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Aktivismus

Raphael Thelen: Letzter Ausweg “Letzte Generation”?

von Marilena 2. Februar 2023

Raphael Thelen berichtete als Journalist unter anderem für SPIEGEL und ZEIT über die Klimakrise. Allerdings scheint er dort an Grenzen gestoßen zu sein, weshalb er kürzlich verkündete, sich der Letzten Generation anzuschließen. Keine Entscheidung, die ihm leicht gefallen sein wird, denn es ist auch eine gegen den Journalismus. Deswegen hat Marilena Berends Raphael im Sinneswandel Podcast gefragt, warum er seinen Beruf aufgibt und weshalb er sich ausgerechnet der Letzten Generation anschließt.

Shownotes:

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Raphael Thelen
► Letzte Generation
► Netzwerk Klimajournalismus
► Sinneswandel Podcast: Michael Brüggemann: Wie neutral kann Journalismus wirklich sein?
► Sinneswandel Podcast: “Klimajournalismus” – ist das schon Aktivismus?

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Sie kleben sich an Straßen fest, legen damit den Verkehr lahm oder werfen Lebensmittel auf Gemälde: Die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ sorgen mit ihren Protestaktionen für Aufsehen. Nicht alle stehen hinter ihnen, einigen gehen die Aktionen zu weit. Ihr Motto: Klimaschutz ja, radikaler Protest nein danke! Andere wiederum haben Verständnis für die meist jungen Aktivist*innen. Immerhin geht es um nichts Geringeres als ihre Zukunft – und um die steht es gar nicht gut. Zumindest, wenn das 1.5 Grad-Ziel in immer weitere Ferne rückt, bis es gänzlich unerreichbar geworden ist. Da kann man doch nicht abwarten, Tee trinken und darauf vertrauen, dass sich da schon jemand drum kümmert. Das hat sich wohl Raphael Thelen gedacht. Der Journalist verkündete kürzlich, dass er sich der Letzten Generation anschließen werde. Keine Entscheidung, die ihm leicht gefallen ist, denn es ist auch eine gegen den Journalismus. Raphael hat für große Medien wie den SPIEGEL oder die ZEIT unter anderem über die Klimakrise berichtet. Allerdings scheint er dort als Journalist an Grenzen gestoßen zu sein. Oft habe er sich den Vorwurf anhören müssen, nicht objektiv genug und zu aktivistisch zu sein. Auch ein Grund, weshalb Raphael das Netzwerk Klimajournalismus 2021 mit gegründet hat. 

Daher kenne auch ich übrigens Raphael. Und ihr könnt euch denken, ich war ziemlich überrascht, als ich von den Neuigkeiten gehört habe. Deswegen habe ich Raphael kurzerhand geschrieben, um ihn zu fragen, ob und weshalb er den Journalismus aufgibt. Weshalb er sich ausgerechnet der Letzten Generation anschließt. Und, was er sich von dieser Entscheidung erhofft. Was Raphael mir darauf geantwortet hat, erfahrt ihr in Kürze. Nur kurz vorweg: Wenn ihr diesen Podcast gerne hört, freue ich mich, wenn ihr meine Arbeit unterstützt. Das geht kinderleicht via Steady oder indem ihr mir an Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Vielen Dank!

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Raphael gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. In den Shownotes findet ihr unter anderem ein paar Podcast-Tipps zu dem Thema. Und falls ihr meine Arbeit via Steady oder Paypal supporten wollt, findet ihr dort auch alle Links und Infos. Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

2. Februar 2023

MARYAM.fyi: Wieso bist du [nicht] frei?

von Marilena 5. Januar 2023

Maryam oder auch MARYAM.fyi, wie sie sich als Künstlerin nennt, ist in Deutschland aufgewachsen. Dass sie hier in Freiheit leben kann, verdankt sie ihrem Vater, der damals aus dem Iran geflohen war. Doch was bedeutet unsere Freiheit hier, wenn überall auf der Welt Menschen und insbesondere Frauen gewaltsam unterdrückt werden? Über diese Frage spricht Marilena mit Maryam, deren Leben sich seit der Ermordung der 22-jährige Iranerin Mahsā Amīnī radikal verändert hat. Eigentlich studiert sie Medizin und macht Musik – jetzt ist sie vor allem Aktivistin.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Musik: MARYAM.fyi & David Bay: BARAYE (Frau, Leben, Freiheit)
► MARYAM.fyi auf Instagram – Spotify – YouTube
► Maryam’s DIFFUS Kolumne über die Iran-Revolution
► Woman Life Freedom Collective
► Maryam’s Podcast Empfehlung: Das IRAN Update mit Gilda Sahebi & Sahar Eslah
► Maryam’s Follow-Empfehlungen: Duzen Tekkal, Natalie Amiri, Jasminshakeri, Pegah Ferydoni, Susan Simin Zare


✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

[“Baraye”]

“Für das Tanzen auf der Straße

Für die Angst sich zu küssen

Für meine Schwester, deine Schwester und unseren Schwestern

Für diejenigen, die im Gefängnis sind

Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben

Für die Frau, das Leben, die Freiheit”

So in etwa lautet die Übersetzung einiger Zeilen aus “Baraye”. Dem Lied des iranischen Musikers Shervin Hajipour, der kurz nach der Veröffentlichung inhaftiert worden war und das mittlerweile zur Hymne der Iran-Revolution geworden ist. Die Stimme, die ihr eben gehört habt, ist aber nicht die von Shervin Hajipour. Es ist die Stimme einer sehr guten Freundin von mir: Maryam oder auch MARYAM.fyi, wie sie sich als Künstlerin nennt. Maryam ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Dass sie hier in Freiheit leben kann, ist, wie sie sagt, ein Privileg. Ihr Vater ist damals aus dem Iran geflohen und hat ihr damit genau das ermöglicht: ein Leben in Freiheit. Genau die sieht sie nun aber bedroht. Denn was bedeutet unsere Freiheit hier, wenn überall auf der Welt Menschen und insbesondere Frauen unterdrückt werden? “Jin, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit” – es geht um universelle Werte. Werte, die wir hier für selbstverständlich halten. So ging es auch Maryam lange Zeit, wie sie selbst sagt. Bis zum September 2022, als die erst 22-jährige Iranerin Mahsā Amīnī gewaltsam getötet wurde. Seitdem hat sich Maryam’s Leben radikal verändert. Beinahe täglich postet sie auf Instagram, versucht Aufmerksamkeit zu schaffen für die Protestierenden im Iran und die Inhaftierten, denen zum Teil die Todesstrafe droht. Eigentlich müsste Maryam für ihr Examen lernen. Sie studiert Medizin. Aber so richtig den Kopf dafür hat sie gerade eigentlich nicht… 

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich lerne am meisten durch Geschichten. Ich weiß nicht, ob ich die Dringlichkeit und Relevanz der Revolution im Iran – auch für uns hier – verstanden hätte, wäre Maryam nicht meine Freundin. Deswegen bin ich ihr umso dankbarer, dass sie sich bereit erklärt hat, heute mit mir im Podcast zu sprechen und ihre Geschichte mit uns zu teilen. Und wer aufmerksam zuhört, da bin ich mir sicher, wird verstehen, es ist auch unsere Geschichte.

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Maryam gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. In den Shownotes habe ich außerdem vieles von dem, was Maryam genannt hat – ihre Kolumne, Personen, denen es sich lohnt zu folgen, uvm. – verlinkt. Und ihr wisst, dieser Podcast wäre nicht möglich, wenn es nicht ein paar Menschen gäbe, die meine Arbeit unterstützen. Danke an alle, die das bereits tun. Damit ich Sinneswandel weiterhin produzieren kann, freue ich mich über euren Support. Das geht ganz einfach über die Plattform Steady oder indem ihr mir via Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Das geht auch schon ab einem Euro und steht alles in den Shownotes.

Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

5. Januar 2023

Sebastian Vettel: Wo siehst du deine Zukunft?

von Marilena 24. November 2022

Motorsport und Nachhaltigkeit – passt das zusammen? Diese Frage hat sich auch Rennfahrer Sebastian Vettel zunehmend gestellt. Bis 2030 will die Formel 1 klimaneutral sein. Zu diesem Zeitpunkt wird Vettel bereits ausgestiegen sein. Denn am 20. November 2022 fuhr er sein vorerst letztes Rennen. Weshalb er seine Karriere in der Formel 1 beendet und wo er seine Zukunft sieht, darüber hat sich Marilena Berends mit dem viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel unterhalten.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Sebastian Vettel
► F1 Sustainability Strategy
► IPCC Special Report Global Warming of 1.5 ºC
► Motorsport Week: Aramco deal worth more than $450m to Formula 1
► SPIEGEL: Börsengang von Saudi Aramco: Der wertvollste Klimasünder der Welt
► stern: Dicker als Blut: Wie die Öl-Industrie von Krisenzeiten profitiert 
► F1 Statement of Commitment to Respect for Human Rights
► Medium: An Alternative Calendar Could Cut F1’s Logistical Carbon Emissions by Almost Half

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Redaktionelle Unterstützung: Céline Weimar-Dittmar

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Schnelle Autos, röhrende Motoren, der Geruch von Benzin. Wer dieses Bild vor Augen hat, denkt vermutlich nicht gerade an Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das, was Motorsport-Fans so lieben, fordert einen hohen Preis: Rund 260.000 Tonnen CO2 hat die Formel-1 alleine in der Saison 2019 verursacht. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa 60.000 PKWs, die ein Jahr lang gefahren werden. Wobei in den Statistiken der Formel-1 nicht mal die Anreise der Fans erfasst wird. Und die werden, auch dank der Netflix-Serie „Drive to Survive“, immer zahlreicher.

Ehrlich gesagt, hat sich mir die Faszination für schnelle Autos, die im Kreis fahren, nie wirklich erschlossen. Ein bisschen besser verstehen konnte ich es allerdings, als ich Rennfahrer Sebastian Vettel kennengelernt habe. Der viermalige Weltmeister ist nicht nur einer der erfolgreichsten Rennfahrer der Formel-1, in den vergangenen Jahren hat er sich auch zunehmend kritisch gegenüber der Branche geäußert. Denn auch, wenn die Formel-1 2019 eine Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt hat, mit dem Ziel bis 2030 klimaneutral zu sein, werden nach wie vor wenige Schritte gegangen, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. 

Auch, wenn Sebastian und ich uns vor allem über seinen eigenen Sinneswandel unterhalten haben, ist diese Episode gleichzeitig ein Versuch, den Einfluss der Formel-1 und ihre Verantwortung im Hinblick auf Nachhaltigkeit zu beleuchten. Ebenso, wie die Chancen aufzuzeigen, die in einem Umdenken der Sportindustrie liegen. Denn Millionen von Fans eifern Menschen, wie Sebastian Vettel, nach. Was würde also passieren, wenn mehr Sportlerinnen und Sportler sich öffentlich äußern und Druck auf die Branche ausüben? Könnte damit ein Wandel beschleunigt werden?

Bevor wir in das Gespräch einsteigen, lasst mich noch eins vorweg sagen: Das Thema Nachhaltigkeit ist komplex. In einer Stunde lässt es sich nicht vollständig abbilden. Es gibt viele, um nicht zu sagen zu viele Aspekte im Hinblick auf den Motorsport, auf die näher eingegangen werden sollte und muss. Ich habe mich auch gefragt, ob ich das Gespräch so veröffentlichen kann und habe mich schließlich dafür entschieden. Denn es bietet vor allem einen persönlichen Einblick in ein Leben, das zunehmend von Widersprüchlichkeiten geprägt war. Und die gehören nun mal nachweislich zu unserer Welt dazu. Oder etwa nicht?


Marilena: Herzlich Willkommen Sebastian im Sinneswandel Podcast. Schön, dass wir heute hier sitzen und danke, dass ich bei dir zu Gast sein darf. Denn eigentlich muss man das ja so sagen.

Sebastian: Ja, danke, ich freue mich. Danke schön.

Marilena: Ich glaube, einige der Zuhörerinnen und Zuhörer des Podcasts fragen sich, weshalb jetzt ausgerechnet wir beide hier sitzen. Denn ein bekennender Formel-1-Fan bin ich nicht. Aber, dass wir uns heute hier unterhalten, hat eigentlich auch weniger mit Autorennen selbst zu tun, als vielmehr mit deinem eigenen Sinneswandel. Du hast nämlich am 28. Juli dieses Jahres das Ende deiner Karriere in der F1 verkündet. Deshalb würde mich zunächst interessieren: Wie ist es zu diesem Sinneswandel gekommen, dass dir das, was du lange Zeit getan hast und worüber man dich kennt, jetzt nicht mehr so gefällt?

Sebastian: Ich glaube, es ist weniger die Tatsache, dass es mir nicht mehr gefällt, sondern vielmehr die Tatsache, dass es eben andere Dinge gibt, die in meinem Leben gewachsen sind. Andere Interessen, wie meine Familie. Ich habe drei Kinder. Und ja, der Sport war mein Leben und hat meinen Rhythmus, meinen Tagesablauf bestimmt, solange ich mich erinnern kann. Und er hat ein festes Raster mit sich gebracht: Die Saison geht im Frühjahr los, Januar, Februar, mit den ersten Terminen, den ersten Tests. Dann folgen die ersten Rennen im März und dann geht es Schlag auf Schlag bis in den November, Ende November, Anfang Dezember, teilweise sogar bis kurz vor Weihnachten den letzten Termin. Und dann ist eigentlich Weihnachten, die freie Zeit, und dann hat man ein paar Wochen, wo mehr Ruhe ist und dann geht es wieder los. Ich musste mich in dem Sinn eigentlich nie kümmern und nie sorgen, wie das nächste Jahr aussieht, weil es irgendwie immer weiter ging. Und ich will nicht sagen, ich bin dem in den letzten Jahren entwachsen, ich glaube, das geht ein bisschen zu weit, aber ich glaube, es kommen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits bin ich Vater von drei Kindern.

