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Philosophie

2020: Reflexion einer Welt im Wandel

von Ricarda Manth 28. Dezember 2020

Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.

Shownotes:

► SRF: Sternstunde Philosophie: Annemarie Pieper: Die Wogen des Lebens.
► Wolfram Eilenberger in Deutschlandfunk Kultur: Die Kette(n) des Lebens.
► Hans Rusinek im Politischen Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur: Wandel bewältigen. Mit Paul Cézanne neues Denken lernen.
► Sinneswandel Podcast: Maja Göpel: Brauchen wir ein neues Weltbild?.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu Denken. Hugendubel (02/2020).
► 3sat Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020.
► Sinneswandel Podcast: Rahel Jaeggi: Können wir uns selbst finden?.
► Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Suhrkamp (10/2020).
► Tristan Garcia: Das intensive Leben: Eine moderne Obsession. Suhrkamp (04/2017).
► Sinneswandel Podcast: Kübra Gümüsay: Wie beeinflusst Sprache unser Sein?.
► Tupoka Ogette: exit RACISM. Unrast Verlag (09/2020).
► Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Hanser Literaturverlage (09/2019).
► Rutger Bregman: Im Grunde gut. Rowohlt (03/2020).

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Kontakt:

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: 2020: Reflexion einer Welt im Wandel

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen, letzten Episode diesen Jahres begrüßen zu dürfen.


Eigentlich war ich der Auffassung, die letzte Episode über das Potenzial des Bruchs eigne sich hervorragend als Abschluss. Um 2020, dieses turbulente Jahr, zu verabschieden. Der Überzeugung bin ich nach wie vor. Nichtsdestotrotz, als ich in den vergangenen Tagen das Jahr für mich noch einmal vor meinem inneren Auge habe vorbeiziehen lassen, hat es mich doch gepackt. Genauer gesagt, der Wunsch, doch noch einmal ein paar persönliche Worte zu verlieren. So möchte ich den Versuch wagen, zumindest ein paar der für mich eindrücklichsten Ereignisse noch einmal Revue passieren und euch an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Zudem möchte ich einen kleinen Ausblick in das noch vor uns liegende 2021 geben. 

Zunächst kann man sich fragen, wozu Reflektieren? Zumindest hat sich mir diese Frage gestellt. Also her mit der begrifflichen Herleitung: Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Soweit uns das möglich ist. So war der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz der Auffassung, “Reflexion [sei] nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist.“ Platon sprach von der „Erkenntnis der Erkenntnis“ und Aristoteles nannte die Reflexion das „Denken des Denkens“. Beim Reflektieren lassen wir also nochmals das Vorangegangene vor dem geistigen Auge Revue passieren. Wobei dies zumeist weniger ein rein gefühlsmäßiges Erinnern, als vielmehr eine kritische Prüfung der Situation, eine Beleuchtung aus verschiedenen Standpunkten heraus zum Ziel hat.


Mit diesem Wissen im Hinterkopf, scheint es nur noch wenig verwunderlich, dass wir zum Jahresende noch einmal die Geschehnisse reflektieren, sie kritisch hinterfragen und unsere Rolle in ihnen und der Welt an sich zu verstehen suchen. Die Philosophin Annemarie Pieper sagt in der Sternstunde Philosophie im Schweizer Rundfunk: “Man möchte doch eine Antwort, die darauf hinausläuft, dass man sich sicher ist, es war nicht umsonst.” Eine Suche nach Sinnzusammenhängen, nach Kausalitäten und Selbstwirksamkeit durch das eigene Eingebettet Sein im Kosmos. 

Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Vielleicht ein Grund mehr, weshalb die Philosophie in diesem Jahr ganz besonders gefragt schien. Der Ausbruch des Covid-19 Virus hat uns die eigene menschliche Verletzbarkeit vor Augen geführt, die beinahe in Vergessenheit geraten schien. Sowie, dass wir Teil der Natur sind und nicht über ihr stehen. Was es braucht, sei eine „Politik des Lebens, statt einer Politik der Menschen“, so der Philosoph Wolfram Eilenberger in einem Beitrag des Deutschlandfunk Kultur über die “Die Kette(n) des Lebens”. Und er richtet damit zugleich den Blick auf die Klimakrise, deren Bewältigung, so scheint es manchmal, aufgrund der Pandemie Bekämpfung zu kurz kommt. Munkelten oder hofften einige gar, sie sei durch selbige gelöst, weil man doch weniger fliege und angeblich Delfine im Canale Grande gesichtet habe. Doch der Eindruck trügt. Die Bedrohung durch den Klimawandel ist oder sollte uns gerade durch die Pandemie noch mehr ins Bewusstsein gerückt sein. Eben, weil alles mit allem zusammenhängt. Dass in Wahrheit nichts und niemand nur für sich, unverbunden, atomar isoliert existiert, sondern eingereiht ist in ein Kontinuum, das jedes einzelne Glied mit jedem anderen verbindet und verknüpft. Es geht also um eine neue Betrachtungsweise der Dinge, einen Sinneswandel.

