Das heißt, bevor wir Online-Dating also gänzlich abschreiben, sollten wir es lieber als Teil von Kultur begreifen und die gestalten wir schließlich immer noch mit.

Das bedeutet aber natürlich andersherum auch, dass wir all die Glaubenssätze, Narrative, Stereotype, die sich bereits in unseren Köpfen verfestigt haben, mit ins Dating nehmen – online, wie offline. Daher stellt sich natürlich auch die Frage: Wie gleichberechtigt sind wir heute bei der Partnersuche bzw. im Dating? Keine Frage, in den letzten Jahrzehnten ist in Sachen Gleichberechtigung viel passiert. Durch das Infragestellen vermeintlich fester Normen, von Heterosexualität, über Monogamie, der bürgerlichen Ehe und Geschlechterrollen, hat sich unsere Kultur nachhaltig liberalisiert. Allerdings ohne, dass dadurch das Patriarchat abgeschafft wurde – und das macht natürlich auch nicht vor dem Dating halt. Insofern gilt auch hier nach wie vor: Weiblich gelesene und queere Personen genießen nicht dieselben Freiheiten, wie heterosexuelle cis Männer. Die Autorin und Journalistin Anne-Kathrin Gerstlauer nennt das den “Gender-Dating-Gap”. Nach Jahren mehr oder minder erfolglosen Swipens und Matchens, wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Genauer gesagt ihrer These, derzufolge es insbesondere emanzipierte, heterosexuelle Frauen im Dating schwer haben, einen Partner auf Augenhöhe zu finden. Erfolg, Selbstbewusstsein, Geld: Was Männer häufig attraktiv macht, wird für Frauen dagegen oft zum Hindernis, meint Anne-Kathrin:

“Ich habe schon mein Gehalt falsch gesagt, weil ich sonst das Gefühl hatte, ‘oh Gott, das klingt sonst nach so viel’. Und auf der anderen Seite Typen getroffen, die dann total eingeschüchtert von dem waren, was ich gemacht habe, was dann auch irgendwann nicht mehr so richtig sexy ist. Irgendwie so ein bisschen die goldene Mitte oder einfach jemand auf Augenhöhe, fand ich immer total schwierig. Und dann habe ich angefangen, ein bisschen zu recherchieren und habe gemerkt: ‘Ach krass, die Wissenschaft und die Statistiken, die sind noch viel schlimmer, als ich dachte!’ Also das Problem ist eigentlich nicht nur eine gefühlte Wahrheit, sondern noch viel krasser, als ich gedacht hatte. Weil wir denken ja auch, die Welt dreht sich weiter, wir sind doch jetzt alle so aufgeklärt, wie kann das denn noch ein Problem sein? Aber ja, es ist auch statistisch erwiesen eins.”

Liberalisierung hin oder her: Männliche Vorherrschaft begegnet uns auch weiterhin in unseren sexuellen Skripten, in den Bildern, die wir von Liebe, Sex und Intimität haben, ebenso wie in den sozialen Rollen, durch die wir uns und andere begreifen. In der Recherche für ihr Buch “Der Gender-Dating-Gap und die Liebe”, hat es Anne-Kathrin überrascht, wenn nicht gar schockiert, wie schwer es uns beim Dating scheinbar nach wie vor fällt, alte Rollenbilder loszulassen:

“Also Frauen suchen immer noch Männer, die größer sind und andersrum. Da gab es zum Beispiel eine witzige Studie, in der untersucht wurde, wie Frauen sich auf Online-Dating Plattformen auf ihren Fotos präsentieren. Und tatsächlich fotografieren sie sich so, dass sie besonders klein wirken. Und Männer fotografieren sich so, dass sie besonders groß wirken. Also auch so vom Winkel, mit dem man sich selbst aufgepumpt, was ich total witzig fand. Aber vor allen Dingen in den Statistiken findet man viel zum Thema, was passiert, wenn eine Frau eigentlich mehr Geld verdient. Da gab es zum Beispiel eine total interessante Studie, die gezeigt hat, dass Männer am meisten gestresst sind, wenn sie der Alleinverdiener sind. Was total klar ist, weil das natürlich mit sehr, sehr viel Verantwortung einhergeht. Und dann, umso mehr Geld die Frau verdient, umso besser geht es Ihnen erstmal. Bis wir so ankommen bei dem Punkt, wo Frauen rund 40 Prozent verdienen und Männer 60 Prozent. Und ab dann kippt’s weiter. Wenn die Frau dann gleich viel verdient oder mehr verdient, dann ist der Mann schon wieder gestresst und das ist ja irgendwie total absurd, weil eigentlich würde man ja denken, das ist doch total gut. […] Am Ende des Tages geht es glaube ich doch vielen aufs Ego, weil es eben immer noch die alten Rollen sind, die in uns allen stecken. Genauso stecken die ja auch in uns Frauen. Wir können uns ja auch nicht einfach am Ende des Tages total freimachen. Es gibt genauso viele Statistiken darüber, dass die Mehrheit der Frauen immer noch erwartet, dass der Mann beim ersten Date zahlt. Aber es steckt, glaube ich, schon immer noch in uns allen drin am Ende des Tages. Und ich glaube, dass die Rollen einfach noch nicht so neu verteilt sind. Früher war es alles total easy, der Mann macht den ersten Schritt, der Mann meldet sich exakt drei Tage später – der Mann initiiert sozusagen. Und wenn man diese klaren Regeln nicht mehr hat wie früher, dann sind alle ein bisschen lost. Und daraus sind neue Regeln und Rituale zu entwickeln, und das wird einfach so ein bisschen seine Zeit brauchen.”

