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Kapitalismus

Sebastian Vettel: Wo siehst du deine Zukunft?

von Marilena 24. November 2022

Motorsport und Nachhaltigkeit – passt das zusammen? Diese Frage hat sich auch Rennfahrer Sebastian Vettel zunehmend gestellt. Bis 2030 will die Formel 1 klimaneutral sein. Zu diesem Zeitpunkt wird Vettel bereits ausgestiegen sein. Denn am 20. November 2022 fuhr er sein vorerst letztes Rennen. Weshalb er seine Karriere in der Formel 1 beendet und wo er seine Zukunft sieht, darüber hat sich Marilena Berends mit dem viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel unterhalten.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Sebastian Vettel
► F1 Sustainability Strategy
► IPCC Special Report Global Warming of 1.5 ºC
► Motorsport Week: Aramco deal worth more than $450m to Formula 1
► SPIEGEL: Börsengang von Saudi Aramco: Der wertvollste Klimasünder der Welt
► stern: Dicker als Blut: Wie die Öl-Industrie von Krisenzeiten profitiert 
► F1 Statement of Commitment to Respect for Human Rights
► Medium: An Alternative Calendar Could Cut F1’s Logistical Carbon Emissions by Almost Half

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Redaktionelle Unterstützung: Céline Weimar-Dittmar

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Schnelle Autos, röhrende Motoren, der Geruch von Benzin. Wer dieses Bild vor Augen hat, denkt vermutlich nicht gerade an Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das, was Motorsport-Fans so lieben, fordert einen hohen Preis: Rund 260.000 Tonnen CO2 hat die Formel-1 alleine in der Saison 2019 verursacht. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa 60.000 PKWs, die ein Jahr lang gefahren werden. Wobei in den Statistiken der Formel-1 nicht mal die Anreise der Fans erfasst wird. Und die werden, auch dank der Netflix-Serie „Drive to Survive“, immer zahlreicher.

Ehrlich gesagt, hat sich mir die Faszination für schnelle Autos, die im Kreis fahren, nie wirklich erschlossen. Ein bisschen besser verstehen konnte ich es allerdings, als ich Rennfahrer Sebastian Vettel kennengelernt habe. Der viermalige Weltmeister ist nicht nur einer der erfolgreichsten Rennfahrer der Formel-1, in den vergangenen Jahren hat er sich auch zunehmend kritisch gegenüber der Branche geäußert. Denn auch, wenn die Formel-1 2019 eine Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt hat, mit dem Ziel bis 2030 klimaneutral zu sein, werden nach wie vor wenige Schritte gegangen, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. 

Auch, wenn Sebastian und ich uns vor allem über seinen eigenen Sinneswandel unterhalten haben, ist diese Episode gleichzeitig ein Versuch, den Einfluss der Formel-1 und ihre Verantwortung im Hinblick auf Nachhaltigkeit zu beleuchten. Ebenso, wie die Chancen aufzuzeigen, die in einem Umdenken der Sportindustrie liegen. Denn Millionen von Fans eifern Menschen, wie Sebastian Vettel, nach. Was würde also passieren, wenn mehr Sportlerinnen und Sportler sich öffentlich äußern und Druck auf die Branche ausüben? Könnte damit ein Wandel beschleunigt werden?

Bevor wir in das Gespräch einsteigen, lasst mich noch eins vorweg sagen: Das Thema Nachhaltigkeit ist komplex. In einer Stunde lässt es sich nicht vollständig abbilden. Es gibt viele, um nicht zu sagen zu viele Aspekte im Hinblick auf den Motorsport, auf die näher eingegangen werden sollte und muss. Ich habe mich auch gefragt, ob ich das Gespräch so veröffentlichen kann und habe mich schließlich dafür entschieden. Denn es bietet vor allem einen persönlichen Einblick in ein Leben, das zunehmend von Widersprüchlichkeiten geprägt war. Und die gehören nun mal nachweislich zu unserer Welt dazu. Oder etwa nicht?


Marilena: Herzlich Willkommen Sebastian im Sinneswandel Podcast. Schön, dass wir heute hier sitzen und danke, dass ich bei dir zu Gast sein darf. Denn eigentlich muss man das ja so sagen.

Sebastian: Ja, danke, ich freue mich. Danke schön.

Marilena: Ich glaube, einige der Zuhörerinnen und Zuhörer des Podcasts fragen sich, weshalb jetzt ausgerechnet wir beide hier sitzen. Denn ein bekennender Formel-1-Fan bin ich nicht. Aber, dass wir uns heute hier unterhalten, hat eigentlich auch weniger mit Autorennen selbst zu tun, als vielmehr mit deinem eigenen Sinneswandel. Du hast nämlich am 28. Juli dieses Jahres das Ende deiner Karriere in der F1 verkündet. Deshalb würde mich zunächst interessieren: Wie ist es zu diesem Sinneswandel gekommen, dass dir das, was du lange Zeit getan hast und worüber man dich kennt, jetzt nicht mehr so gefällt?

Sebastian: Ich glaube, es ist weniger die Tatsache, dass es mir nicht mehr gefällt, sondern vielmehr die Tatsache, dass es eben andere Dinge gibt, die in meinem Leben gewachsen sind. Andere Interessen, wie meine Familie. Ich habe drei Kinder. Und ja, der Sport war mein Leben und hat meinen Rhythmus, meinen Tagesablauf bestimmt, solange ich mich erinnern kann. Und er hat ein festes Raster mit sich gebracht: Die Saison geht im Frühjahr los, Januar, Februar, mit den ersten Terminen, den ersten Tests. Dann folgen die ersten Rennen im März und dann geht es Schlag auf Schlag bis in den November, Ende November, Anfang Dezember, teilweise sogar bis kurz vor Weihnachten den letzten Termin. Und dann ist eigentlich Weihnachten, die freie Zeit, und dann hat man ein paar Wochen, wo mehr Ruhe ist und dann geht es wieder los. Ich musste mich in dem Sinn eigentlich nie kümmern und nie sorgen, wie das nächste Jahr aussieht, weil es irgendwie immer weiter ging. Und ich will nicht sagen, ich bin dem in den letzten Jahren entwachsen, ich glaube, das geht ein bisschen zu weit, aber ich glaube, es kommen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits bin ich Vater von drei Kindern.

Marilena: Da verändern sich die Prioritäten?

Sebastian: Ja. Und wenn dann das Alter irgendwo erreicht wird von den Kids, dass sie sagen: “Warum musst du gehen? Bleib doch hier!” Und der Abschied mir selber auch sehr schwer fällt, ich glaube, das bewegt einen einfach und macht was mit einem. Ich habe mir sehr viele Gedanken, auch mit Hilfe von außen, darüber gemacht, welcher Typ ich eigentlich bin. Was mich eigentlich so wirklich reizt und am meisten antreibt. Und dann ist es doch der sportliche Erfolg. Also sehr von außen in dem Sinne bestimmt. Und da die letzten Jahre nicht mehr so erfolgreich waren, war ich zwangsweise in einer neuen Situation, mit der ich mich auseinandersetzen musste. Aber ja, ich glaube, es gibt immer Höhen und Tiefen. So kamen dann ein paar Dinge zusammen. Und dazu das Bewusstsein, dass sich hier andere Interessen entwickelt haben.

Marilena: Zum Beispiel? Lernst du nicht Alphorn, oder so ähnlich?

Sebastian: Ja, okay, das ist jetzt vielleicht nicht die größte Priorität in meinem Leben, es geht auch sehr schleppend voran. Aber ja, ich sag mal, über den Sport hatte ich natürlich die Möglichkeit, sehr viele Dinge und Leute kennenzulernen und habe mich dann auch irgendwann mit dem Thema Ernährung auseinandergesetzt  Und so hat es mich in die Landwirtschaft getrieben: Wie werden Dinge angebaut und wie viel gibt man dem Boden zurück? Oder nimmt man eben nur das, was auch sehr viel Potenzial im Positiven haben kann, um den Klimawandel oder die Klimakrise zu bremsen oder aufzuhalten oder umzukehren. Und auch, wenn mein Zugang vielleicht nicht der Logischste war, über die Landwirtschaft, aber dann hängt ja so viel miteinander zusammen. Und so ist eigentlich in den letzten Jahren viel mehr Bewusstsein in mir gewachsen, dass ich Dinge, die ich vielleicht früher gesehen, aber nicht verstanden habe, jetzt verstehe und zusammenführen kann.

Marilena: Die Motorsportwelt ist ja nicht unbedingt eine, in der man zwangsläufig mit Themen, wie Umwelt oder Nachhaltigkeit konfrontiert wird. Eigentlich kann man sich, wenn man die Entscheidungen trifft, durchaus davon fernhalten, von genau solchen Fragen. Was war ein Moment in deinem Leben, es gab vermutlich nicht diesen einen Großen, gehe ich von aus, aber vielleicht mehrere, die dich bewusst haben werden lassen, dass du vielleicht nicht mit allem d’accord gehst?

Sebastian: Ich glaube nicht, dass es nur einen Zugang in dem Sinne gab, sondern eher, dass sich dann auf einmal eine ganze Welt erschlossen hat. Und ich habe dem mehr Raum gegeben. Vor jetzt zwei Jahren, zur Corona Zeit, als die Pause war, habe ich auch ein kleines und Praktikum auf dem Bauernhof gemacht, um das ein bisschen zu vertiefen. Und ich glaube, vor allem das Thema Zukunft, als Vater beschäftigt einen das natürlich, weil man ja möchte, dass die Kinder es genauso gut haben wie man selbst. Dass die Welt, die sie vorfinden, genauso blüht, genauso grün ist, genauso schön ist und sicher ist. Und ja, so hat sich immer mehr ein Bild vor mir aufgetan und wurde immer größer. Und ich muss auch sagen, es wurde dann teilweise so groß, dass es mich erdrückt hat.

Marilena: Welches Bild?

Sebastian: Das Bild von der Zukunft. Wie die Zukunft aussieht, wo die Reise vielleicht in Zukunft hingehen könnte, für uns alle, wenn wir nicht alle unser Bestes geben. In dem Sinne, das in die richtigen Bahnen zu lenken.

Marilena: Wenn man eine Leidenschaft, beziehungsweise bei dir einen Beruf ausübt, der dazu beiträgt, dass sich das Problem verschärft, dann löst das ja auch ein Gefühl von Inkongruenz aus oder vielleicht sogar von Schuld aus, was du vielleicht auch nicht mehr ertragen konntest?

Sebastian: Natürlich. Ich meine, es wurde mir dann immer mehr bewusst. Man landet ja sehr schnell bei sich selbst oder eigentlich als erstes bei sich selbst, das zu hinterfragen. Und das war das erste Mal überhaupt, dass ich das in Frage gestellt habe. ich meine, mir war klar, dass ich vorher keine Menschenleben gerettet habe und immer noch nicht rette damit. Aber meiner Leidenschaft bin ich mein Leben lang nachgegangen. Aber das dann mehr oder kritischer zu hinterfragen, natürlich mit den Dingen, die mir dann klar geworden sind, was die Zukunft angeht und auch die Ängste, die damit zusammen verbunden waren und sind, zu hinterfragen: “Was mache ich eigentlich, wie bewege ich mich fort, was kann ich eigentlich besser machen?” Okay, das Fahren in dem Sinne kann ich nicht verändern. Ich kann nicht das Reglement umschreiben, aber ich kann die Dinge kontrollieren, die in meinen Händen liegen. Wie ich anreise, und so weiter. Aber dann wurde mir auch klar, dass ich einen Unterschied machen kann, aber das große Ganze gar nicht so im Griff hatte. Dann bin ich sehr schnell bei der Frage gelandet: “Ist das noch in Ordnung? Sollte ich das noch weitermachen?” Und teilweise hat mich das sehr beschäftigt, teilweise sehr fertig gemacht, sodass ich nicht schlafen konnte. Was glaube ich, normal ist, wenn man sich so fragt: “Sollte ich noch hier sein? Macht das noch einen Sinn? Macht mir das noch Spaß?”

Marilena: Du hast dich ja auch immer wieder kritisch geäußert. Und, dass die Medien das dann abbilden, um dich kreisen, das veröffentlichen, das hat ja auch dazu geführt, dass Menschen sich eine sehr starke Meinung darüber bilden, ob das jetzt richtig oder falsch ist, dass du solche Aussagen triffst. Als Person, die diesen diesen Sport betreibt, der nicht gerade dafür bekannt ist, Menschenrechte zu fördern, zum Beispiel LGBTIQ, Rechte oder eben besonders nachhaltig zu sein. Heuchelei wurde dir in den Medien vorgeworfen. Wie siehst du das?

Sebastian: Ist es ja auch, zu einem Teil. Ich meine, es ist ja genau der Konflikt, den ich auch im Kopf in gewisser Weise mit mir rumgetragen habe, gerade, was das Thema angeht. Ich glaube, um das Thema Menschenrechte weniger, dass ich selber gedacht habe, dass von mir gedacht wird, dass das nicht zusammenpasst. Ich glaube schon, dass ich in der Hinsicht eine gesunde Einstellung dazu habe, wie man mit Leuten umgeht.

Marilena: Trotzdem bist du ja Teil eines Systems.

Sebastian: Absolut. Aber ich meine ganz individuell. Aber die andere Seite ist eben, wenn man sieht, was die Gefahren in Zukunft angeht und wo die Reise hingehen könnte für uns alle und wie viel von der jetzigen Welt aufs Spiel gesetzt werden kann oder wird. Ja klar, es ist ja auch gerechtfertigt, wenn die Leute mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: “Wieso sollte man ihm glauben? Gerade er, aus der Welt, verbläst Ressourcen zum Spaß haben oder um Leute zu unterhalten.” Und das stimmt auch. Am liebsten wäre es mir, wenn es nicht so wäre, dann müsste ich das nicht mit mir herumtragen. Denn ich glaube, der Tag, an dem mir das klar geworden ist, war nicht der fröhlichste Tag im Kalender. Im Gegenteil. Aber da ich ein Optimist bin und sehr lösungsorientiert bin, habe ich mir direkt die Frage gestellt: Was kann ich tun? Alles kann ich nicht kontrollieren. Ich kann nicht das Reglement ändern. Ich kann nicht sagen, die Formel 1 findet nur noch auf einer Rennstrecke statt, damit niemand mehr reisen muss. Das nimmt natürlich auch den Reiz. Dann ist auch die Frage, gewisse Dinge lassen sich optimieren, aber gänzlich verbieten oder wegnehmen kann man sie auch nicht. Man kann nicht von einer Weltmeisterschaft sprechen, wenn sie nur an einem Ort ausgetragen wird.

Marilena: Gleichzeitig kannst du aber Druck ausüben.