Marilena: Da verändern sich die Prioritäten?

Sebastian: Ja. Und wenn dann das Alter irgendwo erreicht wird von den Kids, dass sie sagen: “Warum musst du gehen? Bleib doch hier!” Und der Abschied mir selber auch sehr schwer fällt, ich glaube, das bewegt einen einfach und macht was mit einem. Ich habe mir sehr viele Gedanken, auch mit Hilfe von außen, darüber gemacht, welcher Typ ich eigentlich bin. Was mich eigentlich so wirklich reizt und am meisten antreibt. Und dann ist es doch der sportliche Erfolg. Also sehr von außen in dem Sinne bestimmt. Und da die letzten Jahre nicht mehr so erfolgreich waren, war ich zwangsweise in einer neuen Situation, mit der ich mich auseinandersetzen musste. Aber ja, ich glaube, es gibt immer Höhen und Tiefen. So kamen dann ein paar Dinge zusammen. Und dazu das Bewusstsein, dass sich hier andere Interessen entwickelt haben.

Marilena: Zum Beispiel? Lernst du nicht Alphorn, oder so ähnlich?

Sebastian: Ja, okay, das ist jetzt vielleicht nicht die größte Priorität in meinem Leben, es geht auch sehr schleppend voran. Aber ja, ich sag mal, über den Sport hatte ich natürlich die Möglichkeit, sehr viele Dinge und Leute kennenzulernen und habe mich dann auch irgendwann mit dem Thema Ernährung auseinandergesetzt  Und so hat es mich in die Landwirtschaft getrieben: Wie werden Dinge angebaut und wie viel gibt man dem Boden zurück? Oder nimmt man eben nur das, was auch sehr viel Potenzial im Positiven haben kann, um den Klimawandel oder die Klimakrise zu bremsen oder aufzuhalten oder umzukehren. Und auch, wenn mein Zugang vielleicht nicht der Logischste war, über die Landwirtschaft, aber dann hängt ja so viel miteinander zusammen. Und so ist eigentlich in den letzten Jahren viel mehr Bewusstsein in mir gewachsen, dass ich Dinge, die ich vielleicht früher gesehen, aber nicht verstanden habe, jetzt verstehe und zusammenführen kann.

Marilena: Die Motorsportwelt ist ja nicht unbedingt eine, in der man zwangsläufig mit Themen, wie Umwelt oder Nachhaltigkeit konfrontiert wird. Eigentlich kann man sich, wenn man die Entscheidungen trifft, durchaus davon fernhalten, von genau solchen Fragen. Was war ein Moment in deinem Leben, es gab vermutlich nicht diesen einen Großen, gehe ich von aus, aber vielleicht mehrere, die dich bewusst haben werden lassen, dass du vielleicht nicht mit allem d’accord gehst?

Sebastian: Ich glaube nicht, dass es nur einen Zugang in dem Sinne gab, sondern eher, dass sich dann auf einmal eine ganze Welt erschlossen hat. Und ich habe dem mehr Raum gegeben. Vor jetzt zwei Jahren, zur Corona Zeit, als die Pause war, habe ich auch ein kleines und Praktikum auf dem Bauernhof gemacht, um das ein bisschen zu vertiefen. Und ich glaube, vor allem das Thema Zukunft, als Vater beschäftigt einen das natürlich, weil man ja möchte, dass die Kinder es genauso gut haben wie man selbst. Dass die Welt, die sie vorfinden, genauso blüht, genauso grün ist, genauso schön ist und sicher ist. Und ja, so hat sich immer mehr ein Bild vor mir aufgetan und wurde immer größer. Und ich muss auch sagen, es wurde dann teilweise so groß, dass es mich erdrückt hat.

Marilena: Welches Bild?

Sebastian: Das Bild von der Zukunft. Wie die Zukunft aussieht, wo die Reise vielleicht in Zukunft hingehen könnte, für uns alle, wenn wir nicht alle unser Bestes geben. In dem Sinne, das in die richtigen Bahnen zu lenken.

Marilena: Wenn man eine Leidenschaft, beziehungsweise bei dir einen Beruf ausübt, der dazu beiträgt, dass sich das Problem verschärft, dann löst das ja auch ein Gefühl von Inkongruenz aus oder vielleicht sogar von Schuld aus, was du vielleicht auch nicht mehr ertragen konntest?

Sebastian: Natürlich. Ich meine, es wurde mir dann immer mehr bewusst. Man landet ja sehr schnell bei sich selbst oder eigentlich als erstes bei sich selbst, das zu hinterfragen. Und das war das erste Mal überhaupt, dass ich das in Frage gestellt habe. ich meine, mir war klar, dass ich vorher keine Menschenleben gerettet habe und immer noch nicht rette damit. Aber meiner Leidenschaft bin ich mein Leben lang nachgegangen. Aber das dann mehr oder kritischer zu hinterfragen, natürlich mit den Dingen, die mir dann klar geworden sind, was die Zukunft angeht und auch die Ängste, die damit zusammen verbunden waren und sind, zu hinterfragen: “Was mache ich eigentlich, wie bewege ich mich fort, was kann ich eigentlich besser machen?” Okay, das Fahren in dem Sinne kann ich nicht verändern. Ich kann nicht das Reglement umschreiben, aber ich kann die Dinge kontrollieren, die in meinen Händen liegen. Wie ich anreise, und so weiter. Aber dann wurde mir auch klar, dass ich einen Unterschied machen kann, aber das große Ganze gar nicht so im Griff hatte. Dann bin ich sehr schnell bei der Frage gelandet: “Ist das noch in Ordnung? Sollte ich das noch weitermachen?” Und teilweise hat mich das sehr beschäftigt, teilweise sehr fertig gemacht, sodass ich nicht schlafen konnte. Was glaube ich, normal ist, wenn man sich so fragt: “Sollte ich noch hier sein? Macht das noch einen Sinn? Macht mir das noch Spaß?”

Marilena: Du hast dich ja auch immer wieder kritisch geäußert. Und, dass die Medien das dann abbilden, um dich kreisen, das veröffentlichen, das hat ja auch dazu geführt, dass Menschen sich eine sehr starke Meinung darüber bilden, ob das jetzt richtig oder falsch ist, dass du solche Aussagen triffst. Als Person, die diesen diesen Sport betreibt, der nicht gerade dafür bekannt ist, Menschenrechte zu fördern, zum Beispiel LGBTIQ, Rechte oder eben besonders nachhaltig zu sein. Heuchelei wurde dir in den Medien vorgeworfen. Wie siehst du das?

Sebastian: Ist es ja auch, zu einem Teil. Ich meine, es ist ja genau der Konflikt, den ich auch im Kopf in gewisser Weise mit mir rumgetragen habe, gerade, was das Thema angeht. Ich glaube, um das Thema Menschenrechte weniger, dass ich selber gedacht habe, dass von mir gedacht wird, dass das nicht zusammenpasst. Ich glaube schon, dass ich in der Hinsicht eine gesunde Einstellung dazu habe, wie man mit Leuten umgeht.

Marilena: Trotzdem bist du ja Teil eines Systems.

Sebastian: Absolut. Aber ich meine ganz individuell. Aber die andere Seite ist eben, wenn man sieht, was die Gefahren in Zukunft angeht und wo die Reise hingehen könnte für uns alle und wie viel von der jetzigen Welt aufs Spiel gesetzt werden kann oder wird. Ja klar, es ist ja auch gerechtfertigt, wenn die Leute mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: “Wieso sollte man ihm glauben? Gerade er, aus der Welt, verbläst Ressourcen zum Spaß haben oder um Leute zu unterhalten.” Und das stimmt auch. Am liebsten wäre es mir, wenn es nicht so wäre, dann müsste ich das nicht mit mir herumtragen. Denn ich glaube, der Tag, an dem mir das klar geworden ist, war nicht der fröhlichste Tag im Kalender. Im Gegenteil. Aber da ich ein Optimist bin und sehr lösungsorientiert bin, habe ich mir direkt die Frage gestellt: Was kann ich tun? Alles kann ich nicht kontrollieren. Ich kann nicht das Reglement ändern. Ich kann nicht sagen, die Formel 1 findet nur noch auf einer Rennstrecke statt, damit niemand mehr reisen muss. Das nimmt natürlich auch den Reiz. Dann ist auch die Frage, gewisse Dinge lassen sich optimieren, aber gänzlich verbieten oder wegnehmen kann man sie auch nicht. Man kann nicht von einer Weltmeisterschaft sprechen, wenn sie nur an einem Ort ausgetragen wird.

Marilena: Gleichzeitig kannst du aber Druck ausüben.

Sebastian: Das hat sich eigentlich eher ergeben, dass Leute mich nach meiner Meinung gefragt haben. Vielleicht habe ich mich früher einfach enthalten oder sie nicht in der Tiefe beantwortet. Aber ich finde das sehr spannend. Die Leute von außen haben ein Bild von mir und man “kennt mich”, aber so wirklich kennen, tun die Leute mich nicht. Und das ist auch bewusst so, weil ich eben immer eine gewisse Schutzwand um mich herum aufgebaut oder aufrecht stehen habe lassen. Gerade zum Schutz meines Privatlebens und damit meiner Frau und vor allem meinen Kindern. Natürlich werde ich hier oder da erkannt, aber ich mache alles, worauf ich Lust habe. Also, dieses was Besonderes sein oder speziell sein oder berühmt sein wollen, ich weiß ich nicht warum manche Leute da total drauf abfahren. Mich hat das noch nie getriggert. 

Marilena: Rennfahrer sein ist ein großer Teil deiner Identität bis heute und wird es vermutlich auch bis zu einem gewissen Grad bleiben. Aber hast du manchmal auch Angst davor, vielleicht sogar in ein Loch zu fallen, wenn jetzt die Formel eins Karriere beendet ist? Oder siehst du es primär als große Chance, dich neu zu entdecken oder wiederzuentdecken?

Sebastian: Wenn ich ganz ehrlich bin, beides. Und weil ich eben so viel darüber nachgedacht habe, bis ich gemerkt habe, es gibt jetzt mehr Gründe für mich aufzuhören oder einen Strich zu ziehen und Neues zu entdecken. Aber natürlich habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht oder Angst davor, was ist, wenn ich in diesem neuen Leben nicht klarkomme, wenn ich scheitere. Auch wenn ich sehr interessiert bin und neugierig und viele Fragen stelle und mich für viele Dinge begeistern kann und zu Hause mit den Kindern immer was los ist. Eigentlich hat sich viel angehäuft. Trotzdem stellt man sich die Frage: Ist das wirklich ausreichend? Erfüllt mich das? Werde ich damit glücklich oder sehne ich mich dann zurück? Und komme ich dann zu dem Punkt, dass ich sage, ich habe einen Fehler gemacht, aufzuhören? Letzten Endes bin ich an dem Punkt gelandet, dass ich die Antwort darauf nicht finden kann. Nur der Mut ins neue Leben wird mir zeigen, ob die Entscheidung in dem Sinne auch richtig war. Aber ich glaube, das ist auch ganz normal. Ich denke, es ist auch ein Zeichen dafür, dass ich das sehr liebe. Es ist ja nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben lang das gemacht, was ich jetzt zutiefst bereue. Ganz im Gegenteil.

Marilena: Eigentlich muss man ja sagen, dass euer Beruf nicht unbedingt auf den vorderen Plätzen steht, die besonders zukunftsfähig sind. Und ihr wollt ihn ja eigentlich erhalten. Könnten sich Rennfahrer innen nicht noch mehr solidarisieren?

Sebastian: Ich glaube, das könnten wir. Und ich denke, das wäre sehr gut. In der Formel 1 ist die Gemeinschaft teilweise gut, teilweise nicht so gut. Und zwar aus dem Grund, dass doch jeder sehr isoliert in seiner Mannschaft, in seinem Team ist, ein bisschen abgekapselt. Wir haben nicht viele Berührungspunkte. Außer am Wochenende auf der Strecke vielleicht, aber sonst wenig Zeit, die wir in dem Sinne zur Verfügung haben oder miteinander verbringen. Ich will nicht unfair sein, aber es kommt natürlich auch darauf an, wie weit man sich davon berühren lässt, von dem, was in der Welt passiert. Ob das jetzt Ungerechtigkeit sein mag oder die Klimakrise, die Zukunft. Ich will den anderen nicht zu nahe treten, aber ich glaube, man findet ein sehr gutes, ohne sich groß zu kümmern, was links und rechts passiert.

Marilena: Hat das auch  mit dem Druck zu tun, der auf den Rennfahrern liegt? Mit dem Bild, das die Rennfahrer glauben erfüllen zu müssen?