“Probleme wie den Klimawandel werden wir nicht lösen können, wenn wir uns nicht von erstarrtem Denken verabschieden”, meint auch der Philosoph Hans Rusinek im Politischen Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur. “Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik”, führt Rusinek fort. “Mit einem Blick, mit dem sich überhaupt erst reagieren lässt: gelassen, neugierig, bestimmt. Mit dem man sagen kann, dass unser Handeln nicht nur ein reflexhafter Überlebensmechanismus ist, sondern schon eine neue Art zu leben für eine Welt, die sich immer in Entstehung befindet. Eine Welt, die es nicht in den Griff zu kriegen, sondern offen wahrzunehmen gilt. Eine Welt, die nicht aus Dingen besteht, sondern eben aus Kräften, Bindungen und unzähligen Potenzialen – in der nur eines immer sicher ist, dass nichts bleibt, wie es ist.” „Nichts ist so beständig wie der Wandel“, wie schon der antike Philosoph Heraklit von Ephesus feststellte. Nur erscheinen uns die Dinge oft weniger beweglich, manchmal gar festgefahren. Als wäre die Welt nie eine andere gewesen.

Vielleicht ist mir auch aus diesem Grund das Gespräch im Podcast mit der Transformations- und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel besonders in Erinnerung geblieben. „Ändere die Sicht auf die Welt, und es verändert sich die Welt”, lautet ihr Plädoyer in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Buch “Unsere Welt neu Denken”. „Es sind unsere selbst gemachten Regeln, aus denen die Welt, wie wir sie kennen und uns eingerichtet haben, besteht.“ Es liegt also an uns, so Göpel, den Status-quo zu hinterfragen und unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. „Um in der neuen Realität gut zusammenleben zu können, müssen wir auch unsere Vorstellungen von Fortschritt ändern, sonst verschieben wir Probleme einfach weiter in die Zukunft.“ Das fängt schon damit an, welche Sicht auf die Welt wir den nachwachsenden Generationen vermitteln, meint auch der Philosoph Michael Hampe in einem Interview im Philosophischen Jahresrückblick im Kulturzeit extra. Man solle junge Menschen in Schulen und Universitäten weniger auf die gegenwärtige Gesellschaft vorbereiten, als vielmehr darauf, sie umzugestalten.

Und dafür braucht es Selbstwirksamkeit. „Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist das beste Mittel, um in einer Krise von reaktivem Abwehren auf aktive Lösungsgestaltung zu schalten,“ schreibt auch Maja Göpel. Ein Gefühl, das vielen Menschen abhanden gekommen zu sein scheint. Zumindest ist mir dies nachdrücklich durch das Gespräch im Podcast mit der Philosophin Rahel Jaeggi, in Erinnerung geblieben. Sie ist der Überzeugung, unsere derzeitige kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise verschleiere nicht nur viele Zusammenhänge, sondern erschwere es uns Menschen zudem, selbstbestimmt unsere Lebensentwürfe zu realisieren. Geschweige denn, sie zu hinterfragen. Also laufen wir stur immer weiter geradeaus. Bis wir ganz erschöpft sind, von all der sinnlosen Hetzerei nach Produktivität und Effizienz. Gegen die fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt der Soziologe Hartmut Rosa die Resonanz, als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, so Rosa, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet – ein Moment der Unverfügbarkeit. Eines der Bücher und Gedanken, die mich in diesem Jahr maßgeblich beeinflusst haben.

Wir können also nicht alles besitzen, nicht alles beanspruchen. Sonst geht es uns Verlust, wenn wir den Worten Rosas Glauben schenken. Es braucht Maß und Mitte, Begrenztheit, damit wir das (gute) Leben überhaupt wahrnehmen, geschweige denn genießen können. Ein “immer mehr” im Bezug auf unser Wirtschaftswachstum und den angeblich damit verbundenen Wohlstand für alle, ist den meisten schon als Schwindel aufgeflogen. Doch auch im Hinblick auf unsere eigene Lebensweise, scheinen einige in diesem Jahr auf besondere Art mit dem Reiz des Wenigers in Berührung gekommen zu sein. So war während der ersten Lockdown Phase von einer “wohltuenden Entschleunigung” die Rede. Selbst, wenn sie erzwungen war. Denn die ständige Suche nach Intensität sei auch anstrengend, so der französische Philosoph Tristan Garcia. “Süchtig jagen wir neuen Höhepunkten und Extremen nach, immer unter Strom. Kein Wunder also, dass in unseren »Hochspannungsgesellschaften« das Unbehagen wächst.”
           
