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Leistungsgesellschaft

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

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Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn die Episode euch gefallen hat, dann teilt sie doch gerne mit anderen. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder auf Steady unsere Arbeit unterstützt. Oder auch ganz einfach, indem ihr uns einen kleinen Obulus an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle weiteren Infos, wie auch weiterführende Literatur und Quellenhinweise, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

12. Januar 2021

Anna Mayr: Warum sind Arbeitslose systemrelevant?

von Marilena 5. Januar 2021

Kann es sein, dass Arbeitslosigkeit gewollt ist? Dass das Elend vieler Menschen in Kauf genommen wird, um ein Paradigma aufrechtzuerhalten, das wir seit geraumer Zeit befolgen? Das Dogma des: Ich arbeite, also bin ich. Anna Mayr ist davon überzeugt. In ihrem Buch „Die Elenden“, plädiert Anna Mayr dafür, dass wir uns von Leistungsidealen, dem Glauben an Bildungsgerechtigkeit und unserem Arbeitsfetisch verabschieden sollten. Und für eine Welt, in der wir die Elenden nicht mehr brauchen, um unseren Leben Sinn zu geben.

Shownotes:

► Anna Mayr: Die Elenden: Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Hanser Literaturverlage, 08/2020.
► Virginia Woolf: A Room of One’s Own. 1929.
► Spiegel.de: »Hillbilly Elegy« auf Netflix: Hollywoods Hilflosigkeit. Hannah Pilarczyk.
► Boston Globe: ‘Hillbilly Elegy’: welcome to hard times. Ty Burr.

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5. Januar 2021

Elisabeth von Thadden: Vereinsamen wir unfreiwillig?

von Marilena 15. Oktober 2020

Abstand wahren, Kontakte einschränken, Körperkontakt vermeiden. Gerade die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf unser Miteinander, hat uns zwei Dinge vor Augen geführt: Ersten, wie wichtig und überlebensnotwendig Berührungen für uns Menschen sind. Und zweitens, wie verletzbar wir doch als leiblichen Wesen sind. Sehnsucht nach Abstand. Angst vor Einsamkeit. Diese Ambivalenz scheint dem Bedürfnis nach Nähe und Berührung innezuwohnen – aber, was bedeutet das für den Menschen?

In Ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ stellt sich die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth von Thadden eben diese Frage. Und versucht zu ergründen, wie individuelle Freiheiten, der Wunsch nach Nähe, Solidarität und gesellschaftliches Miteinander in einer immer schnelllebigeren Welt miteinander vereinbar sind.

Shownotes:
► Die berührungslose Gesellschaft von Elisabeth von Thadden. Erschienen 2018 im C.H.Beck Verlag.
► Elisabeth von Thadden ist verantwortliche Redakteurin des Feuilleton der ZEIT und schreibt hier.

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15. Oktober 2020

Braucht es wirklich mehr Achtsamkeit?

von Marilena 23. Juni 2020

Die Welt dreht sich gefühlt immer schneller. Die Umdrehungen pro Minuten nehmen zu, dass einem schwindelig wird. Alles verdichtet sich, wird mehr und damit komplexer. Soziologen, wie Hartmut Rosa, sprechen von der “Beschleunigten Gesellschaft”. Und der Mensch, das Subjekt in Mitten des Karussells, das sich fortwährend mit zunehmender Geschwindigkeit dreht. Da kann man schon mal seine innere Mitte verlieren. Aber ehe wir uns versehen haben, war auch für diese sich anbahnende Gefahr des überforderten Subjekts, bereits eine Lösung gefunden: Mindfulness oder auf deutsch Achtsamkeit.

Eben dieses Phänomen wollen wir in der heutigen Episode etwas genauer betrachten. Wollen uns anschauen, wo sie ihre Ursprünge hat, was Achtsamkeit verspricht leisten zu können, wo ihre Grenzen und vielleicht sogar Probleme in der Anwendung liegen. Und wir wollen uns die Frage stellen, ob wir sie gerade heute wirklich so dringend brauchen, wie es oft propagiert wird.