Sebastian: Das hat sich eigentlich eher ergeben, dass Leute mich nach meiner Meinung gefragt haben. Vielleicht habe ich mich früher einfach enthalten oder sie nicht in der Tiefe beantwortet. Aber ich finde das sehr spannend. Die Leute von außen haben ein Bild von mir und man “kennt mich”, aber so wirklich kennen, tun die Leute mich nicht. Und das ist auch bewusst so, weil ich eben immer eine gewisse Schutzwand um mich herum aufgebaut oder aufrecht stehen habe lassen. Gerade zum Schutz meines Privatlebens und damit meiner Frau und vor allem meinen Kindern. Natürlich werde ich hier oder da erkannt, aber ich mache alles, worauf ich Lust habe. Also, dieses was Besonderes sein oder speziell sein oder berühmt sein wollen, ich weiß ich nicht warum manche Leute da total drauf abfahren. Mich hat das noch nie getriggert. 

Marilena: Rennfahrer sein ist ein großer Teil deiner Identität bis heute und wird es vermutlich auch bis zu einem gewissen Grad bleiben. Aber hast du manchmal auch Angst davor, vielleicht sogar in ein Loch zu fallen, wenn jetzt die Formel eins Karriere beendet ist? Oder siehst du es primär als große Chance, dich neu zu entdecken oder wiederzuentdecken?

Sebastian: Wenn ich ganz ehrlich bin, beides. Und weil ich eben so viel darüber nachgedacht habe, bis ich gemerkt habe, es gibt jetzt mehr Gründe für mich aufzuhören oder einen Strich zu ziehen und Neues zu entdecken. Aber natürlich habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht oder Angst davor, was ist, wenn ich in diesem neuen Leben nicht klarkomme, wenn ich scheitere. Auch wenn ich sehr interessiert bin und neugierig und viele Fragen stelle und mich für viele Dinge begeistern kann und zu Hause mit den Kindern immer was los ist. Eigentlich hat sich viel angehäuft. Trotzdem stellt man sich die Frage: Ist das wirklich ausreichend? Erfüllt mich das? Werde ich damit glücklich oder sehne ich mich dann zurück? Und komme ich dann zu dem Punkt, dass ich sage, ich habe einen Fehler gemacht, aufzuhören? Letzten Endes bin ich an dem Punkt gelandet, dass ich die Antwort darauf nicht finden kann. Nur der Mut ins neue Leben wird mir zeigen, ob die Entscheidung in dem Sinne auch richtig war. Aber ich glaube, das ist auch ganz normal. Ich denke, es ist auch ein Zeichen dafür, dass ich das sehr liebe. Es ist ja nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben lang das gemacht, was ich jetzt zutiefst bereue. Ganz im Gegenteil.

Marilena: Eigentlich muss man ja sagen, dass euer Beruf nicht unbedingt auf den vorderen Plätzen steht, die besonders zukunftsfähig sind. Und ihr wollt ihn ja eigentlich erhalten. Könnten sich Rennfahrer innen nicht noch mehr solidarisieren?

Sebastian: Ich glaube, das könnten wir. Und ich denke, das wäre sehr gut. In der Formel 1 ist die Gemeinschaft teilweise gut, teilweise nicht so gut. Und zwar aus dem Grund, dass doch jeder sehr isoliert in seiner Mannschaft, in seinem Team ist, ein bisschen abgekapselt. Wir haben nicht viele Berührungspunkte. Außer am Wochenende auf der Strecke vielleicht, aber sonst wenig Zeit, die wir in dem Sinne zur Verfügung haben oder miteinander verbringen. Ich will nicht unfair sein, aber es kommt natürlich auch darauf an, wie weit man sich davon berühren lässt, von dem, was in der Welt passiert. Ob das jetzt Ungerechtigkeit sein mag oder die Klimakrise, die Zukunft. Ich will den anderen nicht zu nahe treten, aber ich glaube, man findet ein sehr gutes, ohne sich groß zu kümmern, was links und rechts passiert.

Marilena: Hat das auch  mit dem Druck zu tun, der auf den Rennfahrern liegt? Mit dem Bild, das die Rennfahrer glauben erfüllen zu müssen?

Sebastian: Das Bild erfüllen, vielleicht einerseits, aber ich glaube vielmehr, man rutscht da einfach rein. Ich meine, man ist das ganze Jahr unterwegs, man reist sehr viel. Man möchte ja auch erfolgreich sein. Und was steckt hinter dem Erfolg? Das ist sehr viel mehr, als sich vielleicht zweimal im Jahr aufs Rad zu setzen und dann zu sagen: “Jetzt geht’s zur Tour de France, weil Radfahren macht mir Spaß!” Es wird ja alles akribisch geplant und da steckt eben viel mehr dahinter. Und ich glaube, dass wir in der Hinsicht jetzt nicht am körperlichen Limit operieren müssen, um sportlich unsere Leistung zu bringen. Ich weiß es ist ein sehr komfortables Leben in dem Sinne. Und dann kommt eins zum anderen. Und wenn man die Dinge nicht so an sich heranlässt, weil man zu sehr im Tunnel ist – vielleicht war ich das auch selber früher und habe das nicht so wahrgenommen. Und dann gibt es auch nicht so viele Mitstreiter, die ähnlicher Meinung sind oder so weit gehen, dass sie sich selbst hinterfragen.

Marilena: Also die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann mal eine “Formel 1 For Future“ gibt, siehst du als nicht so groß?

Sebastian: Wer weiß. Ich glaube, es ist eine Frage des Bewusstseins. Ich meine, wir reden ja auch in unserer Gesellschaft darüber, dass Leute noch gar nicht so richtig verstehen, was überhaupt das Problem ist. Man redet zwar von von Dürre und Hitze, weil es gerade warm ist, aber ich glaube, dass das große, breite Verständnis, dass es da wirklich einen Zusammenhang gibt mit der Art und Weise, wie wir alle leben – gerade im Westen – dass es da viele gibt, die das noch nicht so nicht so verstanden haben. Und ich glaube, man muss dann nicht unbedingt nur mit dem Finger auf die Formel 1 zeigen und auch nicht nur auf den Sport, da gibt es auch Leute, die, ohne das zu werten, ein ganz gewöhnliches Leben haben und da noch weit weg von sind.


Sebastian hat in dem Punkt Recht, dass es noch immer viele Menschen gibt, die sich der Dringlichkeit der Klimakrise nicht ausreichend bewusst sind. Oder sich zumindest nicht  mitverantwortlich fühlen. Allerdings ist es ein Unterschied, wenn sich Menschen, wie Mohammed Ben Sulayem, Präsident der FIA, der Dachverband der Formel 1, vor dieser Verantwortung drücken. Das Ausmaß der Verantwortungslosigkeit, wenn man in einer Schlüsselposition des weltweiten Automobilsports sitzt, ist ein ganz anderes. Auch, wenn der Einfluss von uns als einzelnen Bürger*innen nicht zu unterschätzen ist, bedeutet es nicht, dass die Verantwortung gleichermaßen aufgeteilt ist. Wer Macht beansprucht, weil er in Machtpositionen sitzt, hat dieser Position gerecht zu werden. 


Sebastian: Also ich glaube, da gibt es noch sehr viel Potenzial. Und letzten Endes ist es wie in der Schulklasse, es ist ein Schnitt durch die Gesellschaft. Und so ist es bei uns in gewisser Weise auch. Es sind 20 verschiedene Fahrer, 20 verschiedene Typen.

Marilena: Allerdings haben sie eine sehr große Reichweite. Wenn man die 20 Formel 1 Rennfahrer, von denen, die Instagram haben – du hast es ja mittlerweile auch – die Follower zusammenzählt, dann kommt man auf 100 Millionen. Das ist ja schon ein ganzes Sümmchen. Und ich weiß nicht, ob der Durchschnitt der Menschen auf der Welt Millionen von Followern hat. Mir geht es gar nicht darum, das zu kritisieren. Mir geht es eher darum, dass darin ja auch eine Chance liegt. Das lässt sich nicht nur auf die Formel 1 beziehen, sondern auf den Sport generell, dass da ein großes Potenzial liegt. Also auch darum, wenn es darum geht, Vorbild zu sein. Sportler*innen sind für Menschen, Leute, denen sie nacheifern. Wie siehst du das? Könnte darin nicht ganz viel Potenzial liegen?

Sebastian: Natürlich ist die Reichweite sehr groß. Wir fahren fast überall auf der Welt, in vielen Ländern, und erreichen sehr viele Leute. Und damit ist auch die Chance riesengroß, auf Dinge aufmerksam zu machen, die wichtig sind. Die Chance ist auf jeden Fall da. Und mit so viel Reichweite, finde ich, ist auch extrem viel Verantwortung gebunden für unseren Sport. Aktuell verblasen wir Ressourcen. Ich bin der Meinung, das ist jetzt keine super futuristische Meinung, dass die Zukunft fossilfrei sein muss. Und dann ist die Frage, welche Rolle kann der Motorsport einnehmen, dass er nicht verschwindet, in den Hintergrund gedrängt wird, weil er keinen Platz mehr hat. Das wäre sehr schade, weil er mir am Herzen liegt. Im Gegenteil, ich bin eher der Meinung, man müsste vor der Welle sein und nicht nur reagieren auf ein bisschen Druck von außen. Sondern sich selber so hohe Ansprüche stellen, dass man alles dafür gibt und auch bereit ist, letzten Endes auf Umsatz oder Profit zu verzichten, um das in die richtigen Bahnen zu lenken. Was die Zukunft angeht, ich glaube, dass Elektromobilität kommt, kommen muss, ist keine Frage mehr. Dass es andere Lösungen geben wird, wie Wasserstoff, ist auch keine Frage. Dass es vielleicht noch irgendetwas anderes in Zukunft geben wird, das wir noch nicht kennen, dem sollten wir uns auch nicht verschließen. Dass wir so weitermachen wie bisher, das ist einfach nicht mehr drin, weil die Gefahren und die Risiken uns bekannt sind. Und dann hört das ja nicht nur bei uns auf. Der Anteil der Emissionen, die wir beim tatsächlichen Fahren oder Testen verursachen, sind sehr gering, im Verhältnis zu dem ganzen Zirkus.


Das stimmt allerdings! Lediglich 0,7 Prozent der gesamten CO2-Emissionen der Formel-1 lassen sich auf die Rennen selbst zurückführen. Dennoch setzt die Formel-1 in Punkto Nachhaltigkeit vor allem auf die Forschung und Entwicklung effizienter Verbrennungsmotoren und nachhaltiger Treibstoffe. Zwar wird es ohne technische Innovationen nicht möglich sein, Net Zero zu erreichen, mit neuer Technik allein, das haben Wissenschaftler*innen im letzten IPCC-Bericht wieder klar gemacht, wird es auch nicht gelingen.

Offen ist ja aber auch noch die Frage: Wenn der Löwenanteil der Emissionen nicht auf der Rennstrecke verursacht wird, wo dann? Das lässt sich leicht beantworten: Drei Viertel des CO2 entsteht durch die Logistik, also beim Transport etwa von Autos und Reifen. Denn zu den 22 Rennen, die in einer Saison und auf dem gesamten Erdball verteilt stattfinden, muss schließlich alles transportiert werden – natürlich auch die Fahrer und das Team. Deren Business-Trips machen weitere 27 Prozent der Emissionen aus. Der verbleibende CO2-Ausstoß lässt sich auf die benötigte Infrastruktur, wie Bürogebäude, aber natürlich auch die Organisation der Events zurückführen. Bei letzterem ist die Anreise der Fans übrigens nicht mit eingerechnet.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch, wenn die Formel-1 bereits einiges getan hat, um, sagen wir mal “grüner” zu werden, lässt sich bezweifeln, dass sie es mit den noch geplanten Schritten schaffen wird. Vor allem, wenn man die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und Konzernen bedenkt… 


Sebastian: Ich meine, es gibt natürlich das Problem, dass es unheimlich viel Energie benötigt, um synthetische Kraftstoffe herzustellen. Es ist nicht die effizienteste Form der Energieumwandlung oder -verwertung. Aber wir können nicht von heute auf morgen den Hahn abdrehen, das geht auch nicht. Es wäre zwar schön, aber das geht natürlich nicht, weil wir viel zu abhängig davon geworden sind. 

Marilena: Von Aramco meinst du?

Sebastian: Ohne jetzt den Namen zu nennen, aber ich sage mal, natürlich sind wir mit allem, was wir konsumieren, so wie wir leben – nicht nur die Leute, die Auto fahren und das noch zum Spaß, auch sonst – darauf angewiesen. Ich glaube, keine Industrie ist davon verschont. Aber trotzdem müssen wir natürlich alles dafür tun, dass wir die Brücke schaffen, hin zu der Zukunft, die wirklich den Kreislauf schließt. Und da sehe ich die Chance, dass die Formel eins sich vorne positionieren kann und nicht ständig nur hinterher rennt. 


Die spannende Frage ist natürlich: Kann die F1 überhaupt klimaneutral werden, wenn sie auch finanziell an fossile Energieträger, wie Aramco, gebunden ist? Der saudische Ölgigant, dessen Namen nicht genannt werden darf“ – zumindest von Sebastian. Denn Aramco ist nicht nur der drittgrößte börsennotierte Ölkonzern der Welt, sondern auch Titelsponsor von Aston Martin, dem Rennstall, dem auch Sebastian angehört. Also sein Arbeitgeber. Ein guter Deal für die Formel-1, der ihnen umgerechnet rund 535 Millionen Euro einbringt  Für das Klima allerdings kein gutes Geschäft, wenn man bedenkt, dass Aramco mit rund 60 Gigatonnen CO2, die es zwischen 1965 und 2017  in die Atmosphäre geblasen hat, für fast 4,4 Prozent aller nicht natürlichen Emissionen weltweit verantwortlich ist. Natürlich kündigte Aramco, wie eine Reihe anderer Ölkonzerne, 2021 an, sich zur Netto-Null bis 2050 zu verpflichten. Laut einer Analyse des Think Tanks Carbon Tracker reichen die Pläne aber bei weitem nicht aus. Denn eigentlich müsste Aramco, um “Netto-Null” zu erreichen,  die fossilen Rohstoffe in der Erde lassen. Und das entspricht natürlich nicht ihrem Geschäftsmodell. Daher besteht auch ein großer Teil der geplanten Maßnahmen zur CO2-Reduzierung im Kauf von CO2-Kompensationen, mit denen sich Aramco erhofft, freikaufen zu können.