“Let’s drop the Script – Make Romance Equal”, mit diesem Slogan wirbt aktuell die Dating-App Bumble. Hier machen Frauen den ersten Schritt. Die Idee dafür hatte Whitney Wolfe Herd. Nachdem sie 2014 Tinder verlassen und das Unternehmen wegen sexueller Belästigung und Dis­kriminierung verklagt hatte, gründete sie Bumble. Denn für Whitney war klar: Wenn eine Frau beim Dating nicht gleichberechtigt sein kann, wie kann sie dann im Leben gleichberechtigt sein? Heute sind mehr als 100 Millionen Nutzer*innen auf der Dating-App registriert – das Konzept, Frauen machen den ersten Schritt, scheint aufzugehen. Und auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es swiped und matched sich in jedem Fall angenehmer, ohne dabei mit Dickpics konfrontiert zu werden – denn die werden von Bumble ausgefiltert. Nichts desto trotz, frage ich mich: Wird damit nicht aus einem strukturellen, ein individuelles Anliegen gemacht? Indem Frauen jetzt quasi die Verantwortung zugeschrieben wird, selbstbewusster zu werden und den ersten Schritt zu machen? Erzeugt das nicht auch wahnsinnig viel Druck? Und vor allem: Profitieren nicht insbesondere Männer von der neuen Bequemlichkeit?

“Witzigerweise eine der allerersten Kampagnen, die Bumble in Deutschland gefahren hat, hatte den Slogan ‘Für faule Männer und forsche Frauen’. Was? Ja, total crazy! Also was ja wieder in so ein Ding rein geht, wenn eine Frau, die den ersten Schritt macht, als ‘forsch’ bezeichnet wird. Das ist auch nicht besonders sexy oder cool. […] Es gibt sogar Statistiken, die zeigen auf, wenn Frauen den ersten Schritt machen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Antwort zu bekommen, übrigens sinkt. […] Und gleichzeitig glaube ich, dass sowas schon helfen kann, das auch mal zu üben. […] auch so ein bisschen sozusagen gezwungen wird, aus einer Rolle rauszukommen.”

Ohne Zweifel, Emanzipation und sexuelle Liberalisierung stellen einen wichtigen gesellschaftlichen Fortschritt dar – gleichzeitig ist Sexualität heute gewiss nicht die Quelle von Befreiung allein, sondern vor allem ein gewaltiger Markt, der auf eines abzielt: Überfluss. Wer nicht ständig auf der Jagd nach dem nächsten sexuellen Reiz, der Auslebung seiner Freiheit und Individualität ist, scheint etwas zu verpassen. Von einer Möglichkeit ist sogenannte “Sexpositivität” heute zu einem Imperativ geworden. Und das gilt im besonderen Maße für Frauen, meint Autorin und Journalistin Ann-Kristin Tlusty. Ihr zufolge wird eine selbstbewusst ausgelebte weibliche Sexualität, zumindest oberflächlich, nicht länger tabuisiert, sondern sogar als Gradmesser für Emanzipation gefeiert. „Ganz im Sinne des Songs der Spice Girls – ‚I’ll tell you what I want, what I really, really want‘ – gilt Selbstkenntnis als das Nonplusultra souveräner weiblicher Sexualität.“ Das mag im ersten Moment verlockend klingen, Ann-Kristin Tlusty sieht das allerdings nicht ganz unkritisch: 

“Ich glaube, dass dieses Wissen, was man will, ja nicht nur in Bezug auf Sexualität wichtig ist, sondern im sogenannten ‘Potenzfeminismus’, wie ich ihn in meinem Buch nenne, grundsätzlich gefeiert wird. Also Frauen sollten genau wissen, wie sie ihr Leben, ihre Finanzen, ihre Beziehungen und eben auch ihre Sexualität gestalten wollen. […] Ich denke, dass hier Druck entstehen kann, gerade für jüngere Frauen. Also nach dem Motto: Wenn du eine richtig gute Feministin sein willst, dann musst du auch die Freiheiten, die Generationen von Frauen vor uns erkämpft haben, nutzen. Dann musst du viel Sex haben.”

Es ist schon spannend, dass der moderne Kapitalismus sich so sehr um die weibliche Sexualität “sorgt”. Ständig bringt er neue Innovationen für unsere klitorale und vaginale Lust hervor, um die sogenannte „Orgasm Gap“ zu schließen, den statistisch nachgewiesenen Vorsprung männlicher Orgasmen auf der Skala heterosexueller Befriedigung. Nichts gegen vibrierende und saugende Sextoys, aber die Idee, Gleichberechtigung vor allem durch selbstbewusst ausgelebte Sexualität erreichen zu können, erinnert eher an „libidinöse Symptombekämpfung“. Nur, weil Sex omnipräsent ist, bedeutet es noch lange nicht, dass er befreit ist. Vor allem, wenn die vermeintliche Befreiung auf Konsum und einer „Struktur der Selbstbeschuldigung“, wie es die Philosophin Eva Illouz nennt, beruht. Was im Grunde besagt: Nicht Strukturen bremsen Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung, sondern ein Mangel an Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Eine junge Frau, die nicht kinky ist, gilt nach dieser Logik schlicht als prüde, meint Ann-Kristin. Auch, dass Frauen, ebenso wie Männer, unverbindlichen Gelegenheitssex suchen, erscheint heute vollkommen normal, gilt nahezu als Merkmal einer unabhängigen, progressiven Frau. Nur was, wenn Autonomie zum Imperativ wird, statt zur freien Wahl? Was, wenn ich mich nicht nach Gelegenheitssex, sondern nach einer festen Beziehung sehne, dann aber als bedürftig und abhängig gelte? 