Sebastian: Das Bild erfüllen, vielleicht einerseits, aber ich glaube vielmehr, man rutscht da einfach rein. Ich meine, man ist das ganze Jahr unterwegs, man reist sehr viel. Man möchte ja auch erfolgreich sein. Und was steckt hinter dem Erfolg? Das ist sehr viel mehr, als sich vielleicht zweimal im Jahr aufs Rad zu setzen und dann zu sagen: “Jetzt geht’s zur Tour de France, weil Radfahren macht mir Spaß!” Es wird ja alles akribisch geplant und da steckt eben viel mehr dahinter. Und ich glaube, dass wir in der Hinsicht jetzt nicht am körperlichen Limit operieren müssen, um sportlich unsere Leistung zu bringen. Ich weiß es ist ein sehr komfortables Leben in dem Sinne. Und dann kommt eins zum anderen. Und wenn man die Dinge nicht so an sich heranlässt, weil man zu sehr im Tunnel ist – vielleicht war ich das auch selber früher und habe das nicht so wahrgenommen. Und dann gibt es auch nicht so viele Mitstreiter, die ähnlicher Meinung sind oder so weit gehen, dass sie sich selbst hinterfragen.

Marilena: Also die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann mal eine “Formel 1 For Future“ gibt, siehst du als nicht so groß?

Sebastian: Wer weiß. Ich glaube, es ist eine Frage des Bewusstseins. Ich meine, wir reden ja auch in unserer Gesellschaft darüber, dass Leute noch gar nicht so richtig verstehen, was überhaupt das Problem ist. Man redet zwar von von Dürre und Hitze, weil es gerade warm ist, aber ich glaube, dass das große, breite Verständnis, dass es da wirklich einen Zusammenhang gibt mit der Art und Weise, wie wir alle leben – gerade im Westen – dass es da viele gibt, die das noch nicht so nicht so verstanden haben. Und ich glaube, man muss dann nicht unbedingt nur mit dem Finger auf die Formel 1 zeigen und auch nicht nur auf den Sport, da gibt es auch Leute, die, ohne das zu werten, ein ganz gewöhnliches Leben haben und da noch weit weg von sind.


Sebastian hat in dem Punkt Recht, dass es noch immer viele Menschen gibt, die sich der Dringlichkeit der Klimakrise nicht ausreichend bewusst sind. Oder sich zumindest nicht  mitverantwortlich fühlen. Allerdings ist es ein Unterschied, wenn sich Menschen, wie Mohammed Ben Sulayem, Präsident der FIA, der Dachverband der Formel 1, vor dieser Verantwortung drücken. Das Ausmaß der Verantwortungslosigkeit, wenn man in einer Schlüsselposition des weltweiten Automobilsports sitzt, ist ein ganz anderes. Auch, wenn der Einfluss von uns als einzelnen Bürger*innen nicht zu unterschätzen ist, bedeutet es nicht, dass die Verantwortung gleichermaßen aufgeteilt ist. Wer Macht beansprucht, weil er in Machtpositionen sitzt, hat dieser Position gerecht zu werden. 


Sebastian: Also ich glaube, da gibt es noch sehr viel Potenzial. Und letzten Endes ist es wie in der Schulklasse, es ist ein Schnitt durch die Gesellschaft. Und so ist es bei uns in gewisser Weise auch. Es sind 20 verschiedene Fahrer, 20 verschiedene Typen.

Marilena: Allerdings haben sie eine sehr große Reichweite. Wenn man die 20 Formel 1 Rennfahrer, von denen, die Instagram haben – du hast es ja mittlerweile auch – die Follower zusammenzählt, dann kommt man auf 100 Millionen. Das ist ja schon ein ganzes Sümmchen. Und ich weiß nicht, ob der Durchschnitt der Menschen auf der Welt Millionen von Followern hat. Mir geht es gar nicht darum, das zu kritisieren. Mir geht es eher darum, dass darin ja auch eine Chance liegt. Das lässt sich nicht nur auf die Formel 1 beziehen, sondern auf den Sport generell, dass da ein großes Potenzial liegt. Also auch darum, wenn es darum geht, Vorbild zu sein. Sportler*innen sind für Menschen, Leute, denen sie nacheifern. Wie siehst du das? Könnte darin nicht ganz viel Potenzial liegen?

Sebastian: Natürlich ist die Reichweite sehr groß. Wir fahren fast überall auf der Welt, in vielen Ländern, und erreichen sehr viele Leute. Und damit ist auch die Chance riesengroß, auf Dinge aufmerksam zu machen, die wichtig sind. Die Chance ist auf jeden Fall da. Und mit so viel Reichweite, finde ich, ist auch extrem viel Verantwortung gebunden für unseren Sport. Aktuell verblasen wir Ressourcen. Ich bin der Meinung, das ist jetzt keine super futuristische Meinung, dass die Zukunft fossilfrei sein muss. Und dann ist die Frage, welche Rolle kann der Motorsport einnehmen, dass er nicht verschwindet, in den Hintergrund gedrängt wird, weil er keinen Platz mehr hat. Das wäre sehr schade, weil er mir am Herzen liegt. Im Gegenteil, ich bin eher der Meinung, man müsste vor der Welle sein und nicht nur reagieren auf ein bisschen Druck von außen. Sondern sich selber so hohe Ansprüche stellen, dass man alles dafür gibt und auch bereit ist, letzten Endes auf Umsatz oder Profit zu verzichten, um das in die richtigen Bahnen zu lenken. Was die Zukunft angeht, ich glaube, dass Elektromobilität kommt, kommen muss, ist keine Frage mehr. Dass es andere Lösungen geben wird, wie Wasserstoff, ist auch keine Frage. Dass es vielleicht noch irgendetwas anderes in Zukunft geben wird, das wir noch nicht kennen, dem sollten wir uns auch nicht verschließen. Dass wir so weitermachen wie bisher, das ist einfach nicht mehr drin, weil die Gefahren und die Risiken uns bekannt sind. Und dann hört das ja nicht nur bei uns auf. Der Anteil der Emissionen, die wir beim tatsächlichen Fahren oder Testen verursachen, sind sehr gering, im Verhältnis zu dem ganzen Zirkus.


Das stimmt allerdings! Lediglich 0,7 Prozent der gesamten CO2-Emissionen der Formel-1 lassen sich auf die Rennen selbst zurückführen. Dennoch setzt die Formel-1 in Punkto Nachhaltigkeit vor allem auf die Forschung und Entwicklung effizienter Verbrennungsmotoren und nachhaltiger Treibstoffe. Zwar wird es ohne technische Innovationen nicht möglich sein, Net Zero zu erreichen, mit neuer Technik allein, das haben Wissenschaftler*innen im letzten IPCC-Bericht wieder klar gemacht, wird es auch nicht gelingen.

Offen ist ja aber auch noch die Frage: Wenn der Löwenanteil der Emissionen nicht auf der Rennstrecke verursacht wird, wo dann? Das lässt sich leicht beantworten: Drei Viertel des CO2 entsteht durch die Logistik, also beim Transport etwa von Autos und Reifen. Denn zu den 22 Rennen, die in einer Saison und auf dem gesamten Erdball verteilt stattfinden, muss schließlich alles transportiert werden – natürlich auch die Fahrer und das Team. Deren Business-Trips machen weitere 27 Prozent der Emissionen aus. Der verbleibende CO2-Ausstoß lässt sich auf die benötigte Infrastruktur, wie Bürogebäude, aber natürlich auch die Organisation der Events zurückführen. Bei letzterem ist die Anreise der Fans übrigens nicht mit eingerechnet.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch, wenn die Formel-1 bereits einiges getan hat, um, sagen wir mal “grüner” zu werden, lässt sich bezweifeln, dass sie es mit den noch geplanten Schritten schaffen wird. Vor allem, wenn man die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und Konzernen bedenkt… 


Sebastian: Ich meine, es gibt natürlich das Problem, dass es unheimlich viel Energie benötigt, um synthetische Kraftstoffe herzustellen. Es ist nicht die effizienteste Form der Energieumwandlung oder -verwertung. Aber wir können nicht von heute auf morgen den Hahn abdrehen, das geht auch nicht. Es wäre zwar schön, aber das geht natürlich nicht, weil wir viel zu abhängig davon geworden sind. 

Marilena: Von Aramco meinst du?

Sebastian: Ohne jetzt den Namen zu nennen, aber ich sage mal, natürlich sind wir mit allem, was wir konsumieren, so wie wir leben – nicht nur die Leute, die Auto fahren und das noch zum Spaß, auch sonst – darauf angewiesen. Ich glaube, keine Industrie ist davon verschont. Aber trotzdem müssen wir natürlich alles dafür tun, dass wir die Brücke schaffen, hin zu der Zukunft, die wirklich den Kreislauf schließt. Und da sehe ich die Chance, dass die Formel eins sich vorne positionieren kann und nicht ständig nur hinterher rennt. 


Die spannende Frage ist natürlich: Kann die F1 überhaupt klimaneutral werden, wenn sie auch finanziell an fossile Energieträger, wie Aramco, gebunden ist? Der saudische Ölgigant, dessen Namen nicht genannt werden darf“ – zumindest von Sebastian. Denn Aramco ist nicht nur der drittgrößte börsennotierte Ölkonzern der Welt, sondern auch Titelsponsor von Aston Martin, dem Rennstall, dem auch Sebastian angehört. Also sein Arbeitgeber. Ein guter Deal für die Formel-1, der ihnen umgerechnet rund 535 Millionen Euro einbringt  Für das Klima allerdings kein gutes Geschäft, wenn man bedenkt, dass Aramco mit rund 60 Gigatonnen CO2, die es zwischen 1965 und 2017  in die Atmosphäre geblasen hat, für fast 4,4 Prozent aller nicht natürlichen Emissionen weltweit verantwortlich ist. Natürlich kündigte Aramco, wie eine Reihe anderer Ölkonzerne, 2021 an, sich zur Netto-Null bis 2050 zu verpflichten. Laut einer Analyse des Think Tanks Carbon Tracker reichen die Pläne aber bei weitem nicht aus. Denn eigentlich müsste Aramco, um “Netto-Null” zu erreichen,  die fossilen Rohstoffe in der Erde lassen. Und das entspricht natürlich nicht ihrem Geschäftsmodell. Daher besteht auch ein großer Teil der geplanten Maßnahmen zur CO2-Reduzierung im Kauf von CO2-Kompensationen, mit denen sich Aramco erhofft, freikaufen zu können.

Zwar kündigte Aston Martin an, durch die Partnerschaft mit dem Ölkonzern auch gemeinsam die Forschung nachhaltiger Treibstoffe voranzutreiben. Das allein dürfte jedoch keinesfalls die diversen Kritikpunkte aufwiegen, die sich noch nennen ließen. Wie zum Beispiel, dass Aramco, wie kein anderes Unternehmen weltweit, massiv von den globalen Folgen für den Energiemarkt des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine profitiert. Allerdings überrascht das wenig, wenn man sich der Menschenrechtslage im autoritär regierten Saudi-Arabien bewusst ist. Es gibt keine Wahlen, Opposition und Kritik werden schwer, zum Teil mit Todesurteilen, bestraft. Die Lage im Land hat die Formel 1 allerdings nicht davon abgehalten, Saudi-Arabien in den Kreis der Ausrichter Länder aufzunehmen. Und das, obwohl es von der Formel-1 eine Verpflichtungserklärung zur Achtung der Menschenrechte gibt. Auf Anfragen der Deutschen Welle, warum man in Saudi-Arabien dennoch Rennen abhält, gab die Formel-1 bislang keine Antwort.


Sebastian: Letzten Endes hängt es immer am Geld, dazu bereit zu sein, auf einen gewissen Teil des Profits zu verzichten und den dort reinzustecken, wo er zumindest nicht so schädlich oder nicht so einen großen Fußabdruck hinterlässt. Oder im Gegenteil, die Leute  auf diese Reise mitnehmen und sich selber kritisch hinterfragen und das, was, was passiert, versucht, besser zu machen.

Marilena: Ich würde sagen, eigentlich sind der Formel 1 die Hände gebunden, zumindest in dem Sinne kann sie sich gar nicht kritisch äußern oder zukunftsfähig aufstellen, weil sie von Sponsoren abhängig ist, die nicht besonders zukunftsfähig sind und das Problem verschärfen, wenn es um die Klimakrise unter anderem geht. Wäre es nicht auch eine Chance, nachhaltige Pionierunternehmen als Sponsoren zu gewinnen? Davon gibt es mittlerweile diverse.

Sebastian: Absolut. Aber der Grundsatz wäre eben: Geld ist nicht gleich gleich Geld. Sondern: Wo kommt das Geld her? Bzw. für was steht es? Ja, ich glaube, da ist noch ein Weg zu gehen. Und wie gesagt, von heute auf morgen lässt es sich nicht gänzlich ändern. Aber wir müssen. Wir hätten schon gestern anfangen sollen und dann sollten wir zumindest heute anfangen und spätestens morgen. Aber nicht auf übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr verschieben, sondern jetzt anfangen. Egal, ob klein oder groß. Natürlich machen die großen Schritte deutlich mehr Sinn, aber auch die “low hanging fruits“.

Marilena: Was sind das?

Sebastian: Zunächst wäre es, den Kalender sinnvoll zu gestalten. Also nicht ein Rennen mitten in der Saison, dann in Amerika oder in Kanada auszutragen, dass alles dorthin geschickt werden muss, wie die Autos.