Zwar kündigte Aston Martin an, durch die Partnerschaft mit dem Ölkonzern auch gemeinsam die Forschung nachhaltiger Treibstoffe voranzutreiben. Das allein dürfte jedoch keinesfalls die diversen Kritikpunkte aufwiegen, die sich noch nennen ließen. Wie zum Beispiel, dass Aramco, wie kein anderes Unternehmen weltweit, massiv von den globalen Folgen für den Energiemarkt des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine profitiert. Allerdings überrascht das wenig, wenn man sich der Menschenrechtslage im autoritär regierten Saudi-Arabien bewusst ist. Es gibt keine Wahlen, Opposition und Kritik werden schwer, zum Teil mit Todesurteilen, bestraft. Die Lage im Land hat die Formel 1 allerdings nicht davon abgehalten, Saudi-Arabien in den Kreis der Ausrichter Länder aufzunehmen. Und das, obwohl es von der Formel-1 eine Verpflichtungserklärung zur Achtung der Menschenrechte gibt. Auf Anfragen der Deutschen Welle, warum man in Saudi-Arabien dennoch Rennen abhält, gab die Formel-1 bislang keine Antwort.


Sebastian: Letzten Endes hängt es immer am Geld, dazu bereit zu sein, auf einen gewissen Teil des Profits zu verzichten und den dort reinzustecken, wo er zumindest nicht so schädlich oder nicht so einen großen Fußabdruck hinterlässt. Oder im Gegenteil, die Leute  auf diese Reise mitnehmen und sich selber kritisch hinterfragen und das, was, was passiert, versucht, besser zu machen.

Marilena: Ich würde sagen, eigentlich sind der Formel 1 die Hände gebunden, zumindest in dem Sinne kann sie sich gar nicht kritisch äußern oder zukunftsfähig aufstellen, weil sie von Sponsoren abhängig ist, die nicht besonders zukunftsfähig sind und das Problem verschärfen, wenn es um die Klimakrise unter anderem geht. Wäre es nicht auch eine Chance, nachhaltige Pionierunternehmen als Sponsoren zu gewinnen? Davon gibt es mittlerweile diverse.

Sebastian: Absolut. Aber der Grundsatz wäre eben: Geld ist nicht gleich gleich Geld. Sondern: Wo kommt das Geld her? Bzw. für was steht es? Ja, ich glaube, da ist noch ein Weg zu gehen. Und wie gesagt, von heute auf morgen lässt es sich nicht gänzlich ändern. Aber wir müssen. Wir hätten schon gestern anfangen sollen und dann sollten wir zumindest heute anfangen und spätestens morgen. Aber nicht auf übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr verschieben, sondern jetzt anfangen. Egal, ob klein oder groß. Natürlich machen die großen Schritte deutlich mehr Sinn, aber auch die “low hanging fruits“.

Marilena: Was sind das?

Sebastian: Zunächst wäre es, den Kalender sinnvoll zu gestalten. Also nicht ein Rennen mitten in der Saison, dann in Amerika oder in Kanada auszutragen, dass alles dorthin geschickt werden muss, wie die Autos.


Klar, das nachhaltigste Rennen ist das, was nicht stattfindet. Nichtsdestotrotz ist eine Umgestaltung des Rennkalenders nicht zu unterschätzen. In der Saison 2022 sah der nämlich wie folgt aus: Von Saudi Arabien aus, wo im März gefahren wird, geht es für die gesamte Formel 1 in das knapp 13.000km Luftlinie entfernte Australien. Danach geht es, ist doch ganz logisch, nach Italien. Das sind ja auch nur 16.000km mit dem Flugzeug. Und wer denkt, wir bleiben jetzt in Europa, der täuscht sich. Denn das nächste Rennen findet im Mai in Miami statt. Und erst danach geht es wieder zurück nach Europa, nämlich nach Spanien. So kommt man, bei 22 Rennen, ich habe das mal für euch ausgerechnet, auf etwas mehr als 121.000km Luftlinie, die zurückgelegt werden. Und wir erinnern uns, nicht nur die Fahrer müssen an die Orte transportiert werden, auch das ganze Material und die Teams. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass hier die meisten Emissionen entstehen. Und dementsprechend wären auch große Einsparungen möglich. Berechnungen zufolge könnte die Formel-1 ihre CO2-Emissionen aus der Logistik um bis zu 46 Prozent senken, wenn sie ihren bereits für 2023 geplanten Kalender dahingehend umgestalten würde, dass kürzere Strecken zurückgelegt werden. Der alternative Kalender würde damit den gesamten CO2-Fußabdruck der Formel-1 um mehr als 10 Prozent verringern. Noch nachhaltiger wäre es jedoch, würden die Organisatoren, statt wie geplant zwei weitere Rennen für die kommende Saison einzuplanen, sodass es nun 24 insgesamt sind, die Anzahl reduzieren. Aber weniger Rennen bedeutet natürlich auch weniger Einnahmen.


Sebastian: Den Kalender besser anzuordnen, macht total Sinn. Die Frage ist aber, ist der sinnvollste Kalender, was den Fußabdruck des Reisens und der Logistik angeht, auch der Kalender, der ja am meisten Geld generieren kann? Und da ist das Interesse im Moment noch klar bei dem meisten Geld gesetzt. Aber solche Dinge sind natürlich am sinnvollsten, die direkt anzugehen.

Marilena: Wie siehst du das denn, was den kulturellen Wandel angeht? Weil das spielt ja, wenn es um Nachhaltigkeit geht, auch eine Rolle. Zum Beispiel, wer in Führungspositionen sitzt. Der Präsident des Welt Automobil Verbandes (FIA), der hat zwar gesagt, dass er sich für die Zukunft einsetzen möchte und sich auch mehr Fahrer wünscht, die sich dafür einsetzen und das Engagement fördern möchte. Aber, wenn man gleichzeitig sieht, dass immer noch Rennen in Ländern gefahren werden, in denen Menschen, die z.B. nicht heterosexuell sind, der Todesstrafe ausgesetzt sind, dann wirkt das nicht wirklich integer. Was denkst du, was für eine Chance liegt in einem kulturellen Wandel? Wenn Führungspositionen anders besetzt werden, zum Beispiel diverser aufgestellt sind, wenn dort ein Sinneswandel stattfinden würde?

Sebastian: Die Formel 1 hat natürlich eine sehr große Wirkung nach außen. Das heißt, sie erreicht sehr viele Leute. Und wenn bei uns zu sehen ist, dass wir diverse aufgestellt sind, dann hätte das eine sehr große Strahlkraft nach außen. An den Punkt glaube ich, bis es so weit kommt, das sehe ich ein bisschen komplizierter. In dem Sinne, dass – so habe ich das in meiner Zeit zum größten Teil erlebt – nach Talent gesourced wird. Und wie Talent überhaupt erkannt wird, das ist, glaube ich, der Schlüssel. Dass wirklich auch jeder, egal wo er herkommt und egal wie er aussieht und egal wen er liebt, die gleichen Chancen bekommt. Wir wissen, dass noch nicht so weit ist, dass es da noch viel zu tun gibt.

Marilena: Hast du denn den Eindruck, dass die Formel 1 sich dem Druck bewusst ist, der wahrscheinlich auch noch größer wird, der von außen kommt, der sich einen Wandel wünscht?

Sebastian: Ich glaube, der Druck ist noch nicht groß genug.  Im Moment kommt man noch damit, ein bisschen was in eine Kampagne zu stecken, ein bisschen was zu tun und ein bisschen was zu sagen, ohne sich groß dafür erklären zu müssen. Oder noch besser, ohne mit Konsequenzen leben zu müssen. Wenn die Formel 1 sich auf den Deckel schreibt, “klimaneutral bis 2030”, dann finde ich das ein tolles Ziel. Natürlich wäre es mir lieber, wenn das schon nächstes Jahr wäre. Aber natürlich ist es auch so, dass in 2030 die Rennen international ausgetragen werden, dass 2030 das ganze Material und die Autos verschifft werden, dass die Leute hinterher reisen. Es wäre toll, wenn wir bis dahin solch ein System hätten, das alle Kreisläufe schließt. Ich glaube, dass dies nicht der Fall sein wird, leider. Dann ist die Frage, wie komme ich dann trotzdem auf Net Zero? Und dann bin ich eigentlich sehr schnell bei den Systemen, sich freizukaufen oder mir Zertifikate ausstellen zu lassen, dass ich das Klima unterstützende Projekte investiere. Da ist aber die Frage, wer kontrolliert wen? 

Marilena: Apropos Kontrolle, weil wir uns ja gemeinsam diesen Nachhaltigkeitsreport der Formel1 angeschaut haben. Der sieht ziemlich beeindruckend aus. Aber ich glaube, eine der größten Gefahren besteht darin, tatsächlich gar nicht zu kontrollieren und sich darauf auszuruhen. Vielleicht auch zu sagen, die Formel 1 macht das schon. Und ich glaube, weil du meintest, der Druck sei noch nicht groß genug, dass es noch mehr Druck von außen braucht. Vor allem von Menschen, die diese Leidenschaft teilen, die diesen Sport gut finden. Aber gleichzeitig merken, da ist noch nicht genug Besorgnis, da ist noch nicht genug Wille, Vorreiter zu werden oder überhaupt erst mal aufzuholen. Wird man dich jetzt, um vielleicht langsam den Bogen zu schließen und wieder zu dir zurückzukommen, wird man dich jetzt an der Rennstrecke mit Plakaten sehen? Ganz vorne bei Fridays For Future? Oder wirst du die Formel 1 erst mal ganz zurücklassen und dich komplett auf andere Dinge konzentrieren? Oder wirst du weiterhin Druck ausüben?

Sebastian: Im Moment weiß ich nicht, was die genaue Antwort ist oder wie ich es genau ausdrücken soll, weil ich noch keinen konkreten Plan habe. Aber ich glaube, dass ich die letzten Jahre schon sehr viel Spaß daran hatte, mich einzubringen, meine Meinung zu äußern, wenn ich das Gefühl hatte, dass es hilft, bzw., dass es sinnvolle Dinge sind, zu denen ich Stellung nehme. Und ich kann mir schon vorstellen , in Zukunft da weiter anzusetzen. Ich bin mir des Glückes, in dem ich irgendwie groß geworden bin und der Möglichkeiten, die ich habe, bewusst. Und möchte das auch so weit nutzen, die Reichweite oder die Möglichkeiten, dass ich Leuten helfen kann. Vielleicht sind es manchmal ganz kleine Dinge, vielleicht sind es größere Dinge, um das Licht auf die Formel 1 zu werfen. Ich glaube, die Chancen sind riesig, weil die Formel 1 so viele Leute erreicht. Und ich glaube, dass die Formel 1 mehr tun kann. Die Frage ist, wie weit man bereit ist, auf ganz hoher Ebene, sprich Investoren oder den Leuten, denen die Formel 1 gehört, dass die sagen: Wir sind wirklich davon überzeugt und sehen, dass dort, auch was das Geschäft angeht, ein Riesenpotenzial liegt. Dass die sagen, wir sind die ersten, die einen besseren oder neuen Weg einschlagen, um dann auch die ersten zu sein, die davon profitieren. Um das bestehende System, das ja herrscht, von dem man den Eindruck hat, das wird bis in den Sonnenuntergang geritten und bis die Sonne untergegangen ist, so umzumünzen, dass man es durchaus zum Positiven drehen kann. Ich glaube, es wäre schön, wenn sich das System ändern würde über Nacht. Aber das ist, glaube ich, zu schwer, weil es den Konsens von allen braucht. Und das ist sehr, sehr schwierig zu erreichen.

Marilena: Das System Kapitalismus?

Sebastian: Ja, das im erweiterten Sinne. Und im kleinen Sinne, glaube ich, funktioniert die Formel 1 genauso. Das sie eben ein großes Geschäft und natürlich Profit gesteuert. Und man kann sich das auch alles herleiten, warum das so ist. Es ist das System, das wir haben. Aber die Frage ist: Ist es das sinnvollste und das gesündeste? Bzw. macht es so viel Sinn, wenn es um die Zukunft geht? Auch wenn die zwei Themen vielleicht heute so weit voneinander weg sind, wie sie nur sein können, und das erste, woran man denkt, wenn man mich darüber sprechen hört, dass mir die Zukunft und unsere Welt nahe liegt, ist wohl: “Er hat gut reden! Was macht er denn den ganzen Tag?” Vielleicht ist das auch gerade das Interessante, aber vielleicht ist das auch unsere Chance als Motorsport oder als Formel 1 damit voran zu fahren und nicht hinterher zu rennen.

Marilena: Wenn man viel im Leben gesehen und erlebt hat, dann ist es wahrscheinlich leichter, die Entscheidung zu treffen, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Und es ist leichter, sich die Zeit für Dinge zu nehmen, sich dafür einzusetzen. Auf der anderen Seite ist es, finde ich, gerade in unserer Gesellschaft nicht so einfach Fehler einzugestehen oder auch allein schon die Meinung zu ändern. Zu sagen, ich habe das lange Zeit das Problem nicht gesehen, war mir dessen nicht bewusst oder wollte es vielleicht auch so gar nicht sehen. Und dann öffentlich dazu Stellung zu beziehen und sagen: Ich sehe das jetzt anders. Das ist ja auch nichts, was bei uns, finde ich, in der Gesellschaft ganz selbstverständlich ist?!

Sebastian: Ja, absolut. Ich glaube, die Vorbilder sind ganz wichtig, Vorbilder zu haben. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Aber was man natürlich macht, ist, man stellt die Vorbilder dann imaginär auf ein Podest. Aber niemand ist perfekt und auch die Vorbilder machen Fehler. Das ist gar nichts Schlimmes, sondern ist, auch aus eigener Erfahrung im Sportlichen, einfach das Leben. Oftmals sind es Fehler, die einen weitergebracht haben. Oder die Dinge, wenn man Mist gebaut hat oder wenn man falsche Entscheidungen getroffen hat. Und das dann wieder geradezubiegen oder da rauszukommen aus dem Loch, ist es, was einen viel mehr prägt, als wenn es läuft. Wenn man in so einem Tunnel ist und im Flow, in diesem Zustand, dass einfach alles zu gelingen scheint. Man muss, glaube ich, nur den Mut haben, sich zu drehen oder woanders hin zu blicken und die nächste Tür aufzumachen. Und das ist manchmal einfacher und manchmal passiert das ganz automatisch und manchmal ist es auch schwieriger. Aber die Vorbilder müssen auch den Mut haben, statt nur das Perfekte zu zeigen, auch die ganzen kleinen Sachen zu zeigen. Oder auch die zu erwähnen, die nicht perfekt sind. Die ganzen Talfahrten. Auch wenn man sportlichen Erfolg hat, heißt das nicht, dass man glücklich ist. Auch wenn man erfolgreich ist oder viel Geld verdient, heißt das nicht, dass man automatisch glücklich ist.