“Die Herausforderungen an ein autonomes, erfolgreiches Individuum bewältigend, ist die einsame junge Frau zu einer Projektionsfläche geworden. Eine Ikone der Selbstbestimmung, eine Trümmerfrau der Moderne, die alles mit eigenen Händen schafft und schultert, bewundernswert, bemitleidenswert”, schreibt Nina Paur in der ZEIT. Die Botschaft, dass Frauen frei, autonom und selbstbewusst sein sollen, verkennt, welche Rolle sie auch heute noch in der Gesellschaft einnehmen. Dass Frauen nach wie vor den Löwenanteil der Care-Arbeit stemmen und natürlich die Reproduktion. Es spricht selbstverständlich nichts dagegen, als Frau von One-Night-Stands Gebrauch zu machen, aber zu Gleichberechtigten macht uns dann allein noch nicht.

In Ihrem Buch „Süss. Eine feministische Kritik“ fordert Ann-Kristin Tlusty deshalb, Feminismus nicht länger nur als „Lifestyle-Projekt“ und individuelle Aufgabe von Frauen zu betrachten, sondern als gesamtgesellschaftliches Projekt:

“Ich glaube, was vielen sexual-politischen Debatten momentan innewohnt, ist eine irgendwie vereinzelte Vorstellung von Sexualität. Also man soll wissen, was man will, man soll eindeutig Ja oder nein sagen. Das wird gerade Frauen sehr stark suggeriert. Und so wichtig ich diese Stoßrichtung auch finde, so schematisch finde ich sie gleichzeitig auch. Und deswegen plädiere ich für ein ganz anderes Verständnis von Sex. Also dafür, dass wir Sex stärker als etwas begreifen, was zwischen zwei oder mehr Menschen passiert. Etwas, was Menschen miteinander entstehen lassen, als etwas Intersubjektives und nichts, was A und B jeweils für sich geklärt haben und dann miteinander vollziehen. Ich finde das einfach sehr technisch. […] Ich würde mir wünschen, dass wir von dieser vielleicht nur so subtil zur Vorschein kommenden Idee wegkommen und da einfach mehr Freiheit gewinnen können. Also im Sinne von, dass einfach alles, von absoluten Zölibat bis hin zu wahnsinnig viel Sex haben als gleichermaßen feministisch gelten kann. Oder noch besser, erst gar nicht so gelabelt werden muss. Ich kann einfach von sehr vielen Frauen in meinem Umfeld Schilderungen, dass man so in seinen frühen Zwanzigern gedacht hat, dass sei man jetzt irgendwie seiner eigenen feministischen Agenda schuldig, sich sexuell voll auszutoben. Und ich glaube, dass das noch nicht Freiheit bedeutet. Ich glaube, frei ist man dann, wenn man sich da einfach in jeglicher Richtung entfalten kann.”

Weder unsere Sexualität noch unsere Kommunikation sind „herrschaftsfreie Sphären“, sondern von Drehbüchern geprägt, die wir nicht einfach vergessen, sehr wohl aber hinterfragen können. Insbesondere in der Betrachtung von Dating, und vor allem heterosexuellem Dating, können wir, so Ann-Kristin, eine ganze Menge über Geschlechter- und Machtverhältnisse lernen. Und, oh Wunder, wer hätte das gedacht, die machen sich natürlich auch in Dating-Apps bemerkbar. Schließlich ist Tinder kein wertfreier digitaler Raum, abgekoppelt von gesellschaftlichen oder ökonomischen Normen. Auch hier werden unter anderem patriarchale und heteronormative Prägungen reproduziert. Auf der anderen Seite, kann Online-Dating uns auch einen selbstbestimmteren Zugang zu Sexualität und Intimität sowie Sichtbarkeit und Sicherheit für marginalisierte Personen schaffen. Es kommt eben darauf an, wie wir Dating-Apps nutzen. Pia bleibt deshalb ein Fan von Online-Dating – nicht zuletzt, weil sie nach wie vor auf der Suche nach dem perfect fit ist: 

“Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder? Quatsch. Ich finde das immer ein bisschen schwierig, weil das einzige, worin sich online und offline Dating unterscheiden, ist ja dieser Erstkontakt. Sobald er online stattgefunden hat, verlagert sich das ganze ja sowieso ins offline Leben. Und da online halt auch nur die Menschen aktiv sind, die man auch im offline Leben theoretisch treffen kann – das sind auch alles ganz normale Menschen – kann man sich da auf jeden Fall auch verlieben? Na klar! Ob online oder offline ein besseres Dating ist, das finde ich super schwer zu sagen. Ich bin auf jeden Fall ein Fan von Online Dating, einfach weil man da viele Leute kennenlernen kann und ich ja in meinem Homeoffice sonst nur die Auswahl zwischen meinem Nachbarn habe und ja, dem netten Lieferanten, der mein Curry vorbeibringt.”

19. Juli 2022

„Oben ohne“ für alle – längst überfällig?

von Marilena 28. Juni 2022

“Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar Aufgabe der Frau?

Shownotes:

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► Anja Schmidt, Verfassungsblog: „Die nackte weibliche Brust als Sittlichkeits- und Rechtsproblem„ 07/21.
► Thomas Becker, MDR: „Halbnackt im Freibad? Was ein Jurist über nackte Brüste sagt„ 05/22.
► Denise Klein, Zeitjung: „Oberkörperfrei-Privilegien: Männer, lasst eure t-Shirts einfach an„ 09/20.
► NRD Hamburg Journal: „SPD in Eimsbüttel will „oben ohne“ in Schwimmbädern erlauben„ 06/22.
►Dlf Kultur: „Oben-ohne nur für Männer? „Nach dem Gesetz sollten alle Brüste gleich sein“ 04/22.
► Jürgen Martschukat, Konrad Adenauer Stiftung: „Über das Politische im Körper„ 12/21.
► Isaiah Berlin: Essays in Honour of E. H. Carr (1974), S. 9.