Klar, das nachhaltigste Rennen ist das, was nicht stattfindet. Nichtsdestotrotz ist eine Umgestaltung des Rennkalenders nicht zu unterschätzen. In der Saison 2022 sah der nämlich wie folgt aus: Von Saudi Arabien aus, wo im März gefahren wird, geht es für die gesamte Formel 1 in das knapp 13.000km Luftlinie entfernte Australien. Danach geht es, ist doch ganz logisch, nach Italien. Das sind ja auch nur 16.000km mit dem Flugzeug. Und wer denkt, wir bleiben jetzt in Europa, der täuscht sich. Denn das nächste Rennen findet im Mai in Miami statt. Und erst danach geht es wieder zurück nach Europa, nämlich nach Spanien. So kommt man, bei 22 Rennen, ich habe das mal für euch ausgerechnet, auf etwas mehr als 121.000km Luftlinie, die zurückgelegt werden. Und wir erinnern uns, nicht nur die Fahrer müssen an die Orte transportiert werden, auch das ganze Material und die Teams. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass hier die meisten Emissionen entstehen. Und dementsprechend wären auch große Einsparungen möglich. Berechnungen zufolge könnte die Formel-1 ihre CO2-Emissionen aus der Logistik um bis zu 46 Prozent senken, wenn sie ihren bereits für 2023 geplanten Kalender dahingehend umgestalten würde, dass kürzere Strecken zurückgelegt werden. Der alternative Kalender würde damit den gesamten CO2-Fußabdruck der Formel-1 um mehr als 10 Prozent verringern. Noch nachhaltiger wäre es jedoch, würden die Organisatoren, statt wie geplant zwei weitere Rennen für die kommende Saison einzuplanen, sodass es nun 24 insgesamt sind, die Anzahl reduzieren. Aber weniger Rennen bedeutet natürlich auch weniger Einnahmen.


Sebastian: Den Kalender besser anzuordnen, macht total Sinn. Die Frage ist aber, ist der sinnvollste Kalender, was den Fußabdruck des Reisens und der Logistik angeht, auch der Kalender, der ja am meisten Geld generieren kann? Und da ist das Interesse im Moment noch klar bei dem meisten Geld gesetzt. Aber solche Dinge sind natürlich am sinnvollsten, die direkt anzugehen.

Marilena: Wie siehst du das denn, was den kulturellen Wandel angeht? Weil das spielt ja, wenn es um Nachhaltigkeit geht, auch eine Rolle. Zum Beispiel, wer in Führungspositionen sitzt. Der Präsident des Welt Automobil Verbandes (FIA), der hat zwar gesagt, dass er sich für die Zukunft einsetzen möchte und sich auch mehr Fahrer wünscht, die sich dafür einsetzen und das Engagement fördern möchte. Aber, wenn man gleichzeitig sieht, dass immer noch Rennen in Ländern gefahren werden, in denen Menschen, die z.B. nicht heterosexuell sind, der Todesstrafe ausgesetzt sind, dann wirkt das nicht wirklich integer. Was denkst du, was für eine Chance liegt in einem kulturellen Wandel? Wenn Führungspositionen anders besetzt werden, zum Beispiel diverser aufgestellt sind, wenn dort ein Sinneswandel stattfinden würde?

Sebastian: Die Formel 1 hat natürlich eine sehr große Wirkung nach außen. Das heißt, sie erreicht sehr viele Leute. Und wenn bei uns zu sehen ist, dass wir diverse aufgestellt sind, dann hätte das eine sehr große Strahlkraft nach außen. An den Punkt glaube ich, bis es so weit kommt, das sehe ich ein bisschen komplizierter. In dem Sinne, dass – so habe ich das in meiner Zeit zum größten Teil erlebt – nach Talent gesourced wird. Und wie Talent überhaupt erkannt wird, das ist, glaube ich, der Schlüssel. Dass wirklich auch jeder, egal wo er herkommt und egal wie er aussieht und egal wen er liebt, die gleichen Chancen bekommt. Wir wissen, dass noch nicht so weit ist, dass es da noch viel zu tun gibt.

Marilena: Hast du denn den Eindruck, dass die Formel 1 sich dem Druck bewusst ist, der wahrscheinlich auch noch größer wird, der von außen kommt, der sich einen Wandel wünscht?

Sebastian: Ich glaube, der Druck ist noch nicht groß genug.  Im Moment kommt man noch damit, ein bisschen was in eine Kampagne zu stecken, ein bisschen was zu tun und ein bisschen was zu sagen, ohne sich groß dafür erklären zu müssen. Oder noch besser, ohne mit Konsequenzen leben zu müssen. Wenn die Formel 1 sich auf den Deckel schreibt, “klimaneutral bis 2030”, dann finde ich das ein tolles Ziel. Natürlich wäre es mir lieber, wenn das schon nächstes Jahr wäre. Aber natürlich ist es auch so, dass in 2030 die Rennen international ausgetragen werden, dass 2030 das ganze Material und die Autos verschifft werden, dass die Leute hinterher reisen. Es wäre toll, wenn wir bis dahin solch ein System hätten, das alle Kreisläufe schließt. Ich glaube, dass dies nicht der Fall sein wird, leider. Dann ist die Frage, wie komme ich dann trotzdem auf Net Zero? Und dann bin ich eigentlich sehr schnell bei den Systemen, sich freizukaufen oder mir Zertifikate ausstellen zu lassen, dass ich das Klima unterstützende Projekte investiere. Da ist aber die Frage, wer kontrolliert wen? 

Marilena: Apropos Kontrolle, weil wir uns ja gemeinsam diesen Nachhaltigkeitsreport der Formel1 angeschaut haben. Der sieht ziemlich beeindruckend aus. Aber ich glaube, eine der größten Gefahren besteht darin, tatsächlich gar nicht zu kontrollieren und sich darauf auszuruhen. Vielleicht auch zu sagen, die Formel 1 macht das schon. Und ich glaube, weil du meintest, der Druck sei noch nicht groß genug, dass es noch mehr Druck von außen braucht. Vor allem von Menschen, die diese Leidenschaft teilen, die diesen Sport gut finden. Aber gleichzeitig merken, da ist noch nicht genug Besorgnis, da ist noch nicht genug Wille, Vorreiter zu werden oder überhaupt erst mal aufzuholen. Wird man dich jetzt, um vielleicht langsam den Bogen zu schließen und wieder zu dir zurückzukommen, wird man dich jetzt an der Rennstrecke mit Plakaten sehen? Ganz vorne bei Fridays For Future? Oder wirst du die Formel 1 erst mal ganz zurücklassen und dich komplett auf andere Dinge konzentrieren? Oder wirst du weiterhin Druck ausüben?

Sebastian: Im Moment weiß ich nicht, was die genaue Antwort ist oder wie ich es genau ausdrücken soll, weil ich noch keinen konkreten Plan habe. Aber ich glaube, dass ich die letzten Jahre schon sehr viel Spaß daran hatte, mich einzubringen, meine Meinung zu äußern, wenn ich das Gefühl hatte, dass es hilft, bzw., dass es sinnvolle Dinge sind, zu denen ich Stellung nehme. Und ich kann mir schon vorstellen , in Zukunft da weiter anzusetzen. Ich bin mir des Glückes, in dem ich irgendwie groß geworden bin und der Möglichkeiten, die ich habe, bewusst. Und möchte das auch so weit nutzen, die Reichweite oder die Möglichkeiten, dass ich Leuten helfen kann. Vielleicht sind es manchmal ganz kleine Dinge, vielleicht sind es größere Dinge, um das Licht auf die Formel 1 zu werfen. Ich glaube, die Chancen sind riesig, weil die Formel 1 so viele Leute erreicht. Und ich glaube, dass die Formel 1 mehr tun kann. Die Frage ist, wie weit man bereit ist, auf ganz hoher Ebene, sprich Investoren oder den Leuten, denen die Formel 1 gehört, dass die sagen: Wir sind wirklich davon überzeugt und sehen, dass dort, auch was das Geschäft angeht, ein Riesenpotenzial liegt. Dass die sagen, wir sind die ersten, die einen besseren oder neuen Weg einschlagen, um dann auch die ersten zu sein, die davon profitieren. Um das bestehende System, das ja herrscht, von dem man den Eindruck hat, das wird bis in den Sonnenuntergang geritten und bis die Sonne untergegangen ist, so umzumünzen, dass man es durchaus zum Positiven drehen kann. Ich glaube, es wäre schön, wenn sich das System ändern würde über Nacht. Aber das ist, glaube ich, zu schwer, weil es den Konsens von allen braucht. Und das ist sehr, sehr schwierig zu erreichen.

Marilena: Das System Kapitalismus?

Sebastian: Ja, das im erweiterten Sinne. Und im kleinen Sinne, glaube ich, funktioniert die Formel 1 genauso. Das sie eben ein großes Geschäft und natürlich Profit gesteuert. Und man kann sich das auch alles herleiten, warum das so ist. Es ist das System, das wir haben. Aber die Frage ist: Ist es das sinnvollste und das gesündeste? Bzw. macht es so viel Sinn, wenn es um die Zukunft geht? Auch wenn die zwei Themen vielleicht heute so weit voneinander weg sind, wie sie nur sein können, und das erste, woran man denkt, wenn man mich darüber sprechen hört, dass mir die Zukunft und unsere Welt nahe liegt, ist wohl: “Er hat gut reden! Was macht er denn den ganzen Tag?” Vielleicht ist das auch gerade das Interessante, aber vielleicht ist das auch unsere Chance als Motorsport oder als Formel 1 damit voran zu fahren und nicht hinterher zu rennen.

Marilena: Wenn man viel im Leben gesehen und erlebt hat, dann ist es wahrscheinlich leichter, die Entscheidung zu treffen, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Und es ist leichter, sich die Zeit für Dinge zu nehmen, sich dafür einzusetzen. Auf der anderen Seite ist es, finde ich, gerade in unserer Gesellschaft nicht so einfach Fehler einzugestehen oder auch allein schon die Meinung zu ändern. Zu sagen, ich habe das lange Zeit das Problem nicht gesehen, war mir dessen nicht bewusst oder wollte es vielleicht auch so gar nicht sehen. Und dann öffentlich dazu Stellung zu beziehen und sagen: Ich sehe das jetzt anders. Das ist ja auch nichts, was bei uns, finde ich, in der Gesellschaft ganz selbstverständlich ist?!

Sebastian: Ja, absolut. Ich glaube, die Vorbilder sind ganz wichtig, Vorbilder zu haben. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Aber was man natürlich macht, ist, man stellt die Vorbilder dann imaginär auf ein Podest. Aber niemand ist perfekt und auch die Vorbilder machen Fehler. Das ist gar nichts Schlimmes, sondern ist, auch aus eigener Erfahrung im Sportlichen, einfach das Leben. Oftmals sind es Fehler, die einen weitergebracht haben. Oder die Dinge, wenn man Mist gebaut hat oder wenn man falsche Entscheidungen getroffen hat. Und das dann wieder geradezubiegen oder da rauszukommen aus dem Loch, ist es, was einen viel mehr prägt, als wenn es läuft. Wenn man in so einem Tunnel ist und im Flow, in diesem Zustand, dass einfach alles zu gelingen scheint. Man muss, glaube ich, nur den Mut haben, sich zu drehen oder woanders hin zu blicken und die nächste Tür aufzumachen. Und das ist manchmal einfacher und manchmal passiert das ganz automatisch und manchmal ist es auch schwieriger. Aber die Vorbilder müssen auch den Mut haben, statt nur das Perfekte zu zeigen, auch die ganzen kleinen Sachen zu zeigen. Oder auch die zu erwähnen, die nicht perfekt sind. Die ganzen Talfahrten. Auch wenn man sportlichen Erfolg hat, heißt das nicht, dass man glücklich ist. Auch wenn man erfolgreich ist oder viel Geld verdient, heißt das nicht, dass man automatisch glücklich ist.

Marilena: Ich sehe schon den neuen Podcast von Sebastian Vettel mit den Vorbildern, die von ihren Fehlern im Leben berichten – “Failing at Life” mit Sebastian Vettel.

Sebastian: Ich finde das sehr spannend, weil die Leute, die ich getroffen habe, sind weit weg von perfekt. Und man hat von außen immer die Vorstellung gehabt, sie seien so perfekt. Und alles ist so einfach. Die Leute sehen unheimlich gut aus oder haben alle Rennen gewonnen. Und dann merkt man aber doch sehr schnell, dass manche Dinge dann nicht so gut passen oder sie haben große Probleme in anderer Hinsicht. So einfach ist das Leben eben einfach nicht.

Marilena: In deinem Abschieds-Video sagst du: “Mein bestes Rennen liegt noch vor mir.” Worauf freust du dich am meisten, wenn die Saison beendet ist? Was wirst du auch als Erstes nicht tun?