Marilena: Ich sehe schon den neuen Podcast von Sebastian Vettel mit den Vorbildern, die von ihren Fehlern im Leben berichten – “Failing at Life” mit Sebastian Vettel.

Sebastian: Ich finde das sehr spannend, weil die Leute, die ich getroffen habe, sind weit weg von perfekt. Und man hat von außen immer die Vorstellung gehabt, sie seien so perfekt. Und alles ist so einfach. Die Leute sehen unheimlich gut aus oder haben alle Rennen gewonnen. Und dann merkt man aber doch sehr schnell, dass manche Dinge dann nicht so gut passen oder sie haben große Probleme in anderer Hinsicht. So einfach ist das Leben eben einfach nicht.

Marilena: In deinem Abschieds-Video sagst du: “Mein bestes Rennen liegt noch vor mir.” Worauf freust du dich am meisten, wenn die Saison beendet ist? Was wirst du auch als Erstes nicht tun?

Sebastian: So habe ich das noch nicht gesehen, dass ich mich auf etwas freue, nicht mehr zu tun. Wenn ich das beantworte, dann ist es das Reisen, dieses ins Flugzeug zu steigen und wegfliegen zu müssen. Das wird mir wahrscheinlich nicht fehlen. Sonst ist es eher darauf bezogen, worauf ich mich freue, auch wenn man nicht weiß, was es ist. Und ich fände es schade, wenn ich mit 35 in meinem Leben stehe und sage: Die schönste Zeit meines Lebens ist vorüber. Wenn es mir gut geht und ich gesund bleibe, dann habe ich ja vielleicht noch 35 Jahre oder mehr Jahre mit hoffentlich guter Qualität vor mir. Wie schade wäre es zu sagen, diese 35 Jahre kommen nicht an die letzten 35 Jahre heran. Das heißt nicht, dass ich noch fünfmal Weltmeister werde, in den nächsten 35 Jahren in der Formel 1. Es gibt so viele Dinge, die mir so viel bedeuten können. Ob sie dann die gleiche Strahlkraft nach außen haben? Wahrscheinlich nicht. Dass ich morgen was finde, in dem ich genauso gut bin wie im Motorsport oder als Rennfahrer? Wahrscheinlich nicht. Worauf ich mich am meisten freue, ist erst mal einfach Zeit zu haben, für zu Hause. Für die ganzen Dinge, die Bücher, die liegengeblieben sind, die Dinge, die zu Hause sich alle angestaut haben, einfach Zeit mit den Kindern zu verbringen. Dass das aber auch nicht meine zentrale Aufgabe sein wird und sein kann, ist mir klar. Es ist nicht so, dass ich sage: Jetzt bin ich Helikopter-Vater und jeden Tag kreise ich um die Kinder. Im Gegenteil, ich möchte, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen und auf eigenen Füßen stehen und ihre Fehler machen können. Und hoffentlich sich trauen, darüber zu sprechen, weil wir das so vorleben. Ich finde es sehr spannend, neue Dinge auszuprobieren. Wie zum Beispiel das Alphorn. Mein Talent scheint doch eher begrenzt, aber es macht Spaß, es auszuprobieren und mich zu entdecken. Ich wünsche mir den Mut, dem nachzugehen, egal was es sein mag und egal, was andere Leute davon halten oder darüber denken.

Marilena: In Anbetracht dessen, dass dir Zeit sehr wertvoll ist, zu Recht, danke, dass du dir die Zeit für uns und für dieses Gespräch genommen hast. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.

Sebastian: Danke dir. Danke.


Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch gefallen hat, teilt es gerne. Außerdem freue ich mich, wenn ihr Sinneswandel und damit meine Arbeit finanziell unterstützen wollt und könnt. Das geht ganz einfach auf Steady oder via Paypal.me/Sinneswandelpodcast. Das steht aber auch alles noch mal in den Shownotes. Da findet ihr auch alle Infos und Quellen zur Folge. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

24. November 2022

Wieso brennen immer mehr Musiker*innen aus?

von Marilena 13. Oktober 2022

Endlich wieder live Konzerte – wer hat sich darauf nicht gefreut, nach gut zwei Jahren Corona bedingter Abstinenz?! Doch aller Euphorie zum Trotz, sagen immer mehr Musiker*innen weltweit – Haftbefehl, Shawn Mendes, Arlo Parks, Robbie Williams, Justin Bieber, Sam Fender – ihre Konzerte und ganze Tourneen ab. Auch Malte Huck von Beachpeople und Rapper Ahzumjot kennen den Druck der Branche. Im Podcast erzählen sie offen und ehrlich über ihre Liebe zur Musik, über Einsamkeit, Wut, Hoffnung und Verletzbarkeit.

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13. Oktober 2022

Antonis Schwarz: Ist Erben (un)gerecht?

von Marilena 14. Juni 2022

Während eine gängige Redewendung lautet, “Über Geld spricht man nicht, man hat es”, wird genau das heute getan. Und zwar mit Antonis Schwarz, den Marilena in München besucht hat, um zu erfahren, was der Millionenerbe mit der Initiative “tax me now” zu bewegen hofft. Denn eines ist klar: Die soziale Schere und Vermögensungleichheit wird immer größer: Allein in Deutschland besitzen die reichsten 10 Prozent mehr als die Hälfte aller Vermögen. Und das bedeutet auch Macht. Macht, die Welt massiv zu beeinflussen – ist das (noch) demokratisch?

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► Bewegungsstiftung
► Netzwerk Steuergerechtigkeit
► Bürgerbewegung Finanzwende e.V.
► Leseempfehlungen: “Der Code des Kapitals” – Katharina Pistor; “ “Kapital und Ideologie” – Thomas Piketty; “Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleichheit” – Branko Milanović; “Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht” – Julia Friedrichs.
► Oxfam-Studie (2021): „Carbon Inequality in 2030: Per capita consumption emissions and the 1.5C goal.“

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14. Juni 2022

Toxische Positivität – ist zu viel Optimismus schädlich?

von Marilena 29. März 2022

“Kopf hoch! Einfach positiv denken!” Wer hat diesen oft gut gemeinten Rat nicht schon einmal gehört? Ja, es stimmt, manchmal hilft es, nicht zu verzagen. Aber manchmal eben auch nicht. Weil wir längst nicht alles in den Händen haben, auch, wenn uns das diverse Selbsthilfe Ratgeber suggerieren. Glück sei zum modernen Fetisch geworden, so die These der Politologin und Autorin Juliane Marie Schreiber. In ihrem Buch “Ich möchte lieber nicht”, schreibt sie von der “Rebellion gegen den Terror des Positiven”. Denn der nerve, belaste und schwäche den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Weil wir Glück als Prestige betrachten und eigentlich politische Probleme als persönliches Versagen verstehen. Eine fatale Entwicklung, gegen die nur Rebellion hilft. Denn die Welt wurde nicht von den Glücklichen verändert, sondern von den Unzufriedenen.

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► Juliane Marie Schreiber: “Ich möchte lieber nicht – Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven”; Piper-Verlag (03/22).

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29. März 2022

Fridtjof Detzner: Nachhaltig Investieren, geht das?

von Marilena 1. Februar 2022

 

Kann Geld die Welt retten? Oder ist es nicht gerade das liebe Geld und die Gier nach mehr, die unseren Planeten, zerstören? Eines ist klar: Geld bedeutet Macht. Dass es selten Gutes bedeutet, wenn viel davon in wenigen Händen liegt, zeigen Menschen wie Zuckerberg, Bezos und Co. Aber was, wenn Geld dazu eingesetzt würde, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl zu fördern? In der heutigen Episode spricht Marilena mit Fridtjof Detzner über “nachhaltiges Investment. Er hat “Planet A”  gegründet – ein Impact Investment Fonds, der als Risikokapitalgeber in Ideen und junge Unternehmen investiert, die eine klimapositive Wirtschaft voranbringen wollen.

Shownotes:

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► Mehr von und mit Fridtjof Detzner auf seiner Website.
► Fridtjof auf Instagram und Twitter.
► Planet A
► “Founders Valley” Dokumentation von Deutsche Welle mit Fridtjof Detzner.
► Mehr zum Thema “Verantwortungseigentum” bei Purpose-Economy.

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Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als Pionier*innen mit 10€ im Monat unterstützen: Bastian Groß, Pascale Röllin, Wolfgang Brucker, Petra Berends, Holger Bunz, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Andreas Tenhagen, eeden Hamburg Co-creation Space for visionary women*, David Hopp, Jessica Fischer (Universität Paderborn), Ioannis Giagkos, Matthias Niggehoff, Johanna Bernkopf, Holger Berends, Sebastian Hofmann, Do rian, Anita Wilke, Razvan Pufuleti, Daniele Lauriola, Samira Felber und Volker Hoff.

1. Februar 2022

Veganes Mett – warum imitieren wir Fleisch?

von Marilena 18. Januar 2022

Immer mehr Menschen entscheiden sich auf Fleisch zu verzichten und vegetarisch oder sogar vegan zu leben. Aus ökologischer Sicht ist das mehr als sinnvoll – aber auch ökonomisch betrachtet, erweist sich der “Veggie-Boom” als ergiebig. Immer mehr Produkte erobern den Markt, die Steak und Fischstäbchen zu imitieren versuchen – darunter auch “blutende” Burger-Patties. Die kommen auf Konsumentenseite bislang gut an, werfen aber die Frage auf: Warum muss Fleischersatz eigentlich wie das Original schmecken, riechen und aussehen – wozu imitieren wir überhaupt Fleisch?

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► Dr. Harald Lemke: “Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie”, (S.377-404) in “Aufklärung und Kritik” (1/2004): “Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes: ‘Der Mensch ist, was er isst’”.
► Deutschlandfunk Nova: „Es gibt überall die Norm, dass Fleisch zu einer Ernährung dazugehört“.
► pbp (12/2021): “Vom Wohlstands- zum Krisensymbol. Eine Kulturgeschichte des Nahrungsmittels Fleisch”.
► Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse 2021: “Nachhaltigkeit: Themenzyklus oder tiefgreifender Wandel von Lebensweisen und Konsumentscheidungen?”.
►Statista-Dossier zu Vegetarismus und Veganismus in Deutschland (2021).
► WWF-Studie: “Klimawandel auf dem Teller” (2012).
► BMEL Ernährungsreport 2020.
► Handelsblatt (8/2020): “Rügenwalder Mühle: Veggie-Fleisch überholt erstmals klassische Wurst”.
► Handelsblatt (6/2019): “Beyond Burger im Test: weder gesund noch nachhaltig!”. 
► Transparenz Gentechnik: “Veganer Fleischersatz – perfekt dank Gentechnik”.
► The Wall Street Journal (10/2014): “So, What Does a Plant-Blood Veggie Burger Taste Like?”] .
► Spiegel (2/2017): „Am wichtigsten ist der Geruch nach Blut“.
► Quarks (1/2020): “Insekten: Die Proteinquelle der Zukunft”.

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18. Januar 2022

Kennt Google uns besser, als wir selbst?

von Henrietta Clasen 5. Oktober 2021

Laufen wir im Sand, hinterlassen wir Fußabdrücke. Gleiches gilt für die digitale Welt. Nur sind wir uns, anders als im analogen Leben, selten darüber bewusst, welche Spuren wir hier hinterlassen. Geschweige denn, wer unsere digitalen Fußabdrücke zurückverfolgen kann und welche Rückschlüsse daraus gezogen werden können. Erleben wir vielleicht heute schon einen digitalen Kontrollverlust? Die Künstler*innengruppe Laokoon hat sich auf eine digitale Spurensuche begeben und anhand eines interaktiven Datenexperiments eindrucksvoll veranschaulicht, wie weitreichend die Einblicke in unser Seelenleben und unsere intimsten Geheimnisse sind, die wir Google, Facebook und Co. jeden Tag gewähren. Gemeinsam mit Moritz Riesewieck von der Laokoon Gruppe hat sich Marilena Berends in dieser Episode die Frage gestellt, ob das Internet wohl mehr über uns weiß, als wir selbst.

Shownotes:

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Diese Episode wird präsentiert von Braineffect. Wer große Ambitionen und lange To-Do Listen hat, braucht Energie, um diese verwirklichen zu können. Braineffect unterstützt euch dabei mit dem richtigen „Mind Food“ – für besseren Schlaf, mehr Konzentration und Wohlbefinden. Zum Beispiel mit dem Vitamin D3 Öl. Weitere Infos findet ihr in unseren Shownotes und auf brain-effect.com.

► Besucht die interaktive Website der digitalen Spurensuche ‘Made To Measure’ der Laokoon Gruppe.
► Die Filmdokumentation zu ‘Made to Measure ist bis 30.08.2022 in der ARD Mediathek verfügbar.
► Hier erfahrt ihr mehr über die Künstler*innengruppe Laokoon.
► Mehr Infos über die Kulturstiftung des Bundes und deren Veranstaltungsreihe ‘Labore des Zusammenlebens’.

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5. Oktober 2021

Eva von Redecker: (Wie) Kann Aktivismus die Welt bewegen?

von Henrietta Clasen 27. Juli 2021

Als Sinneswandel Redaktion wollen wir in den kommenden Wochen unterschiedliche Aktivist*innen vorstellen, die den Status quo nicht hinnehmen, sondern sich für systemische Veränderung stark machen. Zudem möchten wir uns näher damit auseinandersetzen, was genau Aktivismus eigentlich ist, wie sich Protest abgrenzt, aber auch, wo die Trennlinien womöglich verschwimmen. Den Auftakt beginnen wir mit Philosophin Eva von Redecker und Aktivistin Franziska Heinisch, deren kürzlich erschienene Bücher sich dem zivilen Ungehorsam widmen. Beide Frauen verbindet der Glaube daran, dass nur durch ein aktives Aufbegehren Wandel gelingen kann. Denn eine freie Gesellschaft, eine Demokratie existiert nicht einfach, sie muss gelebt werden – und zwar von uns allen.

Shownotes:

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Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Mit Ihrer Kampagne unter dem Motto „Veränderung beginnt bei uns“ will das Unternehmen für die Vermeidung von Retouren sensibilisieren – weil es nicht egal ist, wie und wo wir bestellen. Mehr Infos unter https://www.otto.de/shoppages/nachhaltigkeit

► Eva von Redecker: Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen. Fischer Verlage (2020).
► Franziska Heinisch: Wir haben keine Wahl – Ein Manifest gegen das Aufgeben. Blessing (2021).
► Ihr findet Eva von Redecker und Franziska Heinisch auch auf Twitter.
► Erfahrt mehr über die Organisation Justice is Global Europe, die Franziska 2020 mitgegründet hat.