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Transkript:

Es ist ein Tag Mitte Juni in Hamburg und das Thermometer zählt schätzungsweise 28 Grad. Ich sitze im Freibad auf der Wiese – “oben ohne”. Kein Bikini, der meine Brüste bedeckt. So richtig wohl, fühle ich mich in dabei nicht. Warum und aus welchem Grund ich dennoch so dasaß, davon möchte ich heute erzählen. Dafür muss ich allerdings ein wenig ausholen. Und wir müssen ein paar Tage zurückgehen, vor den besagten Tag im Freibad.

Über meine Brüste mache ich mir ehrlich gesagt selten Gedanken. Eigentlich fallen sie mir oft erst dann auf, wenn sie – meistens von Männern – “beachtet” oder kommentiert werden. Ansonsten sind meine Brüste für mich ein Körperteil, wie jeder andere auch. Sie sind für mich “normal”. Normal, wie das Gesicht, das mir morgens im Spiegel verschlafen entgegenblickt, Zähneputzen oder der Kaffee, der meistens darauf folgt. Dinge, über die ich mir eher selten bewusst Gedanken mache. In letzter Zeit gab es allerdings häufiger Situationen, die mich über Brüste haben nachdenken lassen. Nicht nur darüber, dass ich ganz offensichtlich welche habe, ich meine vielmehr im Allgemeinen – über ihr Vorhandensein, ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft. Und wer jetzt denkt, ich spreche nur von Brüsten weiblich gelesener Personen, der täuscht sich. Denn eigentlich nahm alles seinen Anfang mit der, eines Mannes. Also der männlichen Brust – im Singular. Auch so eine Sache, über die ich mir bislang wenig Gedanken gemacht habe. Aber allein die Terminologie dieser Begriffe, oder vielmehr ihre Verwendung, macht deutlich, dass es hier wohl einen Unterschied geben muss – zumindest in der Wahrnehmung. Aber, beginnen wir ganz von vorne:

Ich sitze mit D. auf dem Balkon und wir trinken Kaffee. D. erzählt mir von einem Festival, auf dem er mit seiner Band gespielt hat. Es sei eine mega Show gewesen – allerdings gab es da so einen Vorfall, erzählt mir D.. Einer seiner Bandkollegen, der Drummer, habe sich auf der Bühne das Shirt ausgezogen. Das mache er öfter, also eigentlich erstmal nichts Besonderes. Aber nach dem Konzert, sei die Sängerin einer anderen Band zu ihnen gekommen und habe ihn darauf angesprochen. Ob er sich denn eigentlich darüber bewusst sei, dass er mit seinem nackten Oberkörper anderen Menschen – insbesondere weiblich gelesenen Personen – vor den Kopf stoßen könnte. Sie, als Frau, könne sich nicht so einfach “oben ohne” auf die Bühne stellen. Ein klassisches Beispiel von offensive masculinity, so die Sängerin. Dabei habe er sich doch gar nichts nichts dabei gedacht, erwidert der Drummer. Was genau daran offensive sei, will er wissen. Ihm das zu erklären, sei sei nicht ihre Aufgabe, lautete die Antwort der Sängerin, erzählt mir D. Autsch! Recht hat sie irgendwie. Und doch zeigt die Unsicherheit des Schlagzeugers, dass hier ganz offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen, vermutlich gar Welten aufeinandertreffen. 

Ich habe ganz grundsätzlich nichts gegen Nacktheit einzuwenden – aber die Selbstverständlichkeit mit der sich einige männlich gelesenen Personen im öffentlichen Raum ihren nackten Oberkörper präsentieren, lässt mich doch oft staunen und ich frage mich immer wieder: wieso eigentlich? Ist das einfach “typisch Mann”? Und welche Vorstellungen von Männlichkeit stecken vielleicht dahinter? Ich rufe einen Freund von mir, Anıl Altıntaş an, von dem ich glaube, dass er mir vielleicht eine Antwort darauf geben kann: 

Anıl: “Die Frage, ob das “typisch Mann” ist, würde ich anders beantworten. Ich würde sagen, es ist leider “typisch Mann”, weil sich Mann daran gewöhnt hat, in gesellschaftlichen Strukturen zu leben, die vollkommen an seine Bedürfnisse angepasst sind. Und das “Normale” daran, dass man sich zeigen kann, ist eigentlich kein Zustand, der normal sein sollte, weil er letztendlich konstruiert ist und natürlich auch mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun hat. Nämlich, dass Männer nicht in der gleichen Weise, und vor allem ihre Körper, sexualisiert, kontrolliert, limitiert und auch Objekt von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind. Und ich glaube, was daran normal ist, ist die Tatsache, dass wir uns als Gesellschaft daran gewöhnt haben, unsere Bedürfnisse vor allem an Bedürfnissen von Männern auszurichten. Und das ist es, was daran “typisch Mann” ist, dass man sich an diesen Zustand gewöhnt hat und wenig davon abhält, überhaupt darin eine Problematik zu sehen.”