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SHOWNOTES:

  • Mach (einen) Sinneswandel möglich und werde Mitglied. Unterstützen kannst du auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319.
  • Quellennachweise: Der Hype um die Achtsamkeit: Ein Interview mit dem Psychologen Thomas Joiner im Spektrum Magazin; Buch: „Achtsamkeit: Fortschritte der Psychotherapie“. Band 48 (2012). Prof. Dr. Johannes Michalak ; Aufsatz: Matthias Michal: Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychoanalyse. In: Thomas Heidenreich, Johannes Michalak (Hrsg.): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Ein Handbuch ; Buch: „Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse“, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe Band 12 (1974) ; Buddhismus als Popkultur: Thomas Metzinger im Gespräch mit Marietta Schwarz; Fachartikel von Doris Kirch.: Was ist Achtsamkeit?.
  • Sehenswert: ARTE Re: Doku: Moderne Spiritualität: Der Traum vom optimierten Ich; Sternstunde Philosophie: Im Interview mit Jon Kabat-Zinn: Achtsamkeit – die neue Glücksformel? und Sternstunde Philosophie: Im Interview mit Theodore Zeldin: Alle meditieren – wer verändert die Welt?.

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TRANSKRIPT:

Hallo und herzlich Willkommen zum Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich euch in der heutigen Sendung begrüßen zu dürfen. Heute in Co-Produktion mit Edu Alcaraz.

Die Welt dreht sich gefühlt immer schneller. Die Umdrehungen pro Minuten nehmen zu, dass einem schwindelig wird. Alles verdichtet sich, wird mehr und damit komplexer. Soziologen, wie Hartmut Rosa, sprechen von der “Beschleunigten Gesellschaft”. Die sich auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar macht: einer technischen, einer des sozialen Wandels und des Lebenstempos. Und der Mensch, das Subjekt in Mitten des Karussells, das sich fortwährend mit zunehmender Geschwindigkeit dreht. Da kann man schon mal seine innere Mitte verlieren. Aber ehe wir uns versehen haben, war auch für diese sich anbahnende Gefahr des überforderten Subjekts, bereits eine Lösung gefunden: Mindfulness oder auf deutsch Achtsamkeit.   

Ein Begriff unter dem sich mittlerweile vermutlich die meisten etwas vorstellen können. Achtsamkeit begegnet uns im Alltag, auf der Arbeit, in der Werbung. Der Begriff der Achtsamkeit spielt für die in den letzten Jahren rasant gewachsene Szene moderner Spiritualität und Selbsthilfe eine große Rolle. So lassen sich rund um den Achtsamkeits Begriff eine ganze Reihe von Coaching-, Meditations und Dienstleistungsprogrammen finden, welche schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Achtsamkeit im Alltag, bei der Arbeit oder in der Freizeit soll helfen, Stress zu reduzieren, das Leben zu entschleunigen, die psychische Verfassung zu stärken und Bewusstsein für sich und die Umwelt zu schaffen. Aber auch im Gesundheitssektor existiert bereits ein großer Markt diverser Achtsamkeits-Angebote. Für Burnout-Patienten, gestresste Manager*innen oder in Form präventiver Anti-Stress Programme zur Erkennung von Frühwarnzeichen. Natürlich von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannt und bezahlt.

Schon in den 70er Jahren entwickelte der amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn das sogenannte „Mindfulness-based Stress Reduction” Programm, kurz: MBSR, zur Stressbewältigung. Es gibt mittlerweile einige Studien über die Entspannungswirkung dieser Technik, die sogar bei Depressionen helfen soll. Dabei ist der Kern von MBSR gar nicht mal neu, sondern es greift auf eine altbewährte Tradition zurück: die Lehren des Buddhismus. 

In einem hyper-beschleunigten Zeitalter, in einer vernetzten Welt wo alles schneller, effektiver, besser ablaufen soll, wirkt es da nicht beinahe Paradox die jahrhunderte alte Lehre Buddhistischer Lehrmeister wieder stark zu machen?