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27. Juli 2021

Die Zerstörung (m)einer Illusion – ein Erfahrungsbericht

von Henrietta Clasen 20. Mai 2021

Fast jede*r weiß um die Dringlichkeit der Klimakrise. Doch weshalb wird sie nach wie vor nicht ernst genommen? Bewusstsein um einen Zusammenhang allein, hat leider nur geringen Einfluss auf unser tatsächliches Handeln. Nicht zu wenig Wissen, sondern ein mangelndes Gefühl an Betroffenheit ist die Ursache. Betrifft uns etwas persönlich, entsteht Betroffenheit. Heißt das, wir müssen erst selbst Erfahrungen machen, damit wir uns betroffen und handlungsfähig fühlen? Geht es nicht auch anders? Gastautorin Julia Gaidt glaubt daran, dass es möglich ist. indem wir Geschichten erzählen. Geschichten, die es uns ermöglichen, Erlebtes nachzufühlen. Die uns die Augen öffnen und aktivieren. Eine solche Geschichte hat Julia Gaidt zu erzählen. Von einem Erlebnis, das sie selbst und ihr Weltbild erschüttert hat und das sie in dem Wunsch teilt, dass es auch andere berührt und ermutigt, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen. 

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► IPCC Report on Global Warming of 1.5°.
► Luisa Neubauer & Alexander Repenning: Vom Ende der Klimakrise.
► Vortrag Luise Tremel: „Aufhören. Warum, wie, wer und wann am Besten was“.
► 1,5°C-Ziel Machbarkeitsstudie.
► bpb.de: Wie hängen Pandemie, Umweltzerstörung und Klimawandel zusammen?.
► Greta Thunberg: Ich will das ihr in Panik geratet!.
► Carbon Clock des MCC.

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Transkript: Die Zerstörung (m)einer Illusion – ein Erfahrungsbericht

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Betrifft uns etwas persönlich, entsteht Betroffenheit. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes berührt, fühlen mit und nicht selten empfinden wir das Bedürfnis, uns zu involvieren. Oft erst, wenn wir etwas selbst mit unseren eigenen Sinnen gesehen und erlebt haben, können wir das Ausmaß der Dinge begreifen. Wie der Backpacker, der auf Reisen beim Surfen im Müll schwamm und infolgedessen ein Unternehmen zur Bekämpfung von Plastik gründete. Oder die Schülerin, die in einer Tier-Doku sah, wie die Wurst, die sie täglich auf dem Pausenbrot aß, eigentlich hergestellt wird und danach zur Umwelt- und Tierschutzaktivistin wurde. Es gibt viele Beispiele, wie diese. Doch manchmal frage ich mich, ob es wirklich immer erst diese persönliche Betroffenheit, das eigene Erleben bedarf, um sich involviert und infolgedessen handlungsfähig zu fühlen? Gibt es überhaupt irgendetwas, das uns nicht betrifft – in einer globalisierten und vernetzten Welt, wie unserer? Zumal in der Natur eh kein “Dein” und “Mein”, kein intern und Extern existiert – alles ist mit allem verwoben. Nicht umsonst sprechen Expert*innen, wie der Klimawissenschaftler Mojib Latif immerzu von der Gefahr drohender Kipppunkte. Treibhausgase lassen die Temperaturen ansteigen, die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt an, Wetterextreme häufen sich, Dürren entstehen, Ernten bleiben aus… ein globaler Kreislauf, in dem kein Teil isoliert von einem anderen zu betrachten ist. Und doch leben wir heute so, als mache es einen Unterschied, wenn der globale Norden seine Emissionen und seinen Müll einfach im globalen Süden ablädt. Und solange die Näherinnen unserer hierzulande billig erworbenen T-Shirts, im gefühlt weit entfernten Bangladesh sitzen und wir ihr Elend nicht sehen können, scheint die Welt für viele heil zu sein. Kein Grund etwas zu ändern. Selbst, wenn wir uns insgeheim dessen bewusst sind, dass nicht alles mit rechten Dingen geschieht.

Doch das Bewusstsein um einen Zusammenhang allein hat nur geringen Einfluss auf das tatsächliche Handeln. Nicht zu wenig Wissen, sondern ein mangelndes Gefühl an Betroffenheit sei die Ursache,  so Klimapsychologin Janna Hoppmann. Letztendlich gehe es vor allem darum, nicht nur den Kopf anzusprechen, sprich Faktenwissen zu vermitteln, sondern auch über das Gefühl der Betroffenheit das emotionale Erleben des Themas mit einzubeziehen, damit ein Prozess des Umdenkens und Hinterfragens losgetreten werden könne. Diese Theorie untermalt auch der Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem Buch “Eine Frage der Ehre”, demzufolge fünf Phasen existieren, innerhalb derer sich “moralische Revolutionen” vollziehen, wie sie Appiah bezeichnet. So wird in Phase eins das Problem, nehmen wir mal den Klimawandel, gänzlich ignoriert, in Phase zwei wird es immerhin anerkannt, jedoch fehlt der persönliche Bezug, um etwas zu ändern. In Phase drei wird schließlich auch die persönliche Betroffenheit anerkannt, allerdings werden noch genug Ausreden gefunden, weshalb ein Handeln unmöglich ist – vermutlich die Phase, in der wir uns gegenwärtig im Bezug auf die Bewältigung der Klimakrise befinden – erst in Phase vier wird schließlich das Problem angepackt. Und in Phase fünf blickt man schließlich mit einem Kopfschütteln zurück und fragt sich, wie man überhaupt so lange warten konnte.

Müssen wir wirklich selbst Erfahrungen machen, die uns wachrütteln, damit wir uns betroffen und infolgedessen handlungsfähig fühlen? Ich hoffe es nicht. Denn nicht nur haben wir nicht die Zeit dafür, auch wünsche ich es keinem Menschen, erst Leid am eigenen Körper oder der Nahestehender erfahrungen zu müssen, damit sich etwas bewegt. Geht es nicht auch anders? Kann es vielleicht auch gelingen, dass wir miteinander mitfühlen, Betroffenheit jenseits geografischer Distanzen und nationaler Grenzen empfinden, das uns dazu befähigt uns für andere und damit zugleich für uns selbst einzusetzen?

Gastautorin Julia Gaidt glaubt daran, dass es möglich ist. Vor allem, indem wir Geschichten erzählen. Geschichten, die es uns ermöglichen, Erlebtes nachzufühlen. Selbst, wenn wir nicht live mit dabei waren. Geschichten, die uns die Augen öffnen und aktivieren, statt lähmen. Die uns Mut machen und Hoffnung geben. Eine solche Geschichte hat Julia Gaidt zu erzählen. Von einem Erlebnis, das sie selbst und ihr Weltbild erschüttert hat und das sie vor allem in dem Wunsch teilt, dass es auch andere berührt und ermutigt, sich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen. 

Bevor wir beginnen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in die Recherche und Produktion stecken wir eine Menge Zeit und Energie. Und, damit wir das weiterhin tun können, brauchen wir eure Unterstützung. Das geht z.B. ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns an Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen freien Betrag schickt. Wie ihr uns unterstützen könnt, steht in den Shownotes. Vielen Dank.

Die “Apokalypse” war für mich bisher ein diffuser und allenfalls mit Science Fiction verbundener Begriff. Über den Klimawandel wusste ich als Akademikerin, Anfang 30 natürlich Bescheid. Aber ich muss mir beschämt eingestehen, dass dieses Wissen geschichtenlos war. Einigermaßen gut verdrängt und weit weg, in der fernen Zukunft. Beides hat sich im vergangenen Jahr grundlegend geändert. Ich habe jetzt eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, die mein Leben erschüttert und mich wachgerüttelt hat. Und ich erzähle sie, in der Hoffnung, es werde auch anderen allein beim Hören so gehen. In der Hoffnung, dass sich damit meine Vermutung, dass nur durch die Erfahrung persönlichen Leids, eine grundlegende Transformation zu erreichen sei, die dem fortschreitenden Klimawandel ein Ende setzt, als falsch bewahrheitet.   

Ich lebe vorübergehend in den USA, genauer gesagt, in der Bay Area bei San Francisco, in Kalifornien. 2020 war hier ein sehr schwieriges Jahr. Zu den massiven Einschränkungen durch die Corona-Pandemie kam eine diffuse Angst aufgrund der politischen Situation und der Tatsache, dass wir das Land zwar hätten verlassen können, aber nicht hätten zurückkehren können. Konkret bedeutet das bis heute, unsere Freund*innen und Familien in Deutschland seit über einem Jahr nicht gesehen zu haben. Und als wäre das nicht genug, war der Sommer extrem trocken, mit mehreren Hitzewellen und in der Folge einer ab Mitte August verheerenden Waldbrandsaison. Letztere bedeutete für uns über zwei Monate lang ungesunde bis schwer schädliche Luft mit nur wenigen Atempausen. Und, da unser 18 Monate alter Sohn noch keine Maske hätte tragen können, die vor den Rauchpartikeln geschützt hätte, waren wir die meiste Zeit in unserer Wohnung gefangen. Unser Luftreinigungsgerät lief auf Hochtouren. Eine von Tag zu Tag weiter fortschreitende Ausnahmesituation, die irgendwann zur absurden “Normalität” wurde. Und in diesen Zustand hinein platzte völlig unerwartet “der Weltuntergang”. Er kündigte sich schon am Vortag durch eine kaum noch leuchtende, blutrote Sonne inmitten eines senfgelben Himmels an. Aber was am nächsten Morgen, dem 9. September 2020 auf uns wartete, hätte ich mir nicht im Traum ausmalen können.

Der Morgen dämmert viel später als gewohnt, und in orange. Das klingt erst mal malerisch-schön. Wir alle kennen diese bunt gefärbten Himmel bei Sonnenauf- und -untergang. Aber schon beim zweiten Hinsehen, und vor allem mit fortschreitender Tageszeit wird klar, dass hier etwas ganz anderes, ganz und gar nicht Schönes geschieht. Der Himmel ist von einer so dicken Rauchdecke durch die Waldbrände bedeckt, dass das Tageslicht nur als rötlicher Schimmer durchdringt und ich von Licht im engeren Sinne eigentlich gar nicht sprechen kann. Mitten in das dämmerige Orange wird es ab vormittags zehn Uhr immer röter – und dunkel. Nicht so finster, wie in einer sternenklaren Nacht ohne Mond, aber doch so dunkel, dass wir in der Wohnung Licht brauchen, um die Hand vor Augen erkennen zu können. Draußen sieht es auf den ersten Blick aus, als befänden wir uns mitten in der Nacht, inmitten einer Großstadt: bewölkter Himmel, es hat gerade frisch geschneit und die niedrige Wolkendecke und die Schneedecke werfen sich abwechselnd das Licht der Straßenlaternen zu. Erst fasziniert es mich, dass es mitten am Tag so dunkel sein kann und es nach drei Tagen mit 35 Grad jetzt auf einmal nur noch 16 Grad sind. Aber es bleibt und bleibt dunkel. Es wird immer beengender. Angsteinflößender. Rausgehen geht nur für wenige Minuten. Die Luftqualität ist unzumutbar. Kurz für ein Foto wage ich mich aber dennoch ins Freie. Dabei fällt mir auf, dass in dieser dunkelroten Atmosphäre, auf Dachziegeln, Autos und jedem einzelnen Blatt, ein gräulicher Schatten liegt. Und spätestens da ist der Vergleich mit der friedlich, weißen Schneenacht hinüber. Die Welt ist von Asche bedeckt. Ein toxisch und leblos wirkender fahler Anstrich. Und es schneit tatsächlich, wenn ich im Scheinwerferlicht genau hinsehe – aber, was da vom Himmel rieselt, ist Asche. Wir ziehen uns in die letzte Herberge die bleibt zurück: unsere Wohnung, in der es noch Strom gibt. Also Licht. Und etwas zu Essen. Und dank der Kombination aus Strom und Luftreinigungsgerät auch saubere Luft zum Atmen. Die Welt draußen ist auf einmal so lebensfeindlich, wie ich sie mir nur vorstellen kann. Wobei das nicht ganz stimmt. Ich konnte mir so etwas vorher nicht vorstellen. Und sicher geht es noch viel schlimmer. Langsam aber sicher bekomme ich eine Idee davon, wie es auf dem Mars oder der Venus sein muss: Unbelebbar. Die dicke Rauchschicht über uns und um uns herum erstickt jedes Gefühl von Hoffnung. Lässt vergessen, dass darüber tatsächlich die Sonne scheinen muss. Es wird unvorstellbar, dass irgendwo auf der Welt der Himmel gerade blau ist. Es scheint räumlich und zeitlich kein Ende der Dunkelheit in Sicht. Nach sozialer Isolation und Bewegungseinschränkung durch ein Virus über Monate und Verlust der Luftqualität über Wochen, ist nun auch das Tageslicht verschwunden. 

Es ist kein Geheimnis, dass das große Ausmaß der Waldbrände in Kalifornien dem menschengemachten Klimawandel zuzuschreiben ist. Und mit diesem Wissen und dem für mich bisher abstrakten Wissen, dass diese Extreme in den kommenden Jahren immer weiter zunehmen werden (1), wird für mich in der roten Dunkelheit auf einmal eine grauenhafte Zukunft der Erde sichtbar: Ich sehe mein Kind in dieser Dunkelheit aufwachsen, drinnen, ohne Sonnenschein, ohne frische Luft, ohne die Möglichkeit mit anderen Kindern lachend über einen Spielplatz zu rennen. Ich sehe, dass unter dieser Rauchdecke faktisch kein Leben möglich sein wird, denn ohne Licht kein Pflanzenwachstum. Ich sehe das Leben der Menschen auf unserem einst so grünen Planeten, in dieser blutroten Dunkelheit verschwinden. Ich sehe all das, wie durch eine Glaskugel, und bekomme Angst. Eine existentielle Angst, wie ich sie noch nie gefühlt habe. Ein „normales“ Leben scheint auf dieser Welt mit fortschreitender Zerstörung unserer Lebensgrundlage nicht mehr möglich zu sein. Mein Leben war gut bisher. Ich könnte das verkraften, klar, auch wenn es viel zu betrauern gäbe. Aber mein anderthalbjähriger Sohn wird nie ein „normales“ Leben kennenlernen.