Also alles eine Frage der Gewöhnung bzw. Sozialisierung? Und was sagt eigentlich das Gesetz dazu? Wie viel Nacktheit ist eigentlich erlaubt? Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen es einfach unangebracht ist, sich oberkörperfrei zu präsentieren, weil andere sich dadurch belästigt fühlen könnten. Wie zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln – was mir schon häufiger begegnet ist. Dass ein Mann mir “oben ohne” direkt gegenübersitzt und mir wenig Raum bleibt, mich diesem Anblick zu entziehen. Auch das kann Ausdruck von Macht sein – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst. Aber, wie Anıl sagt, wir haben uns als Gesellschaft scheinbar so sehr damit abgefunden, dass oberkörperfreie Männer in der Öffentlichkeit oft einfach toleriert werden. Was nicht heißt, dass sich alle damit wohlfühlen. Zwar ist Nacktheit grundsätzlich in Deutschland nicht verboten – es gibt kein Gesetz, dass es untersagt, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen – allerdings nur, wenn es ohne „sexuellen Bezug“ geschieht. Und nicht an Orten, an denen sich andere Menschen von der ungefilterten Körperlichkeit gestört fühlen können. Dann gilt Nachktheit gemäß § 118 als Ordnungswidrigkeit. Hierfür können schon mal Geldbußen zwischen fünf und 1000 Euro fällig werden. Allerdings frage ich mich: Ab wann fühlen sich Menschen gestört? Und wer beurteilt das? Das ist alles andere als eindeutig, weswegen § 118 auch als „Gummiparagraph“ gilt – eben eine sehr allgemein gehaltene Regelung, die sich ziemlich weit dehnen lässt. Aber nun genug der Paragraphen-Faselei! Worauf ich eigentlich hinaus möchte, ist die Tatsache, dass des Einen gelebte Freiheit, die eines Anderen einschränken kann. Und selbst, wenn nicht jede nackte Männerbrust, die mir im Sommer auf den Straßen begegnet, für mich zwangsläufig eine Belästigung darstellt, so macht sie mir doch eines deutlich: Ich könnte das nicht – zumindest nicht mit dieser Selbstverständlichkeit. Und damit sind wir bei “Brüste-Situation” Nr. 2:

Es ist Dienstag Abend, die Sonne scheint und ich drehe eine kleine Laufrunde entlang der Elbe. Ein anderer Jogger kommt mir entgegen – “oben ohne”. “Es ist aber auch echt heiß”, denke ich. Verständlich, wer da das Bedürfnis verspürt, sich freizumachen. Aber könnte ich mir das für mich selbst vorstellen? Als Frau, oberkörperfrei joggen? Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Blicke anderer Passanten wären mir wohl garantiert – ich würde mich unwohl und fehl am Platz fühlen. Den männlichen Jogger eben,  scheint es nicht im geringsten zu gehen wie mir. Ob der sich wohl darum bewusst ist? In diesem Moment erinnere ich mich an Schilder, die ich letzten oder vorletzten Sommer entlang der Alster gesehen habe. “T-Shirt bleibt an – alle haben fun!”, prangte groß auf denen.  Darunter eine kurze Erklärung oder vielmehr Aufforderung an männlich gelesene Personen, ihr “Oberkörperfrei-Privileg” doch bitte nicht auszunutzen. Als Zeichen des Respekts und der Solidarität mit allen Hamburger*innen. Im Prinzip das, was auch die Sängerin, die D.’s Bandkollegen ansprach, gefordert hat: Solidarität – oder im ersten Schritt zumindest Bewusstsein darüber, warum man etwas tut und was man damit vielleicht für Signale aussendet. Aber bedeutet das dann in der Konsequenz, dass sich männlich gelesene Personen grundsätzlich nicht mehr “oben ohne” zeigen sollten? Was sagt Anıl dazu?

Anıl: “Ich finde, die Schilder in Hamburg sind erstmal ein wichtiger Punkt, nämlich um auf die Problematik hinzuweisen und zum Nachdenken anzuregen. Ich würde nicht sagen, dass es eine solidarische Aktion von Männern sein sollte, sondern es ist eine Sache, die einerseits damit zu tun hat, dass sie sich im ersten Schritt reflektieren, also quasi eine Grundlage zur Reflektion. Und sie müssen natürlich auch mal drüber nachdenken, was es überhaupt heißt, in einem öffentlichen Raum seinen Körper so in einer Form darstellen zu können. Und gleichzeitig auch zu fragen, mit wieviel Einschränkungen eigentlich Personen, die als weiblich gelesen werden, umgehen müssen. Und ich glaube, es ist richtig, von einem Privileg zu sprechen. Ich sehe aber auf jeden Fall die Notwendigkeit, dass dieser Diskurs, dass nämlich Männer nicht immer, wenn sie oberkörperfrei sind, darauf hingewiesen werden, dass es ein Privileg ist und, dass sie gerade ihre Macht ausnutzen. Und ich finde, deshalb ist es eigentlich im ersten Schritt ein wichtiger Impuls.”

Und, wenn wir mal ehrlich sind, ist dieser Diskurs ja keineswegs neu: “Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar meine Aufgabe, als Frau? 

Diese Frage bringt mich zu “Brüste-Situation” Nummer 3: Es ist noch immer Juni, ich scrolle durch den Nachrichtenfeed auf meinem Smartphone und bleibe an einer Meldung hängen: “Hamburger SPD-Politikerin fordert oben ohne für alle im Schwimmbad”. Im Artikel erfahre ich, es geht hier um Paulina Reineke-Rügge. Sie ist Bezirksabgeordnete der SPD Hamburg-Eimsbüttel und hat gerade einen Antrag eingereicht, mit dem die Oberkörperfreikultur für alle Hamburger*innen möglich werden soll. Spannend! Da hake ich doch direkt mal nach, was sich die SPD von dem Antrag verspricht. ich schwinge mich aufs Rad Ich treffe Paulina Reineke-Rügge in ihrem Abgeordnetenbüro:

Paulina Reineke-Rügge: “Also einmal nur vorweg: Wenn der Antrag durchkommt, dann ist es trotzdem keine bindende Regelung für die Schwimmbäder, sondern eine Empfehlung, die der Bezirk ausspricht. Aber dadurch, dass jetzt der Diskurs da ist, bewegt sich viel in die Richtung. Und mir ist es wichtig aus dem Grund, dass ich glaube, dass eine differenzierte Kleiderordnung zwischen Männern und Frauen oder Personen generell, veraltet ist und, dass es auch veraltet ist die weibliche Brust so zu sexualisieren und diese Differenzen zu machen zwischen den Körpern. Und man muss dazu sagen, angestoßen wurde es ja in Göttingen, wo eine nicht-binäre Person Baden war, die sich dann, obwohl sie sich ja nicht mal als Frau definiert, an eine Kleiderordnung halten musste, die vorgibt, dass Frauen das nicht machen dürfen. Und das hat einfach gezeigt, dass da Aufholbedarf ist und, dass da eine Ungerechtigkeit stattfindet und keine Gleichberechtigung, wie wir sie heutzutage haben sollten oder uns wünschen.”