Sebastian: So habe ich das noch nicht gesehen, dass ich mich auf etwas freue, nicht mehr zu tun. Wenn ich das beantworte, dann ist es das Reisen, dieses ins Flugzeug zu steigen und wegfliegen zu müssen. Das wird mir wahrscheinlich nicht fehlen. Sonst ist es eher darauf bezogen, worauf ich mich freue, auch wenn man nicht weiß, was es ist. Und ich fände es schade, wenn ich mit 35 in meinem Leben stehe und sage: Die schönste Zeit meines Lebens ist vorüber. Wenn es mir gut geht und ich gesund bleibe, dann habe ich ja vielleicht noch 35 Jahre oder mehr Jahre mit hoffentlich guter Qualität vor mir. Wie schade wäre es zu sagen, diese 35 Jahre kommen nicht an die letzten 35 Jahre heran. Das heißt nicht, dass ich noch fünfmal Weltmeister werde, in den nächsten 35 Jahren in der Formel 1. Es gibt so viele Dinge, die mir so viel bedeuten können. Ob sie dann die gleiche Strahlkraft nach außen haben? Wahrscheinlich nicht. Dass ich morgen was finde, in dem ich genauso gut bin wie im Motorsport oder als Rennfahrer? Wahrscheinlich nicht. Worauf ich mich am meisten freue, ist erst mal einfach Zeit zu haben, für zu Hause. Für die ganzen Dinge, die Bücher, die liegengeblieben sind, die Dinge, die zu Hause sich alle angestaut haben, einfach Zeit mit den Kindern zu verbringen. Dass das aber auch nicht meine zentrale Aufgabe sein wird und sein kann, ist mir klar. Es ist nicht so, dass ich sage: Jetzt bin ich Helikopter-Vater und jeden Tag kreise ich um die Kinder. Im Gegenteil, ich möchte, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen und auf eigenen Füßen stehen und ihre Fehler machen können. Und hoffentlich sich trauen, darüber zu sprechen, weil wir das so vorleben. Ich finde es sehr spannend, neue Dinge auszuprobieren. Wie zum Beispiel das Alphorn. Mein Talent scheint doch eher begrenzt, aber es macht Spaß, es auszuprobieren und mich zu entdecken. Ich wünsche mir den Mut, dem nachzugehen, egal was es sein mag und egal, was andere Leute davon halten oder darüber denken.

Marilena: In Anbetracht dessen, dass dir Zeit sehr wertvoll ist, zu Recht, danke, dass du dir die Zeit für uns und für dieses Gespräch genommen hast. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.

Sebastian: Danke dir. Danke.


Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch gefallen hat, teilt es gerne. Außerdem freue ich mich, wenn ihr Sinneswandel und damit meine Arbeit finanziell unterstützen wollt und könnt. Das geht ganz einfach auf Steady oder via Paypal.me/Sinneswandelpodcast. Das steht aber auch alles noch mal in den Shownotes. Da findet ihr auch alle Infos und Quellen zur Folge. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

24. November 2022

Cesy Leonard: Warum bist du [so] radikal?

von Marilena 17. November 2022

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Was hilft daher, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Selbstwirksamkeit, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard. Sie hat “Radikale Töchter” gegründet, mit denen sie Workshops gibt, in denen der “Mutmuskel” trainiert wird. Denn den braucht es, so Cesy, um (politisch) aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Wie genau das geht, darüber spricht Cesy Leonard mit Marilena Berends im Sinneswandel Podcast.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Cesy Leonard findet ihr auch auf Twitter.
► Radikale Töchter sind auch auf Twitter und Instagram.
► Podcast der Radikalen Töchter: “Mut für Anfänger”.
► Zentrum für Politische Schönheit

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Ob Klimakrise, Ukraine-Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Massentierhaltung oder Patriarchat – es gibt genug, um nicht zu sagen unzählige Gründe, auf die Straße zu gehen. Oder zumindest Grund genug, um wütend zu sein. Weil diese Welt alles andere als gerecht ist. Weil sie längst nicht allen von uns ein sicheres und lebenswertes Zuhause bietet. Aber was kann ich dagegen oder vielmehr dafür tun, damit sich das ändert?

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich angeblich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Wer hat sich nicht schon einmal klein und machtlos gefühlt, weil alles so überwältigend und vielleicht sogar beängstigend wirkt? Das ist verständlich und wohl auch menschlich. Aber was hilft, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Den Kopf in den Sand stecken oder die Füße hochlegen und alle Verantwortung an “die da oben” abgeben, mag naheliegend sein, hilft aber nachweislich wenig. Aber was dann?

Mut, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard, braucht es. Okay, aber wo soll der plötzlich herkommen? Der lässt sich trainieren, wie ein Muskel, so Cesy. Wie das funktioniert, zeigt die Aktionskünstlerin in Mutmuskel-Workshops mit den “Radikalen Töchtern”. Ein Projekt, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst aufgehoben werden und Möglichkeitsräume sichtbar werden, wo sie scheinbar nicht mehr sind. Denn wer Selbstwirksamkeit verspürt, fühlt sich im besten Fall auch ermutigt, ins Handeln zu kommen und wird politisch aktiv. Aber wo fange ich da an? Ganz einfach, sagt Cesy, bei dem, was einen besonders wütend macht. Wieso, das hat Cesy Leonard mir im Podcast erzählt.

…

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Cesy gefallen hat, teilt es gerne. Wenn ihr mehr erfahren wollt, findet ihr in den Shownotes alles zu den “Radikalen Töchtern”. Und, wie immer, auch alles Infos, wie ihr Sinneswandel und damit auch meine Arbeit finanziell unterstützen könnt. Das würde mir helfen und mich sehr freuen. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

17. November 2022

Pheline Roggan: [Wie] geht Grünes Drehen?

von Marilena 10. November 2022

Film ist Unterhaltung. Aber nicht nur. Jeder Film(-dreh) verbraucht CO2-Emissionen. In der Produktion und natürlich auch beim Streamen. Und zwar nicht gerade wenig. Wenn die Filmindustrie zukunftsfähig werden will, muss sie sich also wandeln. Und das tut sie bereits! Wo und wie genau, darüber habe ich mit Schauspielerin und Changemakers.Film-Gründerin Pheline Roggan (Jerks) gesprochen.

Shownotes:

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► Pheline Roggan auf Instagram
► Changemakers.Film
► Arbeitskreis Green Shooting
► Bundesregierung: “Mehr Nachhaltigkeit in der Filmwirtschaft”.
► Green-Shooting-Ergebnisbericht: Tatort “Fünf Minuten Himmel”.
► BAFTA (2012): albert year one report – “carbon footprinting the TV industry”
►Southern California Environmental Report Car (2006).
►Studie „Shift Project“ (2019): “The unsustainable use of online video” 
►Studie Umweltbundesamt (2020): “Video-Streaming: Art der Datenübertragung entscheidend für Klimabilanz”
►ARD PlanetB (2021): “Netflix: Zerstört Streaming das Klima?”

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Der Tatort, für viele Deutsche ein allsonntägliches Ritual. Ein bisschen Spannung oder auch Entspannung, bevor der Montag vor der Tür steht. Ich gebe zu, ich gehöre auch – rein aus Routine versteht sich – zu diesen Menschen, die Sonntags pünktlich um 20:15 Uhr auf der Couch sitzen. Endlich muss ich mich mal nicht entscheiden, welchen Film ich heute Abend streamen will. Herrlich, einfach den Kopf abschalten, die Verantwortung abgeben. 

Aber Moment mal, vielleicht nicht ganz! Denn wusstet ihr, dass eine Tatort-Produktion durchschnittlich rund 100 Tonnen CO2 freisetzt?! Zum Vergleich, das sind ca. 300 Quadratmeter arktisches Eis, das schmilzt. Oder auch die Menge CO2, die rund 15 Deutsche pro Jahr erzeugen. Gar nicht mal so wenig. Noch krasser wird es sogar, wenn wir nach Hollywood schauen: Eine Blockbuster Produktion kommt da schon mal auf knapp 10.000 Tonnen CO2. Das ist sogar weitaus mehr, als 1.000 Haushalte in Deutschland pro Jahr verbrauchen. Und wenn ihr jetzt denkt: Tja, dann muss sich die Filmindustrie eben ändern!, dann habt ihr natürlich Recht. Aber wir, als Publikum, sind natürlich auch nicht aus dem Schneider, wenn man bedenkt, dass allein eine Stunde Streaming so viele Emissionen verursacht, wie eine Autofahrt von rund 12 Kilometern.

Ja, Film ist Unterhaltung. Film ist aber eben auch ein “Klimakiller”. Film ist aber auch Kunst. Film ist Protest. Und Film kann auch anders – wenn er will. Und das tut er. Oder vielmehr sie.

Schauspielerin Pheline Roggan, ihr kennt sie bestimmt aus der Serie “Jerks”, ist eine von ihnen. Eine, die keine Lust mehr hat, die Dinge nur deshalb so zu machen, weil man sie schon immer so gemacht hat. Denn es geht schließlich auch anders. Deshalb hat sie mit Kolleg*innen die Initiative Changemakers.Film für “Grünes Drehen” gestartet, um im wahrsten Sinne des Wortes frischen Wind in die Branche zu bringen. Denn allein durch die Nutzung von Ökostrom lassen sich auf einen Schlag bis zu 90% CO2 einsparen.

Es klingt erstmal alles so einfach oder zumindest ganz logisch, wie jetzt die nächsten Schritte hin zum “Grünen Drehen” aussehen müssten. Aber ganz so einfach ist es dann doch meistens nicht. Wandel braucht Zeit. Zeit, die wir eigentlich nicht haben. Warum es sich aber dennoch lohnt, für einen Wandel zu kämpfen, darüber habe ich mich mit Pheline Roggan unterhalten. Hört selbst!

…

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Pheline gefallen hat, teilt es gerne. Außerdem freue ich mich, wenn ihr Sinneswandel und damit meine Arbeit finanziell unterstützen wollt und könnt. Dann kann ich auch eher auf Werbung verzichten. Das geht ganz einfach auf Steady oder via Paypal.me/Sinneswandelpodcast. Das steht aber auch alles noch mal in den Shownotes. Da findet ihr auch alle Infos und Quellen zur Folge. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

10. November 2022

Victoria Reichelt: Wie politisch ist Social Media?

von Marilena 6. Oktober 2022

Social Media kann Zeitvertreib sein, aber eben nicht nur. Es ist auch ein Ort des Austauschs, der Information und sogar des Protests, wie sich gerade erneut zeigt. Wie können die sozialen Medien zu einem Ort werden, der uns dient und nicht überfordert oder gar schadet? Über diese und weitere Fragen haben sich Journalistin Victoria Reichelt und Marilena Berends unterhalten.

Shownotes:

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► Victoria Reichelt findet ihr auch auf Twitter, Instagram und TikTok.
► TEDx Talk: “How to live with the constant feeling of discomfort”.
► funk: “Deutschland3000”.

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6. Oktober 2022

Wie solidarisch sind wir wirklich?

von Marilena 16. August 2022

Die Forderung nach Solidarität hat seit Jahren Hochkonjunktur. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. In ihrem Kommentar stellt Gastautorin Isabell Leverenz den Solidaritätsbegriff auf die Probe und kommt zu dem Ergebnis: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen.

Shownotes:

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► Azimipour, Sanaz (2022): Rassismus als Infrastruktur. Missy Magazine. 54-58.
► Missy Magazine (2022): Krieg und Flucht. 47-60.
► Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (2019): Was heisst »#Unteilbar« für eine Sammlungsbewegung? Interview mit Hengameh Yaghoobifarah. Belltower News.
► Struwe, Alexander (2019): Was ist emanzipatorische Solidarität?
► Lessenich, Stephan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Reclam. 
► Susemichel, Lea; Kastner Jens (2021): Unbedingte Solidarität. Unrast. 7-11.
► Hausbichler, Beate (2022): Lea Susemichel und Jens Kastner: „Identitätspolitik war zunächst eine Notwehrreaktion“. Der Standard.
► ELES (2021): Plurale Erinnerungskultur: Gemeinsames Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft?, YouTube.
► Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben. R. Piper & Co. Verlag. 173.
► Hark, Sabine (2021): Flucht und Migration. Wir brauchen ein neues Ethos der Solidarität. Deutschlandfunk Kultur.
► Jaeggi, Rahel (2021): Solidarität und Gleichgültigkeit. In: Susemichel, Lea; Kastner Jens: Unbedingte Solidarität. Unrast. 49-66.

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“Solidarität (von lateinisch solidus “echt, fest“) […] bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit […] Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus. Der Gegenbegriff zur Solidarität ist die Konkurrenz.” So lautet zumindest die Definition auf Wikipedia. Gleichgesinnte oder Gleichgestellte, für sie gilt also das Prinzip der Solidarität. Aber was macht uns zu “Gleichen”? Was verbindet uns? Und zeigen wir uns als Menschen wirklich nur dann solidarisch mit anderen, wenn sie uns ähneln – ob aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der Sprache oder politischen Einstellung?

Angesichts einer Omnipräsenz der Forderung nach Solidarität, hat sich Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz gefragt, wie solidarisch wir aktuell wirklich sind. Ob Solidarität tatsächlich eine Praxis unter “Gleichen” sein muss oder, ob sie nicht viel weiter gehen kann und sollte? Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? Dabei kommt sie zu dem Schluss: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Was das genau bedeutet, erzählt Isabell Leverenz in ihrem Kommentar.

Es ist Sonntag und ich blättere durch die neue Ausgabe des Missy Magazins. Mein Blick bleibt an einer Fotografie der Fotojournalistin Sitara Thalia Ambrosio hängen. Darauf zu sehen, ist ein Bus. Dort, wo für gewöhnlich die Nummer der Buslinie oder ihre Endstation zu lesen ist, steht in orangefarbener Schrift: »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt«. Der Bus wurde von einem Zusammenschluss gemeinnütziger Organisationen bereitgestellt, der Geflüchtete aus der Ukraine nach Berlin bringt, wie die Bildunterschrift verrät. Der orange leuchtende Schriftzug erinnert mich an den Slogan »Defend Solidarity« der Organisation Sea Watch, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden an Europas Grenzen verschrieben hat. Ob »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt« oder »Defend Solidarity«: Beide Slogans eint, dass Solidarität buchstäblich in Bewegung zu kommen scheint – oder in Bewegung kommen muss?! 