Andererseits, in Anbetracht der in den letzten zehn Jahren um das 18-Fache gestiegenen Zahl an Arbeitsunfähigkeitstagen in Deutschland, bedingt durch Burnout, kann es da nicht sein, dass die technisierte und hyper-beschleunigte Moderne auf unser Wohlbefinden schlägt und den Anstieg psychischer Krankheiten zu verantworten hat? Ist Achtsamkeit, dann nicht vielleicht die Möglichkeit dem Sog der Geschwindigkeit zu entfliehen?

Die Vermutung liegt nahe, beschäftigen die Menschen sich in der heutigen Gesellschaft doch eh am liebsten mit sich selbst. Suchen und finden Problem und Lösung zugleich in ihrem Inneren verborgen. Als sei sie schon immer dort gewesen und man habe sie nur kurz vergessen. Das moderne Subjekt ist Urheber von allem und damit zugleich gottähnlich dazu befähigt, sich selbst aus dem Schlamassel zu holen. Ganz getreu dem Motto: “Alle Kraft steckt bereits in dir, du musst sie nur erkennen. Und damit dir dies gelingt, lerne deine Gedanken konzentrieren. Je mehr du trainierst, umso besser wirst du. Und umso effizienter, desto… gelassener” – oder war das nicht die Selbstoptimierung?

In der heutigen Episode wollen wir das Phänomen der Achtsamkeit etwas genauer betrachten. Wollen uns anschauen, wo sie ihre Ursprünge hat, was Achtsamkeit verspricht leisten zu können wo ihre Grenzen und vielleicht sogar Probleme in der Anwendung liegen. Und wir wollen uns die Frage stellen, ob wir sie gerade heute wirklich so dringend brauchen, wie es oft propagiert wird.
Bevor wir in das Thema einsteigen, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Der Podcast ist nämlich werbefrei, was er allerdings nur mit eurer Hilfe bleiben kann. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr dem Team und mir die Produktion des Podcast. Unterstützen könnt ihr z.B. via paypal.me/sinneswandelpodcast. Das geht schon ab 1€. Ansonsten schaut einfach in die Shownotes, dort habe ich euch alle weiteren Möglichkeiten verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude beim Zuhören.


Wenn Achtsamkeit nicht neu ist, wo hat es dann seinen Ursprung?
Zwar haben die alten Griechen und Römer eine ganze Menge erfunden, die Achtsamkeit geht jedoch nicht auf sie zurück. Vielmehr fand diese Tradition in Indien, in den Lehren des Buddhismus, ihren Ursprung. In der indischen Literatursprache Pali bedeutet Achtsamkeit „Sati“ und dies beschreibt einen Zustand des Geistes, der sich in vollem Umfang dessen gewahr ist, was in ihm gegenwärtig ist. Das, was wir heute oft als Konzentration umschreiben. Für die Buddhistische Lehre nimmt Achtsamkeit seit jeher eine zentrale Rolle ein. Sie bildet das siebte Glied des sogenannten “edlen Achtfachen Pfades”, der wiederum eine der “Vier Edlen Wahrheiten” des Siddhartha Gautama, also des Buddha entspricht und den Buddhisten als der Pfad zum Nirwana, also der Erlösung dient.

So weit so gut, aber wie fand die Achtsamkeit nun ihren Weg in die Moderne und in unsere heutige Zeit?

Über Umwege fand Achtsamkeit ihren Weg nach Europa. Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Achtsamkeits Begriff nahm im 20ten Jahrhundert die Psychoanalyse vor. Zum Beispiel Sigmund Freud, welcher im Zusammenhang mit Psychotherapie von „kritikloser Selbstbeobachtung“ schrieb oder bei Erich Fromm, welcher den Begriff der Achtsamkeit direkt aus dem Zen-Buddhismus entnahm. Dieser sah im Zen-Buddhismus das Potential, dass über intensive Selbstkonfrontation Verdrängungen aufgehoben werden und Einsicht möglich machen könnte.