Von dem Fall in Göttingen hatte ich mitbekommen – der ging ziemlich viral. Jetzt erfahre ich, dass sich daraufhin eine Bewegung gegründet hat, “Gleiche Brust für alle”. Und die hat tatsächlich erreicht, dass seit dem 1. Mai diesen Jahres jede und jeder in den Schwimmbädern Göttingens “oben ohne” baden kann – allerdings nur samstags und sonntags. Also Gleichberechtigung, aber nur am Wochenende? Klingt irgendwie absurd. Ich frage Paulina, was sie davon hält:

Paulina Reineke-Rügge: “Also ich bin froh, dass da überhaupt in irgendeine Richtung gegangen worden ist. Aber ich finde die Regelung tatsächlich super merkwürdig, weil die Brust und die weibliche Brust sieht nicht unter der Woche anders aus am Wochenende. Wenn man jetzt als Grund heranziehen würde, dass die Leute sich gestört fühlen oder belästigt oder ähnliches, wäre es am Wochenende ja noch wahrscheinlicher, weil da die Bäder noch voller sind. Deswegen kann ich die Regelung tatsächlich gar nicht nachvollziehen und ich finde es dann auch wieder schwierig, weil es quasi nochmal ein Zusatz ist und noch bürokratischer. Man muss sich noch mehr merken, wann darf ich was, wie darf ich das machen? Und es sollte einfach viel, viel einfacher werden und viel, viel normaler sein, dass weibliche und männliche Brüste beide, wenn sie mögen, frei sind.”

Apropos sich merken und informieren: der Sprecher der Hamburger Bäderlänger, Michael Dietel, der hält nicht ganz so viel von dem Antrag der SPD. Wieso, will ich von ihm wissen: 

Michael Dietel: “Wir sind von dem Antrag und dessen Inhalt schon ein bisschen überrascht, denn es ist aktuell überhaupt kein Thema zwischen unseren Badegästen. Wir werden nicht darauf angesprochen. Es gibt da keine schriftlichen Rückmeldungen und auch keine Nachfragen dazu, wie es denn geregelt ist. Es scheint also so zu sein, dass für die Gesellschaft klar ist, wie man sich gemeinsam in einem Schwimmbad verhalten will und was man jeweils  anziehen kann oder vielleicht auch nicht anzieht. Von daher ja, auch unsere Hausordnung gibt es her, dass Frauen oben ohne im Schwimmbad unterwegs sein können.”

 Okay, es ist also offiziell nicht verboten. Aber ist es damit bereits erlaubt? Paulina findet, nicht ganz: 

Paulina Reineke-Rügge: “Also ganz so stimmt es ja nicht, dass es erlaubt ist, sondern die Regelungen sind relativ schwammig. Es wird davon gesprochen, dass Menschen sich angemessen kleiden müssen. Es ist aber nicht definiert, wer entscheidet, was ist angemessen. […] Und ich glaube, dass gerade jetzt durch diesen breiten Diskurs und dadurch, dass viele darüber sprechen, Menschen doch eher darüber nachdenken, ob sie es dürfen oder eben nicht dürfen, weil es vorher eben nicht geregelt war. Wenn jetzt niemand im Schwimmbad sich “oben ohne” zeigt, würde ich es wahrscheinlich auch nicht tun. Wenn aber viele Menschen es machen, weil sie jetzt davon hören oder überhaupt darüber nachdenken, ist es was anderes. Und gerade das Beispiel Göttingen hat ja gezeigt, dass es Menschen gibt, die es wollen, die es aber noch nicht dürfen. Und deswegen glaube ich schon, dass da eventuell der Wunsch besteht und es wird ja niemand dazu gezwungen. Das heißt, wenn wir uns dafür einsetzen und die Menschen sagen “möchte ich nicht machen”, muss es keiner tun. Wobei ich sagen muss, dass ich im Freundeskreis jetzt von den Resonanzen schon gehört habe. Die Leute sagen auch In einigen Situationen mache ich es doch eigentlich ganz gern und habe es aber bisher nicht gemacht, weil man sich dann doch nicht traut.”

Würde ich mich das trauen? Klar, ist mein erster Gedanke. Für mich sind meine Brüste schließlich ganz “normal”. Warum sollte ich nicht “oben ohne” ins Schwimmbad. Aber, warum tue ich es dann doch so selten? Zeit für ein kleines Selbstexperiment, denke ich mir und damit sind wir auch angekommen bei dem besagten Tag im Freibad: Ihr erinnert euch, es ist Juni, 28 Grad?! Nachdem ich einen freien Platz für mein Handtuch ergattert habe, lasse ich meinen Blick über die Wiese streifen – auf der Suche nach Verbündeten. Aber, alles was ich sehe, sind Männerbrüste. Die einzigen Frauen, die kein Oberteil tragen, liegen auf dem Bauch. Und ich nehme an, sie tun das bewusst. Verzweifelt werfe ich noch einen Blick in die Runde, aber auch der ergibt keinen Treffer. Verdammt! Ich überlege mein Experiment abzubrechen. Als einzige Frau “oben ohne”? Dazu legt sich auch noch eine Gruppe junger Männer neben mich. Das macht es nicht gerade einfacher. Aber, wo liegt eigentlich das Problem? Ich habe doch eigentlich keins – sondern ihr, denke ich mir. Ihr, die mich zu etwas macht, das ich nicht sein will – ein Objekt. Ihr, die meinen Körper parzelliert, in Fragmente zerteilt, in Brüste, losgelöst von mir als ganzem Menschen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, jegliche Kontrolle über mich selbst zu verlieren, fühle mich ausgesetzt, den Blicken, die meinen Körper scheinbar als Einladung begreifen. Aber, wie lässt sich das Problem lösen? Muss ich mich einfach nur überwinden? Zögerlich ziehe ich mein Bikinioberteil aus. Ein wenig rebellisch komme ich mir dabei vor. Allerdings währt dieses Gefühl nicht lange. Ich spüre neugierige Blicke auf mir, möchte am liebsten die Augen schließen, um sie wenigsten nicht sehen zu müssen. So soll sich Freiheit anfühlen? Nein, danke!