Zumindest habe ich den Eindruck, dass die Forderung nach Solidarität seit Jahren Hochkonjunktur hat. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine: Sie wird als unabdingbar erklärt, sie wird proklamiert, sie wird getwittert. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. Darin, dass überfüllte Lager für Geflüchtete zu Beginn der Pandemie, wenn überhaupt, nur schleppend evakuiert werden oder sich an den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter*innen in Schlachthöfen nichts ändert. Dass man Überlastetem Gesundheitspersonal durch Beifall Sympathie zuträgt, anstatt sich für eine Verbesserung von deren Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dass man Studierende of Color ohne ukrainische Staatsbürgerschaft während ihrer Flucht vor Polens Grenzen abweist. Indes ist man sich aber europaweit einig, dass die Menschen aus der Ukraine Solidarität verdienen und ihnen schnellstmöglich und unbürokratisch geholfen werden muss. Dabei stoße ich immer wieder auf das gleiche Argument: »Die sind wie wir«, heißt es. Ich höre es beim Gespräch über den Gartenzaun, lese es im politischen Feuilleton und finde es in sozialen Netzwerken. Ukrainerinnen und Ukrainer seien schließlich Europäer*innen. Im gesellschaftlichen Common Sense scheint Solidarität eine Praxis unter Gleichen zu sein. Aber ist das wirklich so? 

Wie Sand zerrinnt mir diese Argumentation zwischen den Fingern: Wer ist denn eigentlich dieses solidarische »Wir«, von dem die Rede ist? Schließlich ist die Bevölkerung Deutschlands ja in sich bereits heterogen und vielfältig. In der selben Ausgabe des Missy Magazins, ein paar Seiten weiter geblättert, warnt die Aktivistin und Autorin Sanaz Azimipour vor dem entstandenen paneuropäischen Nationalismus, der die Ukraine als Vielvölkerstaat ausblendet und die Menschen und das Land als weiß und christlich labelt. Und ich erinnere mich, dass auch taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah vor einigen Jahren, aus meiner Sicht zurecht, beklagte, dass in Deutschland vor allem die weiße und nicht die antirassistische, feministische und anti-antisemitische Solidarität überwiege. 

Mir scheint, Solidarität ist hier selektiv, sie gilt nicht für alle im selben Maße. Das, was gesamtgesellschaftlich als Tugend aufgefasst wird und wie ein »schillernder Gegenbegriff« zu Phänomenen der Krise wirkt, ist vielmehr selbst Teil einer regressiven Praxis. Solidarität drohe, so schreibt der Soziologe Stephan Lessenich bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie, zu einer folgenlosen »sozialen Wohlfühlkategorie« zu verkommen. Zu einer Worthülse, die nur bedingt hält, was sie verspricht. Kuschelkurs statt Schlagweite. Es stimmt, Krisen fordern den sozialen Zusammenhalt heraus und damit die Notwendigkeit, Solidarität im Kontext dieser Herausforderungen neu zu formulieren. Daher frage ich mich: Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? 

Grundsätzlich, so fasst es die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi zusammen, kann Solidarität als eine Praxis des »Füreinandereinstehens« verstanden werden. Wird an die Solidarität appelliert, wird ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Haltung erwartet. Doch scheint sich Solidarität dabei bislang vor allem in der Gleichheit zu entfalten. Sie wird damit exklusiv. Bereits in den 90ern plädierte die feministische Denkerin Diane Elam für eine sogenannte »groundless solidarity«, eine unbegründete Solidarität, die nicht der Gleichheit, sondern Vielfalt und Diversität Rechnung trägt. Sie zielt darauf ab, kein vorgegebenes Wir, keine Gemeinschaft zur Voraussetzung von Solidarität zu machen. Gemeint ist hiermit nicht, sich stets vollkommen grundlos solidarisch verhalten zu müssen, sondern, dass gemeinsame Erfahrungen nicht vorausgesetzt werden sollten. »Unbedingte Solidarität«, so schreiben auch Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrem gleichnamigen Sammelband, beruhe nicht auf Gleichheit, sondern auf Differenzen. Es ginge nicht um die Parteinahme für Meinesgleichen, sondern darum, mit Menschen in solidarische Beziehung zu treten, mit denen ich gerade nicht den Berufszweig, das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teile. Eine emanzipatorische Solidarität, entkoppelt von ökonomischen, politischen und kulturellen Grundlagen. Und wer meint, bei dieser Perspektive handle es sich um eine Utopie, dem rate ich einen Blick in die Geschichte der Solidarität: Bereits die Abolitionismus-Bewegung, also der Kampf gegen die Sklaverei, wurde nicht allein von Versklavten geführt; ebenso, wie sich auch Männer für Frauenrechtsforderungen einsetzten; der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika wurde auch von westeuropäischen Weißen unterstützt; die Organisation Lesbians and Gays Support the Miners bestärkten den britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 80er Jahre. Umgekehrt marschierten die Minenarbeiter bei der Lesbian and Gay Pride Parade in London mit. 

Diese Solidarität ohne gemeinsamen Grund, betont Lea Susemichel, könne moralisch, humanistisch oder sozialrevolutionär motiviert sein. Nicht aber durch Ähnlichkeit oder Gleichheit. Es gehe vielmehr um den Einsatz für andere und um die gemeinsame Verantwortung für strukturelle und soziale Ungerechtigkeit. Auch dann, wenn man selbst vordergründig nicht davon zu profitieren scheint. Solidarität ist keine Gegebenheit von Natur aus, sie entwickelt sich nicht ‚ganz natürlich‘. Solidarität ist eine Entscheidung, sie ist politisch. Als Beziehung zwischen Menschen muss sie immer wieder aufs Neue ausgehandelt, gelernt und gelebt werden. Ähnlich wie Demokratie, die nicht einfach gegeben ist, sondern die es gegenüber antidemokratischen Strukturen und Ideologien immer wieder zu verteidigen gilt. Eine solidarische Haltung erschöpft sich dabei nicht in Form einer emotionalen Anteilnahme am Leid anderer oder in der Hilfe sogenannter »Schwächerer«. Es geht vielmehr darum, gemeinsam und auf Augenhöhe Strukturen zu transformieren, die Ungleichheiten hervorbringen oder bereits Bestehende manifestieren.  

Vor kurzem lauschte ich einer Rede des Judaisten Frederek Musall. Darin ging es um die Frage, wie Vergangenheit neu erzählt werden kann, um die Vielfalt der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Dies gelinge, so Musall, wenn Erzählkulturen in ihren Unterschiedlichkeiten und Verletzlichkeiten ernst genommen würden. Diese  Voraussetzungen, bin ich der Meinung, lassen sich ebenso gut auf solidarisches Handeln übertragen. Um Veränderungen zu erzielen, müsse die etablierte Ordnung der Dinge durcheinander gebracht werden: »Es wird dringend Zeit für einen Remix« sagt Musall. Seine Wortwahl rührt daher, dass er sich der Hip-Hop Musik bekannter Kollektive als philosophischem Denkbild bedient, um seinen Standpunkt zu untermalen. Die mitgeführte Hip-Hop-Metapher lässt sich, meiner Auffassung nach, auch treffend auf Solidarität, die ebenso einen solchen Remix nötig hätte, übertragen. Denn Hip-Hop war und ist Protest. Er vermag es, Solidarität mit benachteiligten oder ausgegrenzten Menschen zu verkörpern. Nicht zufällig wurde Rap-Musik nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 zum Soundtrack der Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus. In der frühen Rap-Kultur diente Hip-Hop Minderheiten als Sprachrohr, deren Geschichten nur wenig oder keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhren. Er kann stellvertretend dafür stehen, wie emanzipatorische Solidarität aussehen kann. In einem Hip-Hop-Song, an dem mehrere Künstler*innen beteiligt sind, so Musall, komme eine »narrative Polyphonie« zum Ausdruck, in der unterschiedliche Erzählungen aufeinandertreffen. Oder anders gesagt: In einem Song können Erzählungen aufeinandertreffen, die jeweils aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungshorizonten erzählt werden. Arrangiert ergeben sie eine Komposition. Das, was die unterschiedlichen Parts eines Songs miteinander verbindet, so Musall, sei weder Inhalt noch Form, sondern ein Arrangement, strukturiert durch Beat und Rhythmus. Sich als Musiker*in in einen Beat einzubringen, erfordert nicht nur Timing und Präzision, auch Achtsamkeit im Hinblick auf Stimme, Betonung und Takt – ein Gefühl für den Flow. Sowohl für den Eigenen, als auch für den der anderen Beteiligten. Wer im Flow ist, kann in die Hookline, den Refrain, einstimmen und durch das Hinzufügen der eigenen Stimme die Aussage der anderen verstärken. 

Folgen wir der Metapher der Polyphonie, so gründet solidarische Praxis nicht auf gemeinsamer Identität, sondern bringt diese überhaupt erst hervor – und das durch gleichberechtigtes und wechselseitiges Ein- und Mitmischen aller Beteiligten. Solidarität erfordert demnach eine Hinwendung zum Anderen als selbstbestimmtes, eigenständiges Subjekt. Dessen Differenz und Autonomie erst anerkannt werden muss, bevor gemeinsame Ziele formuliert werden können. Diese Ziele wiederum, ergeben ein gemeinsames Interesse, oder das, was die politische Philosophin Hannah Arendt als »inter-est« bezeichnet. Der Begriff ist durch einen Bindestrich getrennt; die einzelnen Bestandteile »inter« (zwischen) und »est« (sein) werden durch ihn aber gleichzeitig als zusammengehörig, als »interest«, markiert. Arendt zeichnet ein symbolisches Bild, um zu verdeutlichen, was sie mit »inter-est« meint: Darauf abgebildet, ist ein runder Tisch, der diejenigen, die an ihm Platz gefunden haben, sowohl voneinander trennt, als auch miteinander verbindet. Durch den Tisch entsteht ein Dazwischen, ein Bezugssystem, in dem Menschen ihren Interessen nachgehen. Wenn wir solidarisch handeln wollen, dürfen wir uns demnach nicht mit Polyphonie als bloßem Nebeneinander begnügen. Vielmehr sollten wir gezielt danach suchen, wie die unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven aufeinander bezogen werden können. Wenn man so will, dann braucht Solidarität einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Ein Bewusstsein und Vergegenwärtigung für Anwesenheit, Differenz und Bedürfnis. Einen Beat, der uns herausfordert, an unseren Gewohnheiten und Ansichten zu arbeiten und das gleichzeitige Existieren unterschiedlicher Bedürfnisse auszuhalten. Denn es sind letztlich die Vielfalt der Stimmen, der Streit um Differenz, die etwas bewegen können.

»What we need is awareness, we can’t get careless«, lauten zwei Zeilen aus Fight the Power des US-Amerikanischen Hip-Hop Kollektivs Public Enemy. Auch, wenn der Song bereits 1989 geschrieben wurde, besitzt er für mich auch heute noch Aktualität. Denn er besagt etwas so Einfaches und Wichtiges zugleich: Aufmerksamkeit, »awareness« ist das Gebot der Stunde. Gegenüber sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Entrechtung. Aber auch Aufmerksamkeit gegenüber einer Solidarität, die statt Vielfalt nur das vermeintlich Gleiche schützt. Die exkludiert, statt zu vereinen. Wir sollten uns bewusst sein, dass sich solidarisches Handeln gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Kontexten immer wieder anpassen muss. Für mich heißt das auch, dass wir mehr solidarische Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen und Differenzen hinweg brauchen, im Kampf für eine gerechte Gesellschaft. Solidarität braucht ein Fundament, um nicht nur Phrase zu sein. Sie braucht einen Beat.    

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16. August 2022

„Oben ohne“ für alle – längst überfällig?

von Marilena 28. Juni 2022

“Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar Aufgabe der Frau?

Shownotes:

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► Anja Schmidt, Verfassungsblog: „Die nackte weibliche Brust als Sittlichkeits- und Rechtsproblem„ 07/21.
► Thomas Becker, MDR: „Halbnackt im Freibad? Was ein Jurist über nackte Brüste sagt„ 05/22.
► Denise Klein, Zeitjung: „Oberkörperfrei-Privilegien: Männer, lasst eure t-Shirts einfach an„ 09/20.
► NRD Hamburg Journal: „SPD in Eimsbüttel will „oben ohne“ in Schwimmbädern erlauben„ 06/22.
►Dlf Kultur: „Oben-ohne nur für Männer? „Nach dem Gesetz sollten alle Brüste gleich sein“ 04/22.
► Jürgen Martschukat, Konrad Adenauer Stiftung: „Über das Politische im Körper„ 12/21.
► Isaiah Berlin: Essays in Honour of E. H. Carr (1974), S. 9.

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Transkript:

Es ist ein Tag Mitte Juni in Hamburg und das Thermometer zählt schätzungsweise 28 Grad. Ich sitze im Freibad auf der Wiese – “oben ohne”. Kein Bikini, der meine Brüste bedeckt. So richtig wohl, fühle ich mich in dabei nicht. Warum und aus welchem Grund ich dennoch so dasaß, davon möchte ich heute erzählen. Dafür muss ich allerdings ein wenig ausholen. Und wir müssen ein paar Tage zurückgehen, vor den besagten Tag im Freibad.