In seinem Buch “Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse” schreibt Fromm: „Achtsamkeit ist das, was ich unter „Gewahrsein“ und „Gewahrwerden“ verstehe. Achtsamkeit bedeutet, dass ich in jedem Augenblick meines eigenen Körpers ganz gewahr bin, einschließlich meiner Körperhaltung und dessen, was in meinem Körper vor sich geht, und dass ich ganz gewahr bin meiner Gedanken, also dessen, was ich denke. Ich bin genau dann ganz konzentriert, wenn ich zu diesem Gewahrsein fähig bin.“ So stellt Achtsamkeit für Fromm eine dienliche Methode dar, um mit sich selbst und seinen Mitmenschen gelingende Beziehungen zu führen.

Heutzutage sind Programme zur Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, wie das von  Jon Kabat-Zinn entwickelte, so bekannt, dass sie sogar Einzug ins Europaparlament gefunden haben. Es heißt, solche Praktiken seien eine wichtige Unterstützung für Parlamentarier*innen, denn ihre Arbeit birgt große Anforderungen. Sie entscheiden über das Leben vieler Menschen, von Tieren und der Pflanzenwelt. Da kann ein wenig Achtsamkeit sicher nicht schaden. So gibt es regelmäßige überparteiliche Kurse für Meditation und Yoga. Für die Anbieter solcher Programme entfaltet sich dabei die Kraft der zeitlosen buddhistischen Psychologie, mit Hilfe derer, die beschleunigten Herausforderungen unserer Zeit besser zu bewältigen seien. Wenn uns jetzt beim Schlendern durch unsere Lieblingsbuchhandlung Titel, wie  „Im Alltag Ruhe finden – Meditationen für ein gelassenes Leben.” ins Auge springen, Achtsamkeit in Parlamenten praktiziert wird und ganze Institutionen rund um die Achtsamkeit existieren, sollten wir dann nicht vielleicht genauer verstehen:

Was moderne Achtsamkeit als Praxis eigentlich genau bewirken möchte? Was verspricht sie jenen, die ihren Rat befolgen? 
Die Erwartungstrommel wird hierbei kräftig gerührt. Denn, wer es schafft Achtsamkeit regelmäßig und ernsthaft zu betreiben, dem wird bei manchen Programmen nicht weniger als das pure Glück und wahre Lebensfreude versprochen. Beides sei nicht von äußeren Faktoren und Bedingungen abhängig, sondern im Menschen selbst angelegt. Durch Achtsamkeit entwickle sich ein klarer, stabiler und widerstandsfähiger Geist, durch den es möglich sein, in jeder Situation mit der Kraft der eigenen inneren Ressourcen verbunden zu sein. Damit aber nicht genug. Versprochen wird ein klares Verständnis über das eigene Leben und des Selbst. Außerdem soll es einen lehren, mit sich selbst und anderen geduldiger, mitfühlender und verständnisvoller umzugehen. Die alltäglichen kleinen wie großen Hindernisse werden dabei aus sich selbst heraus mit Leichtigkeit überwunden und dies soll angeblich zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Leben führen. Negative Emotionen und Gedanken werden dabei in sinnvolle Kanäle geleitet, um am Ende zu Gleichgewicht, Souveränität, Stabilität und Lebensfreude zu führen. Wir haben hier ein All-In-One Paket also. Das sogar den Umgang mit anderen umfasst. Konflikte lassen sich angeblich leichter lösen, Ängste reduzieren und Belastungen sollen erfolgreich gemeistert werden. Durch Achtsamkeit sollen wir nicht bloß Ruhe in uns selbst entwickeln, sondern auch Mitgefühl und Verständnis für andere. Es scheint sich also wirklich um einen Multi-Problemlöser für beinahe alle Übel zu handeln.

Und fraglich ist tatsächlich, ob sich die meisten Probleme unserer Zeit nicht durch einen Abbau von Ignoranz und gleichzeitigem Aufbau von Verständnis meistern ließen.

Gleichgewicht im Zeitalter der Turbulenz. Es scheint so als hätten Medizin, Psychoanalyse und östliche Philosophie zusammen eine Antwort auf die Herausforderungen eines hyper-beschleunigten Zeitalters gefunden. Das bewusste Lenken auf den Augenblick, urteilsfrei verharren und erkennen. Und schrieb nicht schon der Schriftsteller Leo Tolstoi in seinem Märchen „Die drei Fragen“, dass nur der Augenblick zähle: „Merke dir also, dass der wichtigste Zeitpunkt stets nur der eine ist: der gegenwärtige Augenblick.“

Was könnte man schon gegen Gleichgewicht und Gelassenheit einwenden? Sollte man es überhaupt? Müssten wir die Folge nicht an dieser Stelle beenden und ganz einfach in das Plädoyer für Achtsamkeit mit einstimmen? Oder gibt es vielleicht doch, wie bei fast allem, eine zweite Seite der Medaille – gar eine Schattenseite?