Meine Zukunftsvision hält nur für einige Minuten, vielleicht einige Stunden an, die Dunkelheit für einen Tag und die wirklich schlechte Luftqualität für eine Woche. Danach wird das Unvorstellbare wahr: Wir können zum ersten Mal nach sieben Tagen wieder vorübergehend lüften, das Haus verlassen, und die Sonne scheint. Ich muss mich vergewissern, dass die Welt da draußen tatsächlich noch existiert. Und ich lebe an einem so privilegierten Ort, dass sie das für mich auch tut. Ich bin weder evakuiert worden, noch ist mein Haus abgebrannt, noch habe ich Angehörige oder mein eigenes Leben in den Flammen verloren, wie so viele andere. Aber etwas in mir ist zerstört worden. Der Glaube daran, dass die Welt einfach immer weiter so existieren wird, wie ich sie kenne. Dass mögliche politische Unruhen die größten Unsicherheitsfaktoren in meinem Leben seien. Dass ich weiterhin ein Leben in Frieden fernab von Kriegen und Naturkatastrophen führen würde. Dass es wirklich wieder eine echte “Normalität” nach der Pandemie geben wird. Es ist, als wäre ich aus einem Traum aufgewacht, nur beginnt da erst der Albtraum. Meine bisherige „Normalität“ hat sich als Illusion entpuppt. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich in meinem Glauben, dass alles immer irgendwie gut werden wird, erschüttert.

Klar, ich wusste vorher von der „Erderwärmung“. Sie wird auch bekämpft, von den einen ideologisch, von den anderen tatsächlich. Aber insgesamt viel zu wenig. So viel wird klar, wenn ich mich nur wenige Tage mit dem Thema beschäftige. Mit Entsetzen reibe ich mir in diesem Jahr zum wiederholten Male die Augen – was haben wir nur getan? Was tun wir tagtäglich? Und dann wird schnell klar, selbst wenn ich als einzelne Person jetzt versuche, mein Leben komplett umzustellen, wird das im Großen und Ganzen nicht viel ändern. Erst, wenn alle oder ein Großteil der Menschen wirklich etwas ändern würden, wäre diese Krise aufzuhalten. Sprich, es bräuchte einen Sinneswandel – auf allen Ebenen. Aber vor allem systemisch. Ohne diese Kehrtwende ist es nicht möglich, was Luisa Neubauer in ihrem Buch “Vom Ende der Klimakrise” Adorno-like  zusammenfasst: „Es gibt kein nachhaltiges Leben in einer nicht-nachhaltigen Gesellschaft.“ (2 S. 37) Es braucht also einen gesellschaftlichen Wandel. Hin zu einem System, das auch funktioniert, ohne den Planeten dabei zu zerstören. Ein System, das nicht darauf fußt, die natürliche Lebensgrundlage aktueller und zukünftiger Generationen auszubeuten. Uns wird immer wieder gepredigt, wenn es nur genug neue innovative, „grüne“ Techniken gäbe, dann müssten wir uns nicht einschränken und können einfach mit unserem, auf Wachstum aufbauenden System weitermachen. Aber laut dem Ökonomen Niko Paech ist das Unfug. Er plädiert für eine Gesellschaft ohne Wachstum und erklärt mit dem Begriff der “Postwachstumsökonomie”, wie das möglich sei (3). Aus einer etwas anderen Sicht beschreibt die Historikerin und Transformationsforscherin Luise Tremel, wie das „Aufhören“ mit unserem System möglich wäre und vergleicht diesen Prozess mit der Abschaffung der Sklaverei (4). Auch hier war der Wohlstand Vieler von der Ausbeutung, in diesem Falle der Versklavten, abhängig. Heute ist unser Wohlstand von fossilen Infrastrukturen und Energieträgern abhängig, die Gegenwart und Zukunft ausbeuten. Und wie auch die Sklaven damals, wird sich die Erde nicht von selbst von der Ausbeutung befreien können – oder nur in einem Ausmaß, dass vermutlich mit unserem Aussterben einhergeht – sondern wir, die davon profitieren, müssen uns bewusst für diesen Verzicht entscheiden. Es bedarf laut Luise Tremel einer „freiwilligen Selbstdeprivilegierung“ (4). Luisa Neubauer fasst das in ihrem Buch so zusammen: „Es geht also um ein bewusst angestrebtes Weniger: weniger quantitatives Wachstum, weniger Ressourcenverbrauch, weniger Emissionen, weniger Ausbeutung. Im Idealfall würde das Wohlstandsparadigma das Beste beider Welten miteinander vereinbaren: hohe soziale Standards, aber wenig Treibhausgase und Umweltbelastungen. Globalisierung ohne globale Abhängigkeiten. Wachstum, ja, aber nur eines, das auch glücklich macht. Also ein qualitatives Wachstum: an Freiheit, Zufriedenheit, Gesundheit und Unabhängigkeit.“ (5 S.175-176) Klingt eigentlich gar nicht nach Verzicht.

Das ist keine neue Botschaft. Und ich bin auch nicht ihr Urheber. Aber vielleicht konnte ich sie vorher nicht sehen, nicht begreifen, mich nicht aktiv mit ihr beschäftigen, ohne wirklich am eigenen Leib die Erfahrung gemacht zu haben, was diese Zerstörung unserer Lebensgrundlage durch unseren – und damit meine ich vor allem den westlichen – Lebensstil bedeuten wird. Und ich habe „nur“ einen Tag im Dunkeln gesessen. Mir ist bewusst, dass es Millionen von Menschen weltweit gibt, die deutlich drastischere Erfahrungen durchleben, machen mussten und wohl leider machen werden. Warum berichte ich das also alles hier? Ich möchte meine Geschichte erzählen, die Trauer um die möglicherweise verlorene Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder teilen, in der Hoffnung, ein winziges Stück zu ihrer Rettung beizutragen. Ich möchte die kurze Meldung aus der Tagesschau vom „roten Himmel über San Francisco“ erlebbar und fühlbar machen. Erst Monate nach dem Ereignis bin ich auf ein Wort gestoßen, das das Gefühl, die Angst, die ich empfunden habe, als “Solastalgie” benennt. Das ist ein noch relativ neuer Begriff für den Schmerz, die Trauer und die psychische Not, die durch den Stress entstehen, wenn Menschen von Umweltzerstörung z.B. im Rahmen der Klimakrise betroffen sind. Zu wissen, dass es ein Wort für mein Gefühl gibt, tut gut und hilft beim Verstehen. Begreifen werde ich diesen dunklen Tag aber wohl nie in Gänze. 

Ich werde an dieser Stelle keine Fakten zur Klimakrise vortragen. Dass wir unter 1,5 Grad bleiben müssen, ist bekannt (1). Es wurde im Pariser Klimaabkommen auf politischer Ebene sogar beschlossen. Nur umgesetzt wird es bislang nicht. Es liegt an uns, u.a. bei der nächsten Wahl, dafür zu sorgen, dass Deutschland dieses Ziel wieder ernst nimmt und alles erdenklich Mögliche tut, um das zu erreichen. Denn es ist möglich, noch (!), wie eine Studie, die von Fridays for Future beim Wuppertal Institut in Auftrag gegeben wurde, erst kürzlich gezeigt hat (6). Nur wird es nicht reichen, ein bisschen mehr Fahrrad zu fahren, auf Plastikstrohhalme zu verzichten und mit gut gemeinten Floskeln die Menschen zu beruhigen. Ein alternativer, rundum nachhaltiger Lebensstil ist aktuell eher ein Luxus, den sich die meisten Menschen in Deutschland nicht leisten können. Und es wäre unfair, den einzelnen Bürger*innen die Verantwortung dafür zu überlassen. Es wird nicht reichen „Kompromisse zu suchen“, wie so oft propagiert wird, wenn es mal wieder heißt, „es werde ja schon viel getan, aber man müssen ja auch…“. 

Alle Kosten, in allen Bedeutungen des Wortes, werden zweitrangig werden, wenn es die Welt, wie wir sie bisher kennen, so nicht mehr gibt. Wenn Banken „too big to fail“ sind, warum nicht auch unser Planet? Und wer jetzt meint, die Bekämpfung der Corona-Pandemie stünde erstmal im Vordergrund, und danach müsse die Wirtschaft wieder dran sein und für Klimaschutz sei leider keine Zeit, der begeht einen großen Denkfehler: Denn durch unser derzeitiges, auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem, und die dadurch immer weiter fortschreitende Zerstörung des Planeten, entstehen Pandemien, wie die aktuelle überhaupt erst. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit zum Beispiel warnt davor, dass das Risiko für eine solch rapide und gefährliche Verbreitung von Viren weiter steigen wird, wenn die Menschen nicht aufhören, in den natürlichen Lebensraum von Tieren einzudringen (7). Genau wie bei der Pandemiebekämpfung, gilt auch beim Klimaschutz: Es gibt den ausgehandelten Kompromiss zwischen „dem Problem“ und „der Wirtschaft“ nicht. Sondern auch „die Wirtschaft“ – und eigentlich sollte es doch viel eher „die Menschen“ oder „die Gesellschaft“ heißen – kann nur geschützt werden, wenn das Problem konsequent, sinnvoll, vollständig und vor allem zeitnah angegangen wird. Genauso, wie ein verzögerter und halbherziger Lockdown weder Wirtschaft noch Menschen nützt, wird eine halbherzige Bekämpfung der Klimakrise, die dadurch angestoßenen, sich verselbstständigenden Prozesse nicht aufhalten oder auch nur abmildern können. Eine Vertagung der Lösung in die Zukunft ist in beiden Fällen, mehr als fatal.

Es gibt viele Lösungsansätze und Fachleute, die sich schon lange mit der Bekämpfung der Klimakrise beschäftigen. Die Ressourcen dazu sind längst vorhanden. Sie müssen nur genutzt werden. Es ist zwar klar, dass dies kein leichter und günstiger Weg sein wird. Mir ist jedoch klar geworden, dass es der einzige, bezahlbare Weg ist, der überhaupt die Möglichkeit mit sich bringt, dass unser Planet langfristig so bleibt, wie wir ihn zum Leben benötigen. Die Bekämpfung der Zerstörung unserer Lebensgrundlage muss das Wahlthema 2021 werden, an dem keine Partei vorbeikommt, wenn sie gewählt werden will. Nur so können wir die Katastrophe noch abmildern. Greta Thunberg hat gesagt: „ich will, dass ihr in Panik geratet.“ (8) An diesem schwarz-roten Mittwoch im September habe ich diese Panik erlebt. Sie ist absolut berechtigt und keinesfalls „Angstmache“, als welche sie so gern abgetan wird. Aber sie darf nicht lähmen, sondern sollte uns aktivieren, an dem Zustand etwas zu ändern. Und zwar jetzt! Nach neuesten Berechnungen bleiben der Menschheit, gerechnet ab Ende 2017, noch 420 Gigatonnen CO2, auf Deutschland runtergerechnet 4,2 Gigatonnen, die verbraucht werden dürfen, soll die globale Erhitzung auf maximal 1,5°C begrenzt werden. Was mehr als wünschenswert ist, wenn wir nicht in eine unaufhaltbare Abwärtsspirale rutschen wollen, die unser Leben, so wie wir es kennen, wohl beenden wird (1). Aber was bedeuten diese Zahlen nun? Bei der aktuellen Verbrauchsmenge von 42 Gigatonnen pro Jahr weltweit, ist dieses Budget Stand Mai 2021, in 6 Jahren und 7 Monaten aufgebraucht (9). Das sind keine zwei Legislaturperioden mehr! Und das macht die kommenden Wahlen so wichtig und im wahrsten Sinne des Wortes lebensentscheidend. Für die Menschen in meiner aktuellen Umgebung wird langsam Realität, was an vielen anderen Orten der Erde schon lange gilt und an wieder anderen bald drohen wird: der bisherige Lebensraum, der uns als zu Hause galt, wird zunehmend unbewohnbar, wenn wir weiter verdrängen, was unser maßloser Lebensstil und das ausbeuterische kapitalistische System mit dem Planeten anstellen.

Die Waldbrandsaison ist hier erst einmal vorüber. Der Himmel strahlt wieder in Königsblau, und sollte es doch gelegentlich regnen, spüre ich eine unfassbare Dankbarkeit. Auch die Nächte sind wieder sternenklar. Wenn ich die Planeten direkt neben dem Mond stehen sehe, dann ist für einen kurzen Moment sichtbar und im Raum begreifbar, wie schräg ich auf der Erde gerade durch das Weltall schwebe. Dann ist erahnbar, was Astronaut*innen oft berichten: die Tatsache, dass wir auf der Erde leben können, ist in diesem schwarzen, unendlichen und lebensfeindlichen Weltall etwas ganz Besonderes und Schützenswertes. Es liegt in unseren Händen, sie zu erhalten. Und, wir müssen die Menschen und Parteien wählen und unterstützen, die diese Dringlichkeit verstanden haben. 


Ich danke euch fürs Zuhören. Wenn der Podcast euch gefällt, dann teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Außerdem würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir weiterhin gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

20. Mai 2021

Pandemiemüde? Let’s talk about Mental Health!

von Marilena 22. April 2021

Wem geht es eigentlich gerade wirklich gut? Gefühlt sind alle “müde”. Wenn auf Wikipedia bereits der Eintrag “Pandemiemüdigkeit” zu finden ist, wieso reden wir so wenig darüber? Warum werden zwar täglich die Zahlen der Neuinfektionen bekannt gegeben, aber nicht über die “seelische Inzidenz” gesprochen? Diese Episode handelt, neben den Auswirkungen von einem Jahr Pandemie auf die menschliche Psyche, auch von der Art und Weise, wie generell in der Gesellschaft über Mental Health gesprochen – oder eben auch nicht gesprochen wird. Es geht darum, wie die kapitalistische Logik, sich auch das Feld der psychischen Gesundheit einverleibt hat und damit seelische Erkrankungen zu rein privaten Angelegenheiten verkehrt. Wie lässt sich ein gesunder Ausweg finden, jenseits von toxischer Positivität und individueller Self-Care-Routine? 

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Kostenlose Telefonberatung der BZgA (08002322783).
► Das kostenlose Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 08003344533.
► SeeleFon für Flüchtlinge für Geflüchtete oder deren Angehörigen – kultursensibel und möglichst in der Sprache der Betroffenen (022871002425).
► Wichtige Anlaufstellen bei psychischer Belastung sind Hausärzt*innen und Psychotherapeut*innen. Die Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bietet die Möglichkeit gezielt nach diesen zu suchen.

Quellen:
► Bundes Psychotherapeuten Kammer: Corona Pandemie und psychische Erkrankungen – BPtK Hintergrund zur Forschungslage (2020).
► Spektrum: Psyche und Corona: Der zweite Lockdown belastet mehr.
► WHO: Mental Health in workplace.
► Merkur: Demenz und Depression  kosten knapp 15 Milliarden Euro im Jahr.
►Allianz: Depression kostet Volkswirtschaft jährlich bis zu 22 Milliarden Euro.
► Deutschlandfunk: Zum Tod des Kulturtheoretikers Mark Fisher.
► Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Suhrkamp (2011).
► Nina Kunz: Ich denk, ich denk zu viel . Kein und aber (2021).
► Arte-Serie: In Therapie. 
►Deutschlandfunk-Nova: Timur über toxische Feelgood-Vibes.  
►Benjamin Maack: Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein . Suhrkamp (2020). 