Über meine Brüste mache ich mir ehrlich gesagt selten Gedanken. Eigentlich fallen sie mir oft erst dann auf, wenn sie – meistens von Männern – “beachtet” oder kommentiert werden. Ansonsten sind meine Brüste für mich ein Körperteil, wie jeder andere auch. Sie sind für mich “normal”. Normal, wie das Gesicht, das mir morgens im Spiegel verschlafen entgegenblickt, Zähneputzen oder der Kaffee, der meistens darauf folgt. Dinge, über die ich mir eher selten bewusst Gedanken mache. In letzter Zeit gab es allerdings häufiger Situationen, die mich über Brüste haben nachdenken lassen. Nicht nur darüber, dass ich ganz offensichtlich welche habe, ich meine vielmehr im Allgemeinen – über ihr Vorhandensein, ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft. Und wer jetzt denkt, ich spreche nur von Brüsten weiblich gelesener Personen, der täuscht sich. Denn eigentlich nahm alles seinen Anfang mit der, eines Mannes. Also der männlichen Brust – im Singular. Auch so eine Sache, über die ich mir bislang wenig Gedanken gemacht habe. Aber allein die Terminologie dieser Begriffe, oder vielmehr ihre Verwendung, macht deutlich, dass es hier wohl einen Unterschied geben muss – zumindest in der Wahrnehmung. Aber, beginnen wir ganz von vorne:

Ich sitze mit D. auf dem Balkon und wir trinken Kaffee. D. erzählt mir von einem Festival, auf dem er mit seiner Band gespielt hat. Es sei eine mega Show gewesen – allerdings gab es da so einen Vorfall, erzählt mir D.. Einer seiner Bandkollegen, der Drummer, habe sich auf der Bühne das Shirt ausgezogen. Das mache er öfter, also eigentlich erstmal nichts Besonderes. Aber nach dem Konzert, sei die Sängerin einer anderen Band zu ihnen gekommen und habe ihn darauf angesprochen. Ob er sich denn eigentlich darüber bewusst sei, dass er mit seinem nackten Oberkörper anderen Menschen – insbesondere weiblich gelesenen Personen – vor den Kopf stoßen könnte. Sie, als Frau, könne sich nicht so einfach “oben ohne” auf die Bühne stellen. Ein klassisches Beispiel von offensive masculinity, so die Sängerin. Dabei habe er sich doch gar nichts nichts dabei gedacht, erwidert der Drummer. Was genau daran offensive sei, will er wissen. Ihm das zu erklären, sei sei nicht ihre Aufgabe, lautete die Antwort der Sängerin, erzählt mir D. Autsch! Recht hat sie irgendwie. Und doch zeigt die Unsicherheit des Schlagzeugers, dass hier ganz offensichtlich unterschiedliche Wahrnehmungen, vermutlich gar Welten aufeinandertreffen. 

Ich habe ganz grundsätzlich nichts gegen Nacktheit einzuwenden – aber die Selbstverständlichkeit mit der sich einige männlich gelesenen Personen im öffentlichen Raum ihren nackten Oberkörper präsentieren, lässt mich doch oft staunen und ich frage mich immer wieder: wieso eigentlich? Ist das einfach “typisch Mann”? Und welche Vorstellungen von Männlichkeit stecken vielleicht dahinter? Ich rufe einen Freund von mir, Anıl Altıntaş an, von dem ich glaube, dass er mir vielleicht eine Antwort darauf geben kann: 

Anıl: “Die Frage, ob das “typisch Mann” ist, würde ich anders beantworten. Ich würde sagen, es ist leider “typisch Mann”, weil sich Mann daran gewöhnt hat, in gesellschaftlichen Strukturen zu leben, die vollkommen an seine Bedürfnisse angepasst sind. Und das “Normale” daran, dass man sich zeigen kann, ist eigentlich kein Zustand, der normal sein sollte, weil er letztendlich konstruiert ist und natürlich auch mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun hat. Nämlich, dass Männer nicht in der gleichen Weise, und vor allem ihre Körper, sexualisiert, kontrolliert, limitiert und auch Objekt von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind. Und ich glaube, was daran normal ist, ist die Tatsache, dass wir uns als Gesellschaft daran gewöhnt haben, unsere Bedürfnisse vor allem an Bedürfnissen von Männern auszurichten. Und das ist es, was daran “typisch Mann” ist, dass man sich an diesen Zustand gewöhnt hat und wenig davon abhält, überhaupt darin eine Problematik zu sehen.”

Also alles eine Frage der Gewöhnung bzw. Sozialisierung? Und was sagt eigentlich das Gesetz dazu? Wie viel Nacktheit ist eigentlich erlaubt? Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen es einfach unangebracht ist, sich oberkörperfrei zu präsentieren, weil andere sich dadurch belästigt fühlen könnten. Wie zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln – was mir schon häufiger begegnet ist. Dass ein Mann mir “oben ohne” direkt gegenübersitzt und mir wenig Raum bleibt, mich diesem Anblick zu entziehen. Auch das kann Ausdruck von Macht sein – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst. Aber, wie Anıl sagt, wir haben uns als Gesellschaft scheinbar so sehr damit abgefunden, dass oberkörperfreie Männer in der Öffentlichkeit oft einfach toleriert werden. Was nicht heißt, dass sich alle damit wohlfühlen. Zwar ist Nacktheit grundsätzlich in Deutschland nicht verboten – es gibt kein Gesetz, dass es untersagt, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen – allerdings nur, wenn es ohne „sexuellen Bezug“ geschieht. Und nicht an Orten, an denen sich andere Menschen von der ungefilterten Körperlichkeit gestört fühlen können. Dann gilt Nachktheit gemäß § 118 als Ordnungswidrigkeit. Hierfür können schon mal Geldbußen zwischen fünf und 1000 Euro fällig werden. Allerdings frage ich mich: Ab wann fühlen sich Menschen gestört? Und wer beurteilt das? Das ist alles andere als eindeutig, weswegen § 118 auch als „Gummiparagraph“ gilt – eben eine sehr allgemein gehaltene Regelung, die sich ziemlich weit dehnen lässt. Aber nun genug der Paragraphen-Faselei! Worauf ich eigentlich hinaus möchte, ist die Tatsache, dass des Einen gelebte Freiheit, die eines Anderen einschränken kann. Und selbst, wenn nicht jede nackte Männerbrust, die mir im Sommer auf den Straßen begegnet, für mich zwangsläufig eine Belästigung darstellt, so macht sie mir doch eines deutlich: Ich könnte das nicht – zumindest nicht mit dieser Selbstverständlichkeit. Und damit sind wir bei “Brüste-Situation” Nr. 2:

Es ist Dienstag Abend, die Sonne scheint und ich drehe eine kleine Laufrunde entlang der Elbe. Ein anderer Jogger kommt mir entgegen – “oben ohne”. “Es ist aber auch echt heiß”, denke ich. Verständlich, wer da das Bedürfnis verspürt, sich freizumachen. Aber könnte ich mir das für mich selbst vorstellen? Als Frau, oberkörperfrei joggen? Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Blicke anderer Passanten wären mir wohl garantiert – ich würde mich unwohl und fehl am Platz fühlen. Den männlichen Jogger eben,  scheint es nicht im geringsten zu gehen wie mir. Ob der sich wohl darum bewusst ist? In diesem Moment erinnere ich mich an Schilder, die ich letzten oder vorletzten Sommer entlang der Alster gesehen habe. “T-Shirt bleibt an – alle haben fun!”, prangte groß auf denen.  Darunter eine kurze Erklärung oder vielmehr Aufforderung an männlich gelesene Personen, ihr “Oberkörperfrei-Privileg” doch bitte nicht auszunutzen. Als Zeichen des Respekts und der Solidarität mit allen Hamburger*innen. Im Prinzip das, was auch die Sängerin, die D.’s Bandkollegen ansprach, gefordert hat: Solidarität – oder im ersten Schritt zumindest Bewusstsein darüber, warum man etwas tut und was man damit vielleicht für Signale aussendet. Aber bedeutet das dann in der Konsequenz, dass sich männlich gelesene Personen grundsätzlich nicht mehr “oben ohne” zeigen sollten? Was sagt Anıl dazu?

Anıl: “Ich finde, die Schilder in Hamburg sind erstmal ein wichtiger Punkt, nämlich um auf die Problematik hinzuweisen und zum Nachdenken anzuregen. Ich würde nicht sagen, dass es eine solidarische Aktion von Männern sein sollte, sondern es ist eine Sache, die einerseits damit zu tun hat, dass sie sich im ersten Schritt reflektieren, also quasi eine Grundlage zur Reflektion. Und sie müssen natürlich auch mal drüber nachdenken, was es überhaupt heißt, in einem öffentlichen Raum seinen Körper so in einer Form darstellen zu können. Und gleichzeitig auch zu fragen, mit wieviel Einschränkungen eigentlich Personen, die als weiblich gelesen werden, umgehen müssen. Und ich glaube, es ist richtig, von einem Privileg zu sprechen. Ich sehe aber auf jeden Fall die Notwendigkeit, dass dieser Diskurs, dass nämlich Männer nicht immer, wenn sie oberkörperfrei sind, darauf hingewiesen werden, dass es ein Privileg ist und, dass sie gerade ihre Macht ausnutzen. Und ich finde, deshalb ist es eigentlich im ersten Schritt ein wichtiger Impuls.”

Und, wenn wir mal ehrlich sind, ist dieser Diskurs ja keineswegs neu: “Free the Nipple”, “Gleiche Brust für alle”, “oben Ohne Demos” – immer wieder wird darauf hingewiesen – meist von weiblich gelesenen und queeren Personen – dass Brust nicht gleich Brust ist. Dass die Brüste weiblich gelesener Personen seit jeher und noch immer objektifiziert und sexualisiert werden. Die weibliche Brust, sie ist eigentlich nur dann sichtbar, wenn sie dazu dient, etwas zu verkaufen oder in der Welt des Pornos. In der Öffentlichkeit, ob auf der Straße oder im Netz, stellt sie meist nur ein verpixeltes Phantom dar. Hier lautet Verhüllung die Devise! Zum Schutz versteht sich – aber vor was oder wem eigentlich? Und wieso ist das scheinbar meine Aufgabe, als Frau? 

Diese Frage bringt mich zu “Brüste-Situation” Nummer 3: Es ist noch immer Juni, ich scrolle durch den Nachrichtenfeed auf meinem Smartphone und bleibe an einer Meldung hängen: “Hamburger SPD-Politikerin fordert oben ohne für alle im Schwimmbad”. Im Artikel erfahre ich, es geht hier um Paulina Reineke-Rügge. Sie ist Bezirksabgeordnete der SPD Hamburg-Eimsbüttel und hat gerade einen Antrag eingereicht, mit dem die Oberkörperfreikultur für alle Hamburger*innen möglich werden soll. Spannend! Da hake ich doch direkt mal nach, was sich die SPD von dem Antrag verspricht. ich schwinge mich aufs Rad Ich treffe Paulina Reineke-Rügge in ihrem Abgeordnetenbüro:

Paulina Reineke-Rügge: “Also einmal nur vorweg: Wenn der Antrag durchkommt, dann ist es trotzdem keine bindende Regelung für die Schwimmbäder, sondern eine Empfehlung, die der Bezirk ausspricht. Aber dadurch, dass jetzt der Diskurs da ist, bewegt sich viel in die Richtung. Und mir ist es wichtig aus dem Grund, dass ich glaube, dass eine differenzierte Kleiderordnung zwischen Männern und Frauen oder Personen generell, veraltet ist und, dass es auch veraltet ist die weibliche Brust so zu sexualisieren und diese Differenzen zu machen zwischen den Körpern. Und man muss dazu sagen, angestoßen wurde es ja in Göttingen, wo eine nicht-binäre Person Baden war, die sich dann, obwohl sie sich ja nicht mal als Frau definiert, an eine Kleiderordnung halten musste, die vorgibt, dass Frauen das nicht machen dürfen. Und das hat einfach gezeigt, dass da Aufholbedarf ist und, dass da eine Ungerechtigkeit stattfindet und keine Gleichberechtigung, wie wir sie heutzutage haben sollten oder uns wünschen.”

Von dem Fall in Göttingen hatte ich mitbekommen – der ging ziemlich viral. Jetzt erfahre ich, dass sich daraufhin eine Bewegung gegründet hat, “Gleiche Brust für alle”. Und die hat tatsächlich erreicht, dass seit dem 1. Mai diesen Jahres jede und jeder in den Schwimmbädern Göttingens “oben ohne” baden kann – allerdings nur samstags und sonntags. Also Gleichberechtigung, aber nur am Wochenende? Klingt irgendwie absurd. Ich frage Paulina, was sie davon hält:

Paulina Reineke-Rügge: “Also ich bin froh, dass da überhaupt in irgendeine Richtung gegangen worden ist. Aber ich finde die Regelung tatsächlich super merkwürdig, weil die Brust und die weibliche Brust sieht nicht unter der Woche anders aus am Wochenende. Wenn man jetzt als Grund heranziehen würde, dass die Leute sich gestört fühlen oder belästigt oder ähnliches, wäre es am Wochenende ja noch wahrscheinlicher, weil da die Bäder noch voller sind. Deswegen kann ich die Regelung tatsächlich gar nicht nachvollziehen und ich finde es dann auch wieder schwierig, weil es quasi nochmal ein Zusatz ist und noch bürokratischer. Man muss sich noch mehr merken, wann darf ich was, wie darf ich das machen? Und es sollte einfach viel, viel einfacher werden und viel, viel normaler sein, dass weibliche und männliche Brüste beide, wenn sie mögen, frei sind.”