Natürlich finden sich bereits einige, die ein kritisches Auge, auf diesen Trend um Achtsamkeit geworfen haben. Für den Psychologen Thomas Joiner, Professor an der Florida State University, ist die Achtsamkeitsmeditation zu einer kommerziellen Industrie verkommen und der ursprüngliche Geist verloren gegangen, in einem Interview mit Steve Ayan vom Magazin Spektrum Psychologie, geht er sogar weiter und sagt, das heutige Überangebot verkehre und pervertiere die eigentliche Idee der Achtsamkeit. Im Vordergrund steht für Joiner das Problem, dass es bei der ursprünglichen Idee der Achtsamkeit, nicht um das Ego, ständige Selbstbeschäftigung und Konzentration auf das eigene Denken und Fühlen ginge, sondern gerade um das Gegenteil dessen. Bei der buddhistischen Lehre von Achtsamkeit geht es ihm zufolge um Demut, ein Moment der Distanz und Bescheidenheit. Das sogenannte Selbst, sei hierbei nicht besonders wichtig, sondern „ein Staubkorn im Universum“. Weder stehe es im Mittelpunkt, noch möchte es seine Belange im Vordergrund wissen. Für Joiner mangle es heutigen Achtsamkeitstrainings an eben diesem Moment der Demut. Sie würden den Einzelnen und seine Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellen. Für Joiner ist dies nur ein weiterer Versuch der Selbstoptimierung.

In der buddhistischen Lehre existiert die Vorstellung eines „Ichs“, eines Selbst oder einer Seele nicht. Für sie ist diese Vorstellung bereits eine grundlegende Täuschung über das Wesen der Wirklichkeit. Das was die Menschen als ihr Selbst oder ihre Seele beschreiben, ist für die buddhistische Lehre, ein ständig im Wandel begriffenes Zusammenspiel. Außerdem ist Achtsamkeit kein einfaches Meditieren zwischendurch, sondern bedarf jahrelanges intensives Training und Anleitung, falsch angewendet kann Achtsamkeitsmeditation auch negative Effekte haben, sogar kontraproduktiv wirken. Für manche Menschen ist Ablenkung gerade wichtig und zu viel Selbstfokussierung schadet ihnen.

Für Prof. Joiner ist es außerdem problematisch, dass Achtsamkeit in den Dienst einer Leistungsorientierten beschleunigten Gesellschaft gestellt wird. Oder anders ausgedrückt: Achtsamkeit wird zur Verlängerung eines Selbstoptimierungs-Paradigmas. Das heißt Menschen versuchen zehn Minuten Meditation zu praktizieren, damit sie sich danach umso erfolgreicher, umso schneller, umso fitter, innovativer, gesünder fühlen. Das heißt Achtsamkeit wird als Moment in einer Logik eingesetzt, mit einer Steigerungslogik, die das Problem verursacht und es deshalb nicht überwinden kann. Das Ego wird für den Arbeitsalltag gestärkt, nur um bessere Leistungen erbringen zu können. Wenn Achtsamkeit in diesem Sinne die Funktion erhält, als Mittel zur Selbstoptimierung und zur ungehemmten Beschäftigung mit dem eigenen Befinden zu dienen, ist dies für Joiner Verrat an einer guten Idee und er bezeichnet es als Auswuchs einer wachsenden Kultur der Selbstbespiegelung. Der Soziologe Hartmut Rosa reiht sich in dieser Kritik insofern ein, als dass er die Achtsamkeit Bewegung zudem als unpolitisch beschreibt und ihr vorwirft, sie schiebe das Problem, sich in einer beschleunigten Welt zu behaupten, dem einzelnen Individuum zu. Die Frage nach dem gelingenden Weltverhältnis wird ausschließlich als Persönlichkeitseigenschaft verstanden.