Kontakt:
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Transkript: Pandemiemüde? Let’s talk about Mental Health!

“Es wird schon wieder – irgendwann.” 
“Ja, muss ja”, gebe ich zurück. 
“Fühl dich umarmt.”

Wie ich diesen Satz nicht mehr hören kann. Wie soll man sich umarmt fühlen? Wer hat sich diese Floskel überhaupt ausgedacht? Um mich umarmt zu fühlen, müsste ich mir erstmal dieses Gefühl, wenn zwei Körper in einem Moment zu einem einzigen verschmelzen, wieder ins Gedächtnis rufen. Und ich meine eine “richtige” Umarmung. Ohne Zögern und Zweifel, ob man das denn jetzt wirklich tun sollte oder, ob man dann nicht Gefahr laufe, sein Gegenüber potenziell umzubringen. Ja, nach solchen innigen Umarmungen, mal wieder so richtig fest gedrückt zu werden, danach sehne ich mich. Darum mag ich, wenn mal wieder jemand zu mir sagt, “fühl dich umarmt”, mich auch nicht daran zurückerinnern. Es scheint mir dann in noch weitere Ferne zu rücken – fast unerreichbar.

Und dann ist sie da wieder. Diese innere Stimme, die mir leise, aber unüberhörbar in mein Ohr raunt: “Come on, jetzt hab dich nicht so! Hör auf dich in deiner Nostalgie, deinem Selbstmitleid zu sudeln und reiß dich gefälligst mal zusammen! Anderen geht es viel schlechter als dir. Hast du dich mal umgesehen? Du hast eine Wohnung, genug zu Essen im Kühlschrank, einen Job, Freunde und vor allem, du bist gesund.” Etwas in mir nickt, fühlt sich ertappt und ekelt sich ein bisschen vor mir, angesichts dieses Ausflusses an Selbstmitleid, trotz meiner doch ganz offensichtlich privilegierten Situation. 

Genauso enden in letzter Zeit auch häufig Gespräche mit Freunden und Kollegen. Man diskutiert über die aktuelle Lage, die neuesten politischen Maßnahmen und erkundigt sich, wie es den anderen denn so damit gehe. “Ach du, weißt du, es ist nicht einfach, aber, es könnte auch schlimmer sein. So richtig beschweren kann ich mich nicht. Aber so richtig gut, gehts mir irgendwie auch nicht.” So ähnlich klingt das dann. Eigentlich hätte man auch nichts sagen können. Denn, was steckt hinter dieser Aussage? Alles und nichts. Das eigene Unwohlsein wird noch im selben Atemzug revidiert. Anderen geht es nun mal gerade schlechter. Da ist jetzt kein Raum für das eigene Leid, das mit dem der anderen verglichen so lächerlich klein und Wohlstands-privilegiert erscheint. Sicherlich ist da irgendwie etwas Wahres dran, denn Fakt ist, dass Menschen, die bevor C. in unser aller Leben trat, bereits in prekären Verhältnissen lebten, es nun doppelt oder gar dreifach so schwer haben. Die Pandemie fungiert wie eine Lupe, ein Brennglas, dass Missstände, die zuvor bereits existierten, nur weiter vergrößert, wie es im Feuilleton so oft zu lesen ist. Auf der anderen Seite frage ich mich: Wer hat etwas davon, wenn irgendwer seinen eigenen Schmerz und, mag er im Vergleich noch so klein erscheinen, zurückstellt oder gar negiert? Nur, um nicht als asozial oder unempathisch zu gelten. Hat nicht jedes Leid seine Berechtigung? Müssen wir selbst in dieser Situation, in eine Art Wettkampf, wer das Schlimmste zu erdulden hat, eintreten? Das ist doch absurd! Natürlich ergibt es Sinn, anderen Menschen zur Seite zu stehen. Das zeichnet schließlich eine Gesellschaft, die zusammenhält aus. Dass man auch mal bereit ist, sich selbst zurückzustellen und für andere einzusetzen. Ich glaube, da sind wir uns einig. Aber heißt das auch, dass ich, wenn ich nicht “genug” Leid zu tragen habe, es sich nicht mehr ziemt, dieses zu äußern? Hat es dann keine Berechtigung mehr? Wenn mein Glas halb voll ist, darf ich dann nicht mehr den Wunsch haben, es wäre randvoll, sprich, dass es mir wieder gut geht?

Allein diese Worte auszusprechen fühlt sich irgendwie egoistisch an. Ich brauche Ablenkung und scrolle durch meinen Instagram Feed und stoße dabei auf einen Post von Anna Mayr, Autorin und Journalistin. Sie schreibt darin: “Wenn Menschen sich einer Gefahr ausgesetzt sehen, wenn sie Angst haben und sich machtlos fühlen, dann verfallen sie in einen fight-or-flight-Modus. […] Jede_r schaut dann nur noch auf sich, auf die eigenen Bedürfnisse, auf die eigene Sicherheit. Das ist, glaube ich, was gerade passiert. Mir zumindest. […] Hauptsache, ich komme irgendwie durch, mental und physisch. Nur noch Kraft, mich selbst zu retten, niemanden sonst. Das ist natürlich total scheiße und zeigt, dass das Reden von „Eigenverantwortung“, wenn man in Wirklichkeit „Ungerechtigkeit“ meint, niemanden weiterbringt, auch die Glücklichen nicht. Denn ich fühle mich ja auch mies damit, sogar nach zwei Stunden Balkonsonne, wie alle, wahrscheinlich.” 

Immerhin bin ich nicht allein mit diesem Gefühl, denke ich mir und scrolle weiter. Paul Bokowski, ebenfalls Autor und Journalist, hat eine Story geteilt. Darin steht: “Ich habe vor ein paar Tagen angefangen meinen Nachrichtenkonsum drastisch zu reduzieren. Nach einem Jahr der absoluten Monothematik geht mir die ständige Berichterstattung über Covid mittlerweile ganz massiv an die Substanz. Ich akzeptiere die unverrückbare Bedeutung dieses Themas, aber […] ich merke schleichend, dass es lebenswichtig für mich sein könnte, mich um weniger psychische Toxizität zu bemühen. […] Das heißt, dass ich bis auf Weiteres auf alle Nachrichten-Apps, auf Twitter, aber auch auf Instagram und Facebook verzichten möchte.” Und damit ist er wohl offline. Ist das jetzt selfcare oder selfish? Ich fühle mich überfordert und lege mein Handy beiseite.

Wem geht es eigentlich gerade wirklich gut? Gefühlt sind alle “müde”. Wenn auf Wikipedia bereits der Eintrag “Pandemiemüdigkeit” zu finden ist, wieso reden wir so wenig darüber? Warum werden zwar täglich die Zahlen der Neuinfektionen bekannt gegeben, aber nicht über die “seelische Inzidenz” gesprochen, über die Menschen, die psychisch erkranken oder gar Suizid begehen? Da gibt es doch bestimmt schon Statistiken zu?! Ich klappe meinen Laptop auf, öffne Ecosia und beginne zu recherchieren: Laut einer 2020 veröffentlichten Studie von Yang und Kollegen, in der an Corona erkrankte Patient*innen, die stationär isoliert wurden, mit Krankenhauspatient*innen mit einer Lungenentzündung sowie mit Gesunden verglichen wurden, weisen Corona-Erkrankte drastisch erhöhte Angst- und Depressionswerte auf. Ähnliches wird in zwei Übersichtsarbeiten über die psychischen Folgen von Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen berichtet (Hossain et al., 2020; Purssell et al., 2020). In manchen Studien berichteten über 70 Prozent der Patient*innen, ängstlich und depressiv, hilflos und reizbar zu sein und ein niedriges Selbstwertgefühl zu haben. Auch für Angehörige ist es oft unerträglich, erkrankte Eltern oder Großeltern nicht persönlich helfen zu können, da Kontakt verboten ist (vor-veröffentlichte Online-Befragung von mehr als 18.000 Personen: Rossi et al., 2020). ie Versorgungssituation hinsichtlich psychologischer Betreuung hat sich, laut Spektrum Magazin auch verschlechtert. So gaben 22 Prozent der an Depressionen leidenden Befragten an, in einer akuten depressiven Phase keinen Behandlungstermin bekommen zu haben. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass viele Daten, die notwendig wären, um die Frage nach der psychischen Belastung durch die Corona-Pandemie umfassend beantworten zu können, noch längst nicht vollständig sind. Wenn jedoch Krankenkassen, wie die KKH bereits im ersten Halbjahr 2020 rund 26.700 Krankmeldungen wegen seelischen Leidens unter ihren etwa 1,7 Millionen Versicherten zu registrieren hatten – gut 80 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum – dann scheint die Pandemie nicht folgenlos an uns vorbeizuziehen.

Warum sprechen wir dann dennoch so wenig über das Thema? Mein Kopf rattert. Plötzlich beginne ich zu verstehen. Na klar, das System, die Realität in der wir leben, hat ja auch sonst eher wenig Interesse daran, dass wir “ausfallen”, sprich nicht “funktionieren”. Das Rad muss weiterlaufen. Das gilt auch für pandemische Zeiten. Kein Wunder, dass kaum über Mental Health gesprochen wird. Nachher würden Menschen noch beginnen, gegen jene Strukturen aufbegehren, die sie tagtäglich bis zur völligen Erschöpfung im Hamsterrad laufen lassen. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob diese Sichtweise nicht zu verkürzt ist. Mag schon sein, dass Menschen, die immerzu vorgeben, zu funktionieren, diesen Schein eine ganze Weile aufrechterhalten können, aber zu welchem Preis am Ende? Nichts ist umsonst – das ist schon mal klar! Jetzt bin ich angefixt. Was kostet es wohl den Staat, all die Menschen wieder “aufzupäppeln”, die ausbrennen oder anderweitig seelisch erkranken?

Laut Statistischem Bundesamt seien psychische Krankheiten inzwischen ein großer Kostenfaktor für das Gesundheitssystem: Nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen (37 Milliarden Euro) und Krankheiten des Verdauungssystems (34,8 Milliarden Euro) rangieren psychische Erkrankungen auf Platz drei unter den sogenannten “Volkskrankheiten”: 2008 lagen die Kosten bei knapp 28,7 Milliarden Euro. In den USA, laut WHO, lagen die Kosten im Jahr 2019 sogar bei 1 Billion US-Dollars. Die Allianz hebt noch einmal differenziert hervor, dass allein zwischen 2002 und 2008 die direkten Krankheitskosten für Depressionen, um ein Drittel auf 5,2 Milliarden Euro gestiegen seien. Und, dass 9,3 Milliarden Euro indirekte Kosten allein darauf zurückzuführen seien, dass an Depressionen erkrankte Menschen häufig dennoch zur Arbeit gehen, anstelle sich krankschreiben und behandeln zu lassen. Das klingt jetzt ziemlich makaber, aber damit stellen die durch verminderte Produktivität depressiver Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz verursachten Kosten den mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Schaden dar, so formuliert es die Allianz.

Mag sein, natürlich sind die wirtschaftlichen Einbußen, auch jene, die aktuell während der Pandemie verzeichnet werden, keineswegs irrelevant. Aber, was ist mit den Seelischen, den menschlichen Schäden? So oft denke ich mir in letzter Zeit: Was ist das bitte für ein Leben, das fast ausschließlich in Arbeit besteht? Normalerweise liegt ja die Wiedergutmachung dafür, dass wir den halben Tag schuften, darin, dass wir das wohlverdiente Geld in Bespaßung eintauschen können: Ob Kino, Rave, Museum, Malle, für jede*n ist auf dem Konsummarkt was dabei. Das meiste davon fällt aktuell allerdings weg. Außer vielleicht Netflix und Online-Shopping. Aber auch das wird schnell öde. Die neoliberale Belohnungsstrategie geht nicht mehr auf. Die Ablenkung fehlt und die Menschen, die zuvor im Konsumrausch schwebten, nüchtern langsam aus und werden missmutig.

Aber kann es denn Sinn der Sache sein, Menschen ruhig und bei Laune zu halten? Wenn wir schonmal dabei sind, alle Karten offen auf den Tisch zu legen, warum reden wir dann nicht mal ganz grundsätzlich über die Ziele und Vorstellungen davon, wo wir als Gesellschaft eigentlich hin wollen? Und vor allem auch, auf welchem Weg, mit welchen Mitteln? Längst sind sich viele Expert*innen, wie Joseph Stiglitz, Maja Göpel und Amartya Sen in dem Punkt einig, dass das BIP allein als Indikator für Fortschritt und Wohlstand nicht mehr zeitgemäß ist. Schon gar nicht, um so etwas wie Lebensfreude und Zufriedenheit innerhalb der Bevölkerung zu messen. Denn die Bedingungen, unter denen das BIP entsteht, werden nicht berücksichtigt. Ob jemand seine Arbeit entspannt und mit viel Freude erledigt oder ob dies unter großem physischen bzw. psychischen Druck und ohne jede Freude geschieht, spielt für das Wohlbefinden eine große Rolle – selbst wenn am Ende in beiden Fällen das gleiche Einkommen herausspringt. Für die Berechnung des BIP sind beide Fälle hingegen vollkommen gleichwertig. Es ist also dringend an der Zeit, dass wir radikal umdenken und uns von alten Konzepten verabschieden. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt gibt es bereits eine ganze Handvoll: So hat die OECD den „Better Life Index“ entwickelt, um das gesellschaftliche Wohlergehen anhand von elf Themenfeldern, u.a. Bildung, Sicherheit und Work-Life-Balance zu ermitteln und international zu vergleichen. 

Ein weiteres Beispiel liefert der “Happy Planet Index” (HPI), dessen Ausgangspunkt die Überlegung darstellt, dass Reichtum für eine Vielzahl von Menschen nicht das oberste Ziel ist, sondern ein glückliches und gesundes Leben an erster Stelle steht. 

Die Einführung eines solchen Maßstabs wäre vermutlich auch nicht mehr vereinbar, mit der Privatisierung des Gesundheitswesens und dem zeitgleichen Abbau des Sozialsystems, wie man es auch in Deutschland beobachten kann. Laut dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken, sind von 1950 Krankenhäusern mittlerweile rund 37 %, also mehr als ein Drittel, in privater Trägerschaft. Das mag sich zwar teilweise positiv auf die Wachstumszahlen und Gewinnprognosen der Krankenhäuser auswirken, bewirkt jedoch im Großen und Ganzen, dass das Gesundheitswesen zu einer Gesundheitswirtschaft mutiert, in der ganz andere Gesetze gelten als in einem Sozialsystem. Sie wird zur Quelle neuen Reichtums für Investoren und macht Gesundheit zu einem handelbaren Gut, in welcher der Mensch zur Ware degradiert wird. Hallo Kapitalismus! 