Wir leben in einer hypersexualisierten Gesellschaft, die eine Doppelmoral predigt, die absurder kaum sein könnte. In der ein Potenzfeminismus suggeriert: “Fühl dich frei, niemand hindert dich daran! Schließlich leben wir im ach so liberalen “wilden Westen”. Ein BH zwängt dich ein? Lass ihn halt weg! Ach, du störst dich an den Blicken, die dich beinahe ausziehen, wenn man doch tatsächlich deine Nippel erahnen kann? Tja, damit musst du eben leben. So sind sie halt, die “Männer”! Nicht zu bändigen, diese Testosteronschleudern.” So ein Unsinn, denke ich mir. Die Lösung des Problems kann doch nicht liegen, dass Frauen ihre Körper zum Schutz verhüllen oder andersherum, einfach selbstbewusster werden müssen, um “frei” zu sein. Müsste es nicht eigentlich genau andersherum sein? Anıl hält diese Sichtweise auch für ziemlich verquer, wie er mir erklärt:

Anıl: “Dieses Argument, dass Männer sich nicht im Griff haben, ist natürlich sehr problematisch. Weil es im Prinzip die Schuld bei Frauen sieht, während Männer komplett von der Verantwortung befreit werden. Es gibt ja dieses Meme, das sagt nicht “protect women”, sondern “educate your boys”. Und ich finde, das ist erst mal eine richtige und wichtige Umkehr. […] Ich glaube, dass eigentlich Problem ist, Frauenkörper immer nur zu Objektifizieren und sie nur in einem Kontext zu sehen, ohne auch zu denken, dass der Körper ihnen nicht gehört. Und dieser Besitzanspruch ist, glaube ich, ist ein großes Problem, wovon natürlich auch Männer Teil sind, auch durch die Strukturen, in denen wir aufwachsen: Erwachsenenleben, Sozialisation, durch die Art und Weise, wie unsere Medienwelt funktioniert, reproduziert, manifestiert wird. Und ich glaube, das Problem ist, dass wir Männern nicht so wenig zutrauen. Aber es gibt zu wenig Leute an gesellschaftlichen Schaltstellen, die darin ein Problem sehen, weil das aus deren Perspektive, aus einer sehr männlichen, privilegierten Perspektive, das gesellschaftliche Gefüge auseinander bringen würde. […] Das heißt, ich bin immer dabei, Männer müssen in die Verantwortung gezogen werden, weil wenn Männer diese Blicke und diese Art und Weise, wie sie mit Frauen und deren Körpern umgehen nicht in Griff kriegen, dann werden wir auch nicht in einer gerechten Welt leben. Denn man muss sich vorstellen oder Männer müssen sich eigentlich vorstellen, was das eigentlich bedeutet, keine wirkliche Kontrolle über seinen eigenen Körper und sein eigenes Wohlbefinden und seine eigene Sicherheit zu haben. Von daher, es ist unbedingt wichtig, die Sensibilität zu schaffen. Und ich glaube, idealerweise würden wir alle gemeinsam kein Problem damit haben, am See oberkörperfrei zu sein. Aber ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Aber wir müssen diese Frage stellen, damit wir irgendwann so weit sind.”

Aber, wann sind wir so weit? Und wie kommen wir dahin? Nicht nur zum “Oben ohne” für alle. Denn am Ende geht es ja um weitaus mehr. Es geht um nichts Geringeres, als Selbstbestimmung – das Gefühl und die tatsächliche Macht, über den eigenen Körper bestimmen zu können. Es geht um Handlungsfreiheit, und zwar in zweierlei Hinsicht: positiv als die Freiheit, sich nach eigenem Gusto in der Öffentlichkeit bewegen zu können, und negativ als die Freiheit, nicht mit Zumutungen, wie Sexualisierungen, konfrontiert zu werden. Ich möchte mich ohne Angst und Scham frei bewegen können – natürlich unter Achtung der Grenzen anderer. Und genau die stehen zur Debatte. Wo fangen sie an und wo hören sie auf? 