Grundsätzlich können aber beide, der Soziologe Rosa, ebenso, wie der Psychologe Joiner, der Idee von Achtsamkeit dennoch etwas abgewinnen. Indem sie angewendet in Form einer Achtsamkeitstherapie zum Beispiel einem depressiven Patienten helfen kann, mit belastenden Gedanken besser klarzukommen. Joiner empfindet zudem die grundlegende Einsicht, dass unsere Gefühle und Gedanken nicht der Realität entsprechen, sondern diese nur subjektiv widerspiegeln, als durchaus hilfreich. Allerdings gilt für ihn, dass Achtsamkeit nicht als einziger wahrer Weg zur Heilung betrachtet werden solle, da dies nur zu neuen Grenzen führen würde. Logisch! Welche Ideologie tut das nicht?

Wer glaubt, diese zwei eher zurückhaltenden Kritiker seien die einzigen, der hat sich getäuscht. Der Philosoph Thomas Metzinger, Professor für Theoretische Philosophie an der Uni Mainz, setzt noch einen oben drauf indem er eine noch drastischere Position vertritt. Metzinger hält westliche Meditationspraktiken für eine „unglaubliche Verwässerung“ buddhistischer Positionen und buddhistische Motive für einen Teil der Popkultur. Ihm zufolge würden religiöse und philosophische Praktiken angewandt ohne ein tiefes Verständnis für das was diese eigentlich bedeuten und woher sie kommen. So sei Meditation nicht bloß eine Praxis, sondern stelle auch eine ethische Haltung dar. Dies Würde verkehrt, wenn zum Beispiel beim Militär Scharfschützen Achtsamkeitstraining praktizieren, um effektiver zu werden. Oder Unternehmensberaterinnen ihre Pausen für Power-Yoga und Gong-Meditation nutzen, um danach doppelt so schnell in die Tastaturen ihrer Laptops hacken zu können. Auch Metzinger kritisiert in diesem Fall, dass die Achtsamkeits-Bewegung so zu einem Teil der kapitalistischen Verwertungslogik würde und ihre Praxis im Grunde nur noch eine Form von Selbstoptimierung sei. Google zum Beispiel versuchte auf überarbeitete, gestresste und ausgelaugte Mitarbeiter zu reagieren. Da solche, scheinbar, weniger produktiv sind musste Google sich etwas überlegen. Reduzierte Arbeitszeiten, weniger Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz oder mehr Urlaub zum Beispiel?. Nein, nicht bei Google. Ihre Lösung: Kollektives Achtsamkeitstraining. Schweigen beim Mittagessen, Meditation am Morgen. “Suche in die Selbst” wurde als Lösung ausgegeben. Moment? Soll das bedeuten, wer Probleme mit dem stetig wachsenden Arbeitspensum hat, ist am Ende vielleicht selbst schuld, weil er noch nicht die richtigen Techniken zu deren Bewältigung gelernt hat? Genau ein solches Denken kritisiert Metzinger. Aber auch er wendet sich nicht komplett gegen Achtsamkeit, er plädiert für einen sinn- und maßvollen Einsatz von Achtsamkeits Praktiken. Und zwar an Schulen und Universitäten. Denn längst wissen wir, dass die mediale Überflutung unserer Zeit zu verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und sogar Leseschwierigkeiten führt. Probleme, mit denen Studierende und Schülerinnen, ebenso wie deren Lehrbeauftragte, täglich zu kämpfen haben. Laut Metzinger könne Achtsamkeit hier ein geeignetes Werkzeug sein, um diesem Trend entgegenzuwirken. Er plädiert dafür, dass sich im Westen eine neue Bewusstseinskultur entwickeln müsse, damit Kinder von klein auf lernen können, ihre geistige Autonomie zu schützen, um von den vielen Eindrücken unserer Zeit nicht überfordert zu sein. Also quasi Achtsamkeit als Pflicht-Schulfach? Ist das die Lösung?