Apropos sich merken und informieren: der Sprecher der Hamburger Bäderlänger, Michael Dietel, der hält nicht ganz so viel von dem Antrag der SPD. Wieso, will ich von ihm wissen: 

Michael Dietel: “Wir sind von dem Antrag und dessen Inhalt schon ein bisschen überrascht, denn es ist aktuell überhaupt kein Thema zwischen unseren Badegästen. Wir werden nicht darauf angesprochen. Es gibt da keine schriftlichen Rückmeldungen und auch keine Nachfragen dazu, wie es denn geregelt ist. Es scheint also so zu sein, dass für die Gesellschaft klar ist, wie man sich gemeinsam in einem Schwimmbad verhalten will und was man jeweils  anziehen kann oder vielleicht auch nicht anzieht. Von daher ja, auch unsere Hausordnung gibt es her, dass Frauen oben ohne im Schwimmbad unterwegs sein können.”

 Okay, es ist also offiziell nicht verboten. Aber ist es damit bereits erlaubt? Paulina findet, nicht ganz: 

Paulina Reineke-Rügge: “Also ganz so stimmt es ja nicht, dass es erlaubt ist, sondern die Regelungen sind relativ schwammig. Es wird davon gesprochen, dass Menschen sich angemessen kleiden müssen. Es ist aber nicht definiert, wer entscheidet, was ist angemessen. […] Und ich glaube, dass gerade jetzt durch diesen breiten Diskurs und dadurch, dass viele darüber sprechen, Menschen doch eher darüber nachdenken, ob sie es dürfen oder eben nicht dürfen, weil es vorher eben nicht geregelt war. Wenn jetzt niemand im Schwimmbad sich “oben ohne” zeigt, würde ich es wahrscheinlich auch nicht tun. Wenn aber viele Menschen es machen, weil sie jetzt davon hören oder überhaupt darüber nachdenken, ist es was anderes. Und gerade das Beispiel Göttingen hat ja gezeigt, dass es Menschen gibt, die es wollen, die es aber noch nicht dürfen. Und deswegen glaube ich schon, dass da eventuell der Wunsch besteht und es wird ja niemand dazu gezwungen. Das heißt, wenn wir uns dafür einsetzen und die Menschen sagen “möchte ich nicht machen”, muss es keiner tun. Wobei ich sagen muss, dass ich im Freundeskreis jetzt von den Resonanzen schon gehört habe. Die Leute sagen auch In einigen Situationen mache ich es doch eigentlich ganz gern und habe es aber bisher nicht gemacht, weil man sich dann doch nicht traut.”

Würde ich mich das trauen? Klar, ist mein erster Gedanke. Für mich sind meine Brüste schließlich ganz “normal”. Warum sollte ich nicht “oben ohne” ins Schwimmbad. Aber, warum tue ich es dann doch so selten? Zeit für ein kleines Selbstexperiment, denke ich mir und damit sind wir auch angekommen bei dem besagten Tag im Freibad: Ihr erinnert euch, es ist Juni, 28 Grad?! Nachdem ich einen freien Platz für mein Handtuch ergattert habe, lasse ich meinen Blick über die Wiese streifen – auf der Suche nach Verbündeten. Aber, alles was ich sehe, sind Männerbrüste. Die einzigen Frauen, die kein Oberteil tragen, liegen auf dem Bauch. Und ich nehme an, sie tun das bewusst. Verzweifelt werfe ich noch einen Blick in die Runde, aber auch der ergibt keinen Treffer. Verdammt! Ich überlege mein Experiment abzubrechen. Als einzige Frau “oben ohne”? Dazu legt sich auch noch eine Gruppe junger Männer neben mich. Das macht es nicht gerade einfacher. Aber, wo liegt eigentlich das Problem? Ich habe doch eigentlich keins – sondern ihr, denke ich mir. Ihr, die mich zu etwas macht, das ich nicht sein will – ein Objekt. Ihr, die meinen Körper parzelliert, in Fragmente zerteilt, in Brüste, losgelöst von mir als ganzem Menschen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, jegliche Kontrolle über mich selbst zu verlieren, fühle mich ausgesetzt, den Blicken, die meinen Körper scheinbar als Einladung begreifen. Aber, wie lässt sich das Problem lösen? Muss ich mich einfach nur überwinden? Zögerlich ziehe ich mein Bikinioberteil aus. Ein wenig rebellisch komme ich mir dabei vor. Allerdings währt dieses Gefühl nicht lange. Ich spüre neugierige Blicke auf mir, möchte am liebsten die Augen schließen, um sie wenigsten nicht sehen zu müssen. So soll sich Freiheit anfühlen? Nein, danke!

Wir leben in einer hypersexualisierten Gesellschaft, die eine Doppelmoral predigt, die absurder kaum sein könnte. In der ein Potenzfeminismus suggeriert: “Fühl dich frei, niemand hindert dich daran! Schließlich leben wir im ach so liberalen “wilden Westen”. Ein BH zwängt dich ein? Lass ihn halt weg! Ach, du störst dich an den Blicken, die dich beinahe ausziehen, wenn man doch tatsächlich deine Nippel erahnen kann? Tja, damit musst du eben leben. So sind sie halt, die “Männer”! Nicht zu bändigen, diese Testosteronschleudern.” So ein Unsinn, denke ich mir. Die Lösung des Problems kann doch nicht liegen, dass Frauen ihre Körper zum Schutz verhüllen oder andersherum, einfach selbstbewusster werden müssen, um “frei” zu sein. Müsste es nicht eigentlich genau andersherum sein? Anıl hält diese Sichtweise auch für ziemlich verquer, wie er mir erklärt:

Anıl: “Dieses Argument, dass Männer sich nicht im Griff haben, ist natürlich sehr problematisch. Weil es im Prinzip die Schuld bei Frauen sieht, während Männer komplett von der Verantwortung befreit werden. Es gibt ja dieses Meme, das sagt nicht “protect women”, sondern “educate your boys”. Und ich finde, das ist erst mal eine richtige und wichtige Umkehr. […] Ich glaube, dass eigentlich Problem ist, Frauenkörper immer nur zu Objektifizieren und sie nur in einem Kontext zu sehen, ohne auch zu denken, dass der Körper ihnen nicht gehört. Und dieser Besitzanspruch ist, glaube ich, ist ein großes Problem, wovon natürlich auch Männer Teil sind, auch durch die Strukturen, in denen wir aufwachsen: Erwachsenenleben, Sozialisation, durch die Art und Weise, wie unsere Medienwelt funktioniert, reproduziert, manifestiert wird. Und ich glaube, das Problem ist, dass wir Männern nicht so wenig zutrauen. Aber es gibt zu wenig Leute an gesellschaftlichen Schaltstellen, die darin ein Problem sehen, weil das aus deren Perspektive, aus einer sehr männlichen, privilegierten Perspektive, das gesellschaftliche Gefüge auseinander bringen würde. […] Das heißt, ich bin immer dabei, Männer müssen in die Verantwortung gezogen werden, weil wenn Männer diese Blicke und diese Art und Weise, wie sie mit Frauen und deren Körpern umgehen nicht in Griff kriegen, dann werden wir auch nicht in einer gerechten Welt leben. Denn man muss sich vorstellen oder Männer müssen sich eigentlich vorstellen, was das eigentlich bedeutet, keine wirkliche Kontrolle über seinen eigenen Körper und sein eigenes Wohlbefinden und seine eigene Sicherheit zu haben. Von daher, es ist unbedingt wichtig, die Sensibilität zu schaffen. Und ich glaube, idealerweise würden wir alle gemeinsam kein Problem damit haben, am See oberkörperfrei zu sein. Aber ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Aber wir müssen diese Frage stellen, damit wir irgendwann so weit sind.”

Aber, wann sind wir so weit? Und wie kommen wir dahin? Nicht nur zum “Oben ohne” für alle. Denn am Ende geht es ja um weitaus mehr. Es geht um nichts Geringeres, als Selbstbestimmung – das Gefühl und die tatsächliche Macht, über den eigenen Körper bestimmen zu können. Es geht um Handlungsfreiheit, und zwar in zweierlei Hinsicht: positiv als die Freiheit, sich nach eigenem Gusto in der Öffentlichkeit bewegen zu können, und negativ als die Freiheit, nicht mit Zumutungen, wie Sexualisierungen, konfrontiert zu werden. Ich möchte mich ohne Angst und Scham frei bewegen können – natürlich unter Achtung der Grenzen anderer. Und genau die stehen zur Debatte. Wo fangen sie an und wo hören sie auf? 

Mein kleines Selbstexperiment hat mir eines in jedem Fall vor Augen geführt: der Körper ist ein Politikum – seit jeher. Wobei „politisch“ nicht nur das meint, was in Parlamenten beschlossen wird. Politisch ist auch all jenes das die Teilhabe von Menschen betrifft und unsere Möglichkeiten, an der Gemeinschaft als deren vollwertige Mitglieder partizipieren zu können. Politisch ist aber auch die Gestaltung von Gesellschaft auf allen Ebenen und in all ihren Dimensionen, mit dem dazugehörigen Ringen um Macht und Teilhabe. Zeiten ändern sich, Werte, Normen – all das gilt es zu verhandeln, immer wieder zu hinterfragen. Oder mit den Worten von Isaiah Berlin: „To confuse our own constructions and inventions with eternal laws or divine decrees is one of the most fatal delusions of men.“ Mir ist jedenfalls klar geworden, dass die Forderung nach Teilhabe und das Aufbrechen statisch gedachter Körperlichkeit Hand in Hand gehen. Und das bedeutet immer auch ein Aufbrechen politischer Ordnungen, sozialer Strukturen und vor allem Machtverlust derjenigen, die bislang privilegiert waren. Wie sehr der Körper zentraler Fluchtpunkt dieses Ringens ist, zeigt sich nicht zuletzt in den vielen Kämpfen, die geführt werden, von Menschen, die als Gleichberechtigte anerkannt werden wollen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet anzuerkennen, dass vieles möglich und ein Denken in starren Kategorien nicht mehr zeitgemäß ist, um den gesellschaftlichen Realitäten unserer Gegenwart zu begegnen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet, anzuerkennen, dass die Art und Weise, wie wir Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit wahrnehmen, ansprechen und behandeln, ihre Position in der Gesellschaft beeinflusst. Und diese Position ist immer auch politisch.
Während ich im Freibad sitze und mein Bikinioberteil wieder anziehe, denke ich: “oben ohne” für alle, das ist keine Frage, die alleine im Schwimmbad gestellt oder gar gelöst werden könnte. Es ist auch keine Frage, die sich von mir abschließend beantworten ließe. Ich hatte zwar gehofft, zumindest ein Resumé ziehen zu können, aber auch nach vielen Gesprächen mit Freunden und Fremden, sehe ich keine Eindeutigkeit. Wohl aber die Notwendigkeit, immer wieder vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Wie auch Forderungen zu formulieren, um deutlich zu machen, worum es letztlich bei all dem Ringen im Innen und Außen geht: um Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Und die ist eigentlich nicht verhandelbar.

28. Juni 2022

Antonis Schwarz: Ist Erben (un)gerecht?

von Marilena 14. Juni 2022

Während eine gängige Redewendung lautet, “Über Geld spricht man nicht, man hat es”, wird genau das heute getan. Und zwar mit Antonis Schwarz, den Marilena in München besucht hat, um zu erfahren, was der Millionenerbe mit der Initiative “tax me now” zu bewegen hofft. Denn eines ist klar: Die soziale Schere und Vermögensungleichheit wird immer größer: Allein in Deutschland besitzen die reichsten 10 Prozent mehr als die Hälfte aller Vermögen. Und das bedeutet auch Macht. Macht, die Welt massiv zu beeinflussen – ist das (noch) demokratisch?

Shownotes:

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► Bewegungsstiftung
► Netzwerk Steuergerechtigkeit
► Bürgerbewegung Finanzwende e.V.
► Leseempfehlungen: “Der Code des Kapitals” – Katharina Pistor; “ “Kapital und Ideologie” – Thomas Piketty; “Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleichheit” – Branko Milanović; “Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht” – Julia Friedrichs.
► Oxfam-Studie (2021): „Carbon Inequality in 2030: Per capita consumption emissions and the 1.5C goal.“

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14. Juni 2022

Behaarte Frauen, eine Provokation?

von Marilena 31. Mai 2022

Behaarte Frauen, wo sind sie? Überall nur haarlose Frauenkörper – auf der Straße, in Filmen oder Werbebotschaften. Glatte Haut wird vorausgesetzt und eine Alternative scheint es nicht zu geben. Enthaaren sich Frauen nicht, wird ihnen oftmals ihre “Weiblichkeit” abgesprochen. Aber warum rufen Haare eigentlich je nach Geschlecht unterschiedliche Reaktionen von Anziehung bis Ekel hervor? Warum können wir nicht die Vielfalt von Körperhaarfrisuren zelebrieren, egal ob Wildwuchs, Stoppeln oder Haarlosigkeit? Um das herauszufinden, hat sich Marilena mit Anna C. Paul, Herausgeberin von Super(hairy)woman*, über das Infragestellen von Schönheitsidealen unterhalten und gemeinsam einen Blick in die Kulturgeschichte der Enthaarung geworfen.

Shownotes:

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► “super(hairy)woman*: Erfahrungsberichte im Zeitalter der Haarlosigkeit”; Hrsg. Anna C. Paul; ventil Verlag (10/21).
► Auf dem Blog super(hairy)woman* könnt ihr weitere Erfahrungsberichte und Geschichten vieler Menschen zum Thema Behaarung nachlesen – und sogar eure eigene teilen!

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31. Mai 2022
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