Doch schnell wurde deutlich und haben wir gelernt, dass dieses Gefühl einer wohltuenden Entschleunigung, längst nicht allen vergönnt ist. Spätestens, als der Begriff der “Systemrelevanz” in aller Munde war, ist vielen bewusst geworden, dass kein kollektives “Wir” existiert. Auch nicht in der Krise. Denn gerade die hebt die Diskrepanzen hervor. Dass wir längst nicht alle gleichsam von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Ebenso, wie die Klimakrise zuerst Arme, Frauen und Kinder trifft, lässt sich dies auch im Hinblick auf das Virus behaupten. Die Pandemie als Brennglas bestehender Missstände, wie es oft betitelt wurde. Dass wir längst nicht alle in einer Gesellschaft mitdenken, lässt sich auch anhand unserer Sprache verdeutlichen, behauptet die Autorin und Aktivistin Kübra Gümüsay, mit der ich mich ebenfalls in diesem Jahr im Podcast unterhielt. Unsere Sprache beeinflusst unser Sein. Wie wir uns in der Welt bewegen. Wie wir denken und handeln. Von einer gleichberechtigten Welt sind wir noch weit entfernt, so Kübra.

Doch lässt sich durchaus behaupten, wir befinden uns zumindest auf einem Weg der Besserung. Wie insbesondere die Black Lives Matter Proteste im Sommer deutlich gemacht haben. Ausgelöst natürlich von einem tragischen Moment, einem grausamen Akt der Gewalt und des Rassismus: Der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten. Die Welle der Empörung sowie Solidarität, die sich im Anschluss an das Geschehen jedoch zutrug, war überwältigend. Und hat viele Menschen dazu bewogen ihr eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen. So , waren in diesem Jahr Bücher wie “Exit Racism” der Autorin Tupoka Ogette oder “Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ von Alice Hasters in aller Munde. Und, wir wissen, Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung. Wenn auch nicht genug. Taten müssen folgen.

Der Mensch ist ein zoon politikon, so Aristoteles. Was meint, dass der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen ist. Nur scheinen wir das zeitweise zu vergessen. Beziehungsweise, die Welt, in der wir leben, macht es uns nicht immer leicht, uns darüber im Klaren zu sein. Dabei seien wir “im Grunde gut”, schreibt der Autor und Historiker Rutger Bregman, dessen Buch ich erst vor wenigen Tagen las. Und geht man von dieser Prämisse aus, so Bregman, sei es möglich, die Welt und uns Menschen in ihr komplett neu und grundoptimistisch zu denken. Dafür müssten wir uns aber zunächst darüber bewusst werden, wie wir werden konnten, wer wir heute sind. Und da wären wir wieder, bei der Reflexion. Dem Innehalten. Dem kritischen Hinterfragen. Man kann aus der Vergangenheit und aus Fehlern lernen. Wie sich an den Wahlergebnissen im November in den USA sehen lässt. Die Niederlage Trumps, als Sieg der Vernunft?! Vielleicht. Es wird sich zeigen. Aber zumindest, und da pflichte ich Bregman bei, haben wir es zu einem nicht unwesentlichen Teil selbst in der Hand. Den Lauf der Dinge mitzugestalten. “Wir” im Sinne der Gesellschaft, in der wir leben. Wohl auch als Einzelne, aber insbesondere, als Teil des Ganzen, der Zusammenhänge. So schreibt Wolfram Eilenberger: „In Ketten leben“ – zunächst ein Urbild menschlicher Unfreiheit. Auf einer weiteren Bedeutungsebene aber auch kraftvoller Ausdruck einer Vision kosmischer Allverbundenheit”. Das mag für die ein oder andere etwas esoterisch anmuten, beschreibt aber in meinen Augen doch recht treffend das bei mir, in diesem Jahr entstandene, durchaus ambivalente Gefühl. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.