Was bedeutet das jetzt?
Bei der Kritik an Achtsamkeit oder Achtsamkeits Praktiken, steht nun natürlich die Frage im Raum, ob man sie deswegen gleich vollständig verwerfen muss. Nein, das vermutlich nicht. Denn die berechtigte Kritik, manche Programme würden buddhistische Praxis und östliche Philosophie verfremden, lenkt den Blick auf eben diese Herkünfte und kann auch als Einladung zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit eben dieser, verstanden werden. Außerdem haben alle Kritiker auch klar die Möglichkeiten in der Anwendung von Achtsamkeit benannt. Der Einsatz bei bestimmten Krankheiten, wie Burnout oder Depressionen sowie der Stärkung geistiger Autonomie. Dennoch ist es wichtig, dass ein kommerzielles Programm, nicht als Allheilmittel beworben werden sollte. Obwohl es sehr nützliches sein kann, hilft es eben nicht allen. Und obwohl gute Intentionen hinter jedem dieser Programme stecken mögen, hat Achtsamkeit eine östliche Tradition, die nicht verklärt oder zu Gunsten der Selbstoptimierung innerhalb kapitalistischer Verwertungslogik verfälscht werden sollte. Dabei soll nicht darum gehen, Achtsamkeits Programmen grundsätzlich vorzuwerfen sie würden Geld mit ihrem Tun verdienen. Nein, ein bewusster und respektvoller Umgang mit der buddhistischen Tradition ist unproblematisch. Zwischen rücksichtsloser Aneignung und respektvollem Umgang mit religiösen und philosophischen Praktik existiert ein großer Unterschied. Insofern, dass die Achtsamkeit im Buddhismus, Demut und Bescheidenheit lehren möchte und nicht zur Bereicherung Einzelner dienen möchte.

Zuletzt lässt sich die Frage stellen, ob sich der Begriff der Achtsamkeit nicht für andere Fragen stark machen ließe. So zeigt uns die Corona-Pandemie beispielsweise, wie wichtig Umsicht, Nachtsicht und auch Achtsamkeit für sich selbst und andere sein können. In dieser Situation war es wichtig, sich Bewusstsein über eine Situation zu verschaffen, sowie über die Folgen von egoistischem und rücksichtslosem Handeln reflektieren.

Auch durch die aktuell von der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd in den Mittelgrund gerückte Black Lives Matter Bewegung, drängen sich Begriffe wie Achtsamkeit wieder auf. Achtsamer Umgang miteinander, der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen Zukunft. Der medialen Überflutung beikommen, mit Momenten der Einkehr. Ob dabei das Selbst oder das Nicht-Selbst im Vordergrund stehen sollten ist nochmal eine ganz eigene Frage. Doch ich glaube, dass gerade in einem Zeitalter der Hyper-Geschwindigkeit, Momente der Ruhe und Entschleunigung, Räume schaffen können um über die Verhältnisse, in denen wir leben, wie wir mit der Natur und unseren Mitmenschen umgehen, nachzudenken und zu reflektieren. Bei all den Herausforderungen, die sich uns Menschen stellen, kann Achtsamkeit eine wichtige Rolle spielen ohne das dabei vergessen wird, woher sie kommt, was sie bedeutete und was sie noch bedeuten kann. So fordern nach wie vor tausende Junge Menschen immer freitags die Regierenden dazu auf, achtsam mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten umzugehen. Oder abertausende auf der Welt forderten in den letzten Tagen, dass kein Mensch aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert oder getötet werden dürfe.

Achtsamkeit ist mehr als eine Meditationstechnik, sie ist eine Geisteshaltung. Eine Geisteshaltung von der in einer hyper-beschleunigten Zeit viel zu lernen ist. Denn ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Grundsteine für Morgen, immer heute gelegt werden, halte ich für wichtig. Dabei geht es um gesellschaftliche und persönliche Veränderungen. Das Miteinander und das Füreinander. Einen Moment innehalten und eine Einsicht gewinnen. Nicht, dass uns die Zeit dafür irgendwann verloren geht.

Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch die Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit anderen. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn auch ihr als Mitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Alle infos dazu findet ihr ebenfalls in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald.

23. Juni 2020

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