Dass das gesamte kapitalistische Wirtschaftssystem, das aus dem Ruder geraten ist, uns krank macht, davon war der britische Kulturtheoretiker und Publizist Mark Fisher überzeugt, der sich 2017, im Alter von 48 Jahren das Leben nahm. Seine Depressionen, die ihn sein Leben lang begleiteten, verortete er nicht als rein individuelles Schicksal, sondern als eine massenhaft auftretende Reaktion auf die kapitalistischen Verhältnisse in denen wir leben. Für Fisher stellte die Entpolitisierung von Depression sowie die Privatisierung von psychischen Krankheiten ein gesellschaftliches Problem dar: “Hohes Arbeitsaufkommen, Zunahme der Unsicherheit, Gehaltskürzung – all diese Dinge machen depressiv, und wir müssen immer häufiger alleine mit ihnen fertig werden. Im Zeitalter der Kollektivität gab es noch Mediatoren wie Gewerkschaften, die dir dabei geholfen haben, aber heute wirst du zu keiner Gewerkschaft geschickt, sondern zu einem Therapeuten, oder nimm doch einfach Antidepressiva. Das ist die Geschichte der letzten 30 Jahre.” So Fisher in einem Interview mit Deutschlandfunk. Wir alle werden im Kapitalismus zu “Unternehmer*innen unser Selbst”, die sich bloß noch mehr anstrengen müssen, wenn es mal Probleme gibt. Jede und jeder ist schließlich seines eigenen Glückes Schmied – ein Hoch auf Individualismus und Leistungsfetischismus!

Je mehr ich drüber nachdenke, desto klarer und bewusster wird mir, wie sehr psychische Gesundheit in unserer Gesellschaft zu persönlichen, rein privaten Angelegenheiten gemacht werden. Dabei sind die höchst politisch – da stimme ich Fisher zu. Psychische Gesundheit ist nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu trennen, innerhalb derer sie entstehen. Vermutlich auch einer der Gründe, weshalb das Sprechen über mentale Gesundheit nach wie vor mit Scham besetzt ist und Menschen, die öffentlich über psychische Krankheiten sprechen, häufig noch stigmatisiert werden. Nicht, dass noch bekannt werden könnte, dass nicht allein individuelles Versagen der Grund für Depressionen, Angststörungen, Magersucht oder Burnout seien. Das wäre ja absurd, wenn doch tatsächlich die moderne Gesellschaft mit ihren fragwürdigen Schönheitsidealen, der Lobpreisung des permanenten Busy-seins und der Arbeit im Allgemeinen, dem never-ending Patriarchat, überhaupt den strukturellen Unterdrückungsmechanismen einen Anteil daran hätte, das Menschen psychisch erkranken. Ne ne, das haben wir uns alles selbst zu verdanken, weil wir uns eben einfach nicht genug angestrengt haben. Nicht genug an uns gearbeitet haben, wie es uns doch von der Persönlichkeitsentwicklungs-Branche geraten wird. Und im Zweifel eben ab zur Therapie! Ist doch heutzutage nichts Besonderes oder gar verwerfliches mehr.

Ich denke nach. Tatsächlich, die meisten meiner Freunde, inklusive mir selbst, sind oder waren schon mal beim Therapeuten. Und nein, nicht alle stammen aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Eigentlich finde ich das ja gut, dass es diese Möglichkeit gibt. Ich selbst wüsste nicht, wo ich heute ohne professionelle, seelische Begleitung stehen würde. Wäre ich noch am Leben? Vermutlich schon. Ich würde die Gespräche dennoch nicht missen wollen. Zugleich hinterfrage ich das Konstrukt der Therapie immer wieder ganz massiv. Sehe insbesondere die reine Rückführung auf die Patientin oder den Patienten kritisch, wenn das Leid nicht auch im gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird. Klar, es gibt wirklich gute Therapeut*innen, die das machen, hab ich selbst erlebt, aber viele eben auch nicht. Dann rücken Selbstreflexion und -pathologie an die Stelle von Gesellschaftskritik. Wo es doch eigentlich beides bedarf.

Laut der israelischen Soziologin Eva Illouz, hat das therapeutische Denkmodell inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, wie sie in ihrem Buch, “Die Errettung der modernen Seele” (2011) beschreibt. Allerdings versteht Illouz darunter nicht nur die konkrete Therapie-Situation, sondern die ganze Palette der ratgeberhaften und emotionsorientierten Gegenwartskultur – von Weight Watchers über Eheberatung und Mentalcoaching der Fußballmannschaft. Galten früher psychische Krisen als “Defekt”, den man schamhaft versteckte, kommt heute kaum eine Promi-Biographie ohne eine solche Krise und deren therapeutische Bewältigung aus. Ob in Cathy Hummels “Mein Umweg zum Glück”, in der die Moderatorin offen über ihre Depressionen spricht, in  „Born to run“, der Autobiographie der Rocklegende Bruce Springsteen oder in “Zayn”, in der der gleichnamige Sänger Zayn Malik – früher Teil der Band “One Direction” – über seine Angst- und Essstörung schreibt. Man könnte auch sagen, der vermeintlich tiefe Einblick in die Seele gilt heute als notwendiger Karriereschritt, um Privilegierte ein klein bisschen menschlicher erscheinen zu lassen. Generell würde ich sagen, ist jedes Bekennen psychischer Erkrankungen nur zu begrüßen. Fragwürdig bleibt die Motivation von Menschen, die ohnehin in der Öffentlichkeit stehen und ihre Leiden scheinbar als Chance sehen, mehr Filme, Bücher oder Alben zu verkaufen. Aber, mal ganz ehrlich: “Who am I to judge?” Es lässt sich nicht leicht beurteilen, wo die Grenze verläuft, zwischen öffentlichem Bekenntnis und Selbstvermarktung.

Und dann denke ich mir: “Hey, ist doch eigentlich auch eine gute Sache, wenn wir offener über unsere issues reden. Oder nicht?” Ich fühle mich zumindest besser, wenn ich beispielsweise lese, dass auch andere Menschen, ob Henning May, Sänger der Band AnnenMayKantereit, die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht, Rapper Curse oder der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, alle mit ihren Päckchen zu kämpfen haben und dazu stehen. Wobei “mich besser fühlen” vermutlich der falsche Ausdruck ist. Es geht mir eher um das Gefühl, nicht allein zu sein. Mich verstanden zu fühlen. Nicht perfekt und makellos sein zu müssen in dieser Welt.

Genau das Gefühl hatte ich auch beim Lesen von “Ich denk, ich denk zu viel”, der erst kürzlich erschienenen Kolumnensammlung der Schweizer Journalistin Nina Kunz. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide im selben Jahr geboren wurden, also derselben Generation angehören, dass ich mich in vielen ihrer Worte wiederfinden konnte. So schreibt sie darin beispielsweise: “Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. […] Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich all diese Privilegien hab.” Es ist eine Mischung aus Tagebuch und Theoriesammlung, in der Nina Kunz ihre persönlichen Gedankengänge offenlegt und zugleich mit einer Kritik an den gesellschaftlichen Umständen verbindet. Die einen wiederum einlädt, sich einerseits selbst sanftmütiger und wohlwollender zu begegnen, andererseits gegen die einengenden und begrenzenden Strukturen, ob Patriarchat, binäre-Geschlechterkonstrukte oder Rassismus vorzugehen. “Dieses Buch ist eine Einladung in meine Gedankenwelt. [… Es] ist ein kleiner Puzzleteil in der Debatte um Leistungsdruck und Mental Health. Es sind Notizen aus dem Jetzt, ehrlich aufgeschrieben. In der Hoffnung, dass sie weitere Gedanken anstoßen.” Das haben Ninas Worte bei mir in jedem Fall bewirkt. Besonders hängen geblieben ist auch folgendes Zitat aus dem ersten Text:: “Workism beschreibt […] etwas, das mir schon länger Sorgen macht: Es ist der Glaube, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigenen Identität. […] Ein zentrales Ziel im Leben soll sein, einen Job zu finden, der weniger Lohnarbeit ist als vielmehr Selbstverwirklichung. Darum […] habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.” Oh ja, fühl ich sehr! Genauso wie die Ambivalenz, die Nina gegenüber dem Internet, insbesondere den sozialen Medien verspürt: “Das Internet ist ein gefräßiges Monster, das alle meine Lebensenergie verschlingt […]. Ich hasse das Internet, weil es mir das Gefühl gibt, zu langsam zu sein, zu schwach, zu wenig schön. […] Ich hasse den Fakt, dass mir Likes ein gutes Gefühl geben. Ich hasse denk Fakt, dass ich Angst habe vor der Stille und mich permanent mit Informationen berieseln lasse. Beim Kochen höre ich Podcasts, beim Joggen brauche ich die Nike App, und im Zug beantworte ich Mails. […] Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen Zeit allein verbringen müssen, um empathisch zu sein, daher bin ich besorgt, wie schlecht ich mich mittlerweile selbst aushalte.” “Manchmal fühlt sich das Leben im Internet an, als würde ich verhungern, obwohl mir die ganze Zeit jemand das Maul stopft. […] Ich hasse das Internet, weil ich Angst habe, dass ich in fünfzig Jahren sagen werde: Fuck, ich hab mein Leben online vergeudet.”

Manchmal braucht es auch noch oder gar keine Lösung – das Aussprechen von Ängsten und Sorgen, ganz gleich, ob nun angeblich privilegiert oder nicht, wirkt oft befreiend. Ich habe sogar das Gefühl, dass mir in der Therapie das Reden und, dass mir jemand zuhört, oft mehr gebracht hat, als irgendwelche Ratschläge oder Strategien, die mir angeboten wurden. Vielleicht hat mir auch deshalb die Arte-Serie “In Therapie” der französischen Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano so gut gefallen. Jede Folge ist eine Therapiesitzung, in der wir die Entwicklung der wiederkehrenden Patient*innen, die alle durch die Erlebnisse der Terroranschlägein Paris 2015 traumatisiert sind, mitverfolgen können. Dabei ist “In Therapie” allerdings keine Serie über die Terroranschläge, sie handelt vielmehr von den Folgen für die menschliche Psyche, kollektivem Trauma und, dass um mit solch schwerwiegenden Erfahrungen fertig zu werden, es Redebedarf braucht. Es geht um Heilung, Einzelner, aber auch der Gesellschaft. „Die Welt da draußen geht zugrunde.“ Gleich zweimal fällt der Satz in der Serie. „Ja“, antwortet Philippe Dayan, der Therapeut, jedes Mal, „aber das tut sie immer.“ Wir können nur lernen, damit umzugehen. 

Wobei umgehen eben nicht meint, dass wir jetzt alle mal bitteschön wieder klarkommen müssen. Dass wir, wie uns, wie ein mechanisches Glied im Gefüge einer Maschine, wieder an unseren Platz bewegen und funktionieren sollen. Diese Form toxischer Positivität begegnet mir allerdings permanent. Wie so oft, meistens im Internet. Egal, ob pathetische, wohlgemeinte Sprüchlein, wie “Glücklich zu sein bedeutet nicht, das Beste von allem zu haben, sondern das Beste aus allem zu machen.” Oder fast noch schlimmer: “Du kannst nicht negativ denken und positives erwarten.” Würg! Laut Timur, der in einem Interview mit Deutschlandfunk-Nova ganz offen über seine Depression und Angststörung spricht, ist toxische Positivität eng an „toxische Dankbarkeit“ gekoppelt. Er glaubt, dass wir nicht für alles dankbar sein müssen. Vor allem, wenn jemand als Opfer Leid erfährt. Denn nicht alle Dinge sind ein Zugewinn für uns und unser Leben. Seh ich auch so! Wobei ich zugeben muss, dass es mir auch nicht immer leicht fällt, mir einzugestehen, wenn es mir nun einmal gerade nicht gut geht. Vielleicht sogar richtig beschissen. Und dann nicht automatisch in den Optimierungs-Wahn zu verfallen, in dem direkt wieder alles zurechtgebogen wird, damit die Oberfläche wieder aalglatt erscheint. Ich würde solche Zustände gerne öfter auch mal auf mich wirken lassen können, akzeptieren lernen, dass ich nicht permanent “funktionieren” muss. Dass es in Ordnung ist, nicht immer einen Plan zu haben. Dass ich nicht für alles verantwortlich bin, sondern so einiges seine Ursprünge auch in gesellschaftlichen Umständen hat, die sich nicht einfach mal so mit Hilfe von ein bisschen Selfcare und Gesprächstherapie lösen lassen.

Jemand, der genau das ganz wunderbar und prosaisch in Worte zu fassen vermag, ist der Autor Benjamin Maack. In seinem Buch “Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein”, spricht Maack über sein Leben mit Depression und setzt statt auf Verdrängung auf die unmittelbare Konfrontation, stellt sich der Herausforderung. Indem er sich in seiner ganzen Fragilität preisgibt, gelingt es Maack, auf Distanz mit sich selbst zu gehen. Er beobachtet sich gewissermaßen von außen, wodurch er zumindest im Rahmen der schriftlichen Verarbeitung aus dem Strudel der Emotionen und Verzweiflung ausbrechen kann. Das ist nicht nur wirklich lesenswert, sondern schafft auch für all jene ein tieferes Verständnis, die selbst nie mit Depressionen zu kämpfen hatten. Und es nimmt Erkrankten die Angst vor dem Stigma, als verrückt erklärt zu werden oder als schwach und fragil, wenn sie sich öffnen. Denn Fakt ist auch, dass psychische Erkrankungen jede und jeden von uns treffen können. Laut Bundesgesundheitsministerium erkranken schätzungsweise 16 bis 20 von 100 Menschen irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung. Also rund ein knappes Fünftel. Und insbesondere seit der Corona-Pandemie wissen wir, wie wenig das oft mit unseren eigenen Entscheidungen zu tun hat. Plötzlich fallen bestimmte Aspekte unseres Lebens weg, die uns bislang Sicherheit und Struktur gegeben haben. Für Menschen, die zuvor schon unter psychischen Erkrankungen gelitten haben, kann diese Situation jetzt ganz besonders schlimm sein. Aber auch für alle anderen ist es eine Belastung, weshalb wir unsere Sorgen, Ängste und Gefühle durchaus ernst nehmen sollten. Darum möchte ich am Ende dieser Episode noch kurz auf die Shownotes verweisen, in denen wir unter anderem die kostenlose Telefonberatung der BZgA und das Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe sowie weitere Hilfsangebote für Betroffene sowie Angehörige von Betroffenen verlinkt haben. 
Last but not least, danke ich euch fürs Zuhören. Wenn der Podcast euch gefällt, dann teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Außerdem würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir weiterhin gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

22. April 2021
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