Mein kleines Selbstexperiment hat mir eines in jedem Fall vor Augen geführt: der Körper ist ein Politikum – seit jeher. Wobei „politisch“ nicht nur das meint, was in Parlamenten beschlossen wird. Politisch ist auch all jenes das die Teilhabe von Menschen betrifft und unsere Möglichkeiten, an der Gemeinschaft als deren vollwertige Mitglieder partizipieren zu können. Politisch ist aber auch die Gestaltung von Gesellschaft auf allen Ebenen und in all ihren Dimensionen, mit dem dazugehörigen Ringen um Macht und Teilhabe. Zeiten ändern sich, Werte, Normen – all das gilt es zu verhandeln, immer wieder zu hinterfragen. Oder mit den Worten von Isaiah Berlin: „To confuse our own constructions and inventions with eternal laws or divine decrees is one of the most fatal delusions of men.“ Mir ist jedenfalls klar geworden, dass die Forderung nach Teilhabe und das Aufbrechen statisch gedachter Körperlichkeit Hand in Hand gehen. Und das bedeutet immer auch ein Aufbrechen politischer Ordnungen, sozialer Strukturen und vor allem Machtverlust derjenigen, die bislang privilegiert waren. Wie sehr der Körper zentraler Fluchtpunkt dieses Ringens ist, zeigt sich nicht zuletzt in den vielen Kämpfen, die geführt werden, von Menschen, die als Gleichberechtigte anerkannt werden wollen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet anzuerkennen, dass vieles möglich und ein Denken in starren Kategorien nicht mehr zeitgemäß ist, um den gesellschaftlichen Realitäten unserer Gegenwart zu begegnen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet, anzuerkennen, dass die Art und Weise, wie wir Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit wahrnehmen, ansprechen und behandeln, ihre Position in der Gesellschaft beeinflusst. Und diese Position ist immer auch politisch.
Während ich im Freibad sitze und mein Bikinioberteil wieder anziehe, denke ich: “oben ohne” für alle, das ist keine Frage, die alleine im Schwimmbad gestellt oder gar gelöst werden könnte. Es ist auch keine Frage, die sich von mir abschließend beantworten ließe. Ich hatte zwar gehofft, zumindest ein Resumé ziehen zu können, aber auch nach vielen Gesprächen mit Freunden und Fremden, sehe ich keine Eindeutigkeit. Wohl aber die Notwendigkeit, immer wieder vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Wie auch Forderungen zu formulieren, um deutlich zu machen, worum es letztlich bei all dem Ringen im Innen und Außen geht: um Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Und die ist eigentlich nicht verhandelbar.

28. Juni 2022

Behaarte Frauen, eine Provokation?

von Marilena 31. Mai 2022

Behaarte Frauen, wo sind sie? Überall nur haarlose Frauenkörper – auf der Straße, in Filmen oder Werbebotschaften. Glatte Haut wird vorausgesetzt und eine Alternative scheint es nicht zu geben. Enthaaren sich Frauen nicht, wird ihnen oftmals ihre “Weiblichkeit” abgesprochen. Aber warum rufen Haare eigentlich je nach Geschlecht unterschiedliche Reaktionen von Anziehung bis Ekel hervor? Warum können wir nicht die Vielfalt von Körperhaarfrisuren zelebrieren, egal ob Wildwuchs, Stoppeln oder Haarlosigkeit? Um das herauszufinden, hat sich Marilena mit Anna C. Paul, Herausgeberin von Super(hairy)woman*, über das Infragestellen von Schönheitsidealen unterhalten und gemeinsam einen Blick in die Kulturgeschichte der Enthaarung geworfen.

Shownotes:

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► “super(hairy)woman*: Erfahrungsberichte im Zeitalter der Haarlosigkeit”; Hrsg. Anna C. Paul; ventil Verlag (10/21).
► Auf dem Blog super(hairy)woman* könnt ihr weitere Erfahrungsberichte und Geschichten vieler Menschen zum Thema Behaarung nachlesen – und sogar eure eigene teilen!

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31. Mai 2022

Laut gedacht: Was trauen wir Männern eigentlich zu?

von Marilena 8. Februar 2022

 

Gesundheitsvorsorge – aber als Porno getarnt – denn “Aufklärung muss dort stattfinden, wo sie die Menschen erreicht”, um es mit den Worten der Techniker Krankenkasse auszudrücken. Die hat kürzlich im Rahmen einer Hodenkrebsvorsorge-Kampagne ein Video veröffentlicht, das im Netz nun für reichlich Aufruhr sorgt. Was daran genau problematisch ist, diskutiert Marilena Berends in dieser Episode gemeinsam mit Journalistin Luisa Thomé und Autor Fikri Anıl Altıntaş. Denn das Video bietet definitiv Anlass, um über Geschlechterrollen, Männlichkeitskonstruktionen und Sexismus zu sprechen.

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► Luisa Thomé schreibt hier und ist auf Twitter und Instagram.
►Fikri Anıl Altıntaş ist auch auf Instagram und hat einen eigenen Newsletter.
► Video der Techniker Krankenkasse “Der life-saving Handjob“.
► Emelie Glaser in der taz: “Krebsvorsorge, aber als Porno”.
► Checkdichselbst – Hodenkrebs Vorsorge-Kampagne.
► Männergesundheitsportal: “Daten und Fakten zur Männergesundheit” (2020).
► Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2020): Geschlechterstereotype und Soziale Medien.

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8. Februar 2022

Ciani-Sophia Hoeder: Mit Wut zur Veränderung?

von Henrietta Clasen 27. September 2021

Die Wut ist wohl eine der grundlegendsten, menschlichen Emotionen – doch wird sie selten als positives Gefühl angesehen, als vielmehr für ihren manchmal destruktiven Charakter verschmäht. Das gilt ganz besonders für wütende Frauen: als hysterisch, zu emotional oder gar inkompetent werden sie häufig bezeichnet. Wut ist untrennbar mit Macht verknüpft und ihre Unterdrückung daher keineswegs belanglos oder zufällig, schreibt die Autorin und Journalistin Ciani-Sophia Hoeder in ihrem Buch “Wut und Böse”. Mehr “Wut zur Veränderung”, lautet ihr Plädoyer. Welche transformative Kraft in der Emotion steckt und, wie sie zum positiven Katalysator der Veränderung werden kann, darum soll es in dieser Episode gehen.

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Die heutige Episode wird präsentiert von Vodafone. Ihr könnt ab jetzt mit bis zu 1000 grünen Mbit/s im Vodafone Netz surfen – mit Strom aus 100 % erneuerbaren Energien – ab 39,99€ dauerhaft. Mehr Infos auf vodafone.de/greengigabit und im Vodafone Shop.

► Ciani-Sophia Hoeder: Wut und Böse. Hanser Literaturverlag (09/21).
► Ihr findet Ciani auch auf Twitter und Instagram.
► RosaMag: Online Lifestyle Magazin für Schwarze Frauen in Deutschland.
►Rosapedia: Was ist die “Angry Black Woman”?, RoseMag (12/2019).

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27. September 2021
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