So hat sich mir sogar gezeigt, dass Verbundenheit manchmal durch eine gewisse Abhängigkeit erst entstehen kann. So wäre dieser Podcast nicht möglich, ohne die Menschen, die an ihm mitwirken. Dazu zählt ganz besonders Edu Alcaraz, der als Co-Redakteur nicht nur meine geschriebenen Worte sorgfältig prüft, sondern auch selbst durch seine klugen Gedanken einen wesentlichen Teil beiträgt. Nicht denkbar, wäre der Podcast zudem, ohne die technische Unterstützung durch Jan-Marius, der durch sein Geschick Schnitt und Ton perfektioniert, wie auch Ricarda, die alle technischen Fäden im Hintergrund zieht. Ganz besonders freuen, tut mich auch die noch recht junge Bereicherung des Podcast, durch eine größer werdende Zahl an Gastautorinnen und -autoren. Dazu zählen in diesem Jahr Manuel Scheidegger, Isabell Leverenz und Katharina Walser. Bedanken möchte ich mich zudem bei allen Gästen, die für Gespräche in diesem Jahr zur Verfügung standen. 25 Stimmen waren es insgesamt – ich habe es nachgezählt. Mein größter Dank gilt aber wohl den Hörerinnen und Hörern des Podcast. Euch, die ihr mir und uns euer Ohr wie Zeit schenkt. Ohne euch wäre Sinneswandel quasi sinnbefreit. 

Und, um noch einmal kurz zum Thema Abhängigkeit und Verbundenheit zurückzukommen, 2020 war zudem auch das erste Jahr, in dem wir uns unabhängig von Werbeeinnahmen gemacht haben. Und zwar durch oder eher dank euch. Dank all denen, die sich dazu entschlossen haben, als Fördermitglieder den Podcast finanziell zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt, an dem ich diese Worte einspreche, zählt Sinneswandel 173 Mitglieder. Nur auf Steady wohlgemerkt. Ebenso dankbar sind wir natürlich auch für die Beiträge, die uns via Paypal oder Überweisung erreichen. Danke, dass ihr (einen) Sinneswandel möglich macht. Dafür verspreche ich auch hoch und heilig, dass wir weiterhin bemüht sein werden, spannende Beiträge, die zum Mitdenken anregen, für euch zu produzieren. 

Vielleicht ein kleiner Ausblick in 2021: Das Jahr einstimmen, werden wir mit einer Lobeshymne auf die Faulheit. Dem folgen, wird ein Plädoyer für Denkräume und neue Narrative wünschenswerter Zukünfte. Gemeinsam werden wir uns fragen, was es eigentlich bedarf, um Wandel voranzutreiben. Dabei werfen wir auch einen Blick in die Welt der Kunst, des Gestaltens schlechthin. Soweit der Plan. Änderungen vorbehalten. Bedeutet auch, wenn ihr Wünsche, Anregungen, Shitstorms und Liebesbrief loswerden möchtet, dann gerne an redaktion@sinneswandel.art. In diesem Sinne, bedanke ich mich fürs Zuhören und wünsche einen hoffentlich erholsamen Ausklang diesen turbulenten Jahres, wie auch einen erfrischenden Auftakt in 2021. Bis dahin, macht’s gut und bis bald, im Sinneswandel Podcast.

28. Dezember 2020

Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

von Ricarda Manth 16. Dezember 2020

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, so der italienische Philosoph und Marxist, Antonio Gramsci. Dieses Interregnum bezeichnet also einen Zustand des Transits in dem sich die neue Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig spricht Gramsci ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig spüren: das Sichtbarmachen. Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen, um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten, so Gastautorin Katharina Walser. Der Bruch könne uns helfen die Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und uns den veränderten Bedingungen anpassen, wieder in das Bewusstsein zu rufen.

Shownotes:
► Antonio Gramsci: Gefägnishefte.
► projektmagazin: Die Krise als Chance zur Transformation des Denkens und Handelns Silke Nierfeld.
► Süddeutsche Zeitung: Wenn das Virus auf gesellschaftliche Vorerkrankungen trifft Jana Anzlinger.
► ZEIT Magazin: Ein ganz normaler Herbst, nur anders Ilona Hartmann.
► vice: Wie du mit der Pandemiemüdigkeit klarkommst Leonardo Bianchi.
► Dlf Kultur: Wie tragfähig ist das neue „Wir“-Gefühl? Carolin Emcke im Gespräch mit René Aguigah.
► Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: Die Zukunft in der Krise Lisa Suckert.
► Süddeutsche Zeitung: Das Ende der Geschichte? Das Ende der Demokratie! Timothy Snyder.
► Dlf Kultur: Mit Paul Cézanne neues Denken lernen Hans Rusinek.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu denken.
► Geschichte der Gegenwart: Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs Thomas Macho.
► Nikil Mukerji und Adriano Mannino: Covid-19. Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.

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Transkript: Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

Wir sprechen oft mit größter Selbstverständlichkeit von Zeit. Von Altem, Vergangenem und dem Neuen, dem Zukünftigen. Sowie natürlich von der Gegenwart, dem Hier und Jetzt. Doch, wo, an welcher Stelle vollzieht sich der Übergang zwischen den besagten Zeiträumen? Wo endet die Vergangenheit und beginnt die Gegenwart? Und, liegt die Gegenwart nicht immer längst schon in der Vergangenheit, wenn wir von ihr sprechen? Man könnte meinen, die Zukunft, das, was noch im Werden begriffen ist, sie sei die einzig Greifbare. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit üblicherweise auf das richten, was kommt. Doch entzieht auch die Zukunft sich bei genauerer Betrachtung der Fixierung auf den Moment. So stellt sich die Frage, ob wir uns nicht immerzu in einem Zustand des Übergangs befinden. Im permanenten Wandel. Das Leben wird so gewissermaßen zum Transitraum. Doch liegt der Unterschied zu Wartezimmer oder Abflughalle wohl darin, dass wir uns im Leben an und für sich weniger als Wartende betrachten, als viel mehr als Handelnde oder Gestaltende. So warten wir üblicherweise nicht einfach auf die Zukunft, sondern evozieren sie bewusst. Zumindest, soweit uns das möglich ist. 

Aber genau dies scheint uns in aktuellen Zeiten abhanden gekommen zu sein. Die Zeit steht in gewisser Weise still. Die Zeiger der Uhren, eingefroren. Die Zukunft ungewiss. Die Vergangenheit, auch sie scheint kein Maßstab, keine Blaupause für das noch Kommende zu sein. Und die Gegenwart? Ja, die Gegenwart steht, wie gesagt still. So fühlt es sich zumindest an. Selbst, wenn die Zeit fortschreitet. Als sei die Welt im Interregnum zwischen Vergangenem und Zukünftigem eingefroren. Ein Bruch in der Zeit. Der den Übergang plötzlich sichtbar macht. Das, was wir sonst nur allzu selten wahrnehmen. Vielleicht des schwindelerregenden Impetus unseres Zeitgeist wegens. Blicken wir nun geradewegs in die Öffnung, den Spalt, der sich aufgetan hat. Und, die aufmerksame Hörerin ahnt es wohl bereits, dass der besagte Bruch, so beängstigend er auf den ersten Blick auch scheinen mag, uns keineswegs nur eine Betrachtungsweise offen lässt. Sicherlich, wer angstvoll in eine pechschwarze Schlucht hinab blickt, der mag wohl kaum in der Lage sein, kühne Zukunftsvisionen zu ersinnen. Hilfreicher könnte es dagegen sein, sich Kintsugi ins Gedächtnis zu rufen. Eine traditionelle Japanische Reparaturmethode. Bei dieser Kunstfertigkeit wird gesprungenem oder gar zerbrochenem Keramik im Prozess des Vergoldens neues Leben eingehaucht. Auch, wenn bei dieser kulturellen Praxis wohl vornehmlich die Ästhetik vordergründig ist, so lässt sich die metaphorische Betrachtung des Bruchs als Potenzial eine neue Sichtweise zu etablieren, gar etwas noch Wertvolleres zu schaffen, vielleicht für unsere gegenwärtige Situation nutzbar machen.

Wie das gelingen kann, darüber hat Gastautorin Katharina Walser einen Essay verfasst. Katharina hat allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der LMU München studiert. Seit ihrem Forschungsprojekt zur „Zwischengeschichte“, für das sie ein Semester an der Yale University verbrachte, beschäftigt sie sich intensiv mit den poetischen Dimensionen von Zwischenräumen. Die Faszination für den Bruch und den Wandel begleitet Katharina also bereits eine ganze Weile.

Bevor wir allerdings einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Wie ihr Mitglied werdet und teilnehmt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

Am 16. November 2020, im Jahr der Covid-19 Pandemie, veröffentlicht die Kölner Band AnnenMayKantereit ihr viertes Studio Album mit dem schlichten Titel „12“. Im Rolling-Stone Magazin heißt es das Album sei Corona Verarbeitung „aus Bildungsbürgerhausen“. Man kann von den melancholischen Anklängen und den zuweilen sehr großen Fragen in diesem „Echtzeit Album“ halten was man möchte, doch haben sie unabhängig von einem künstlerischen Werturteil vermutlich recht, wenn sie in ihrem 40-sekündigen Vorspiel in Chant-artiger Manier singen: „So wie es war, so wird es nie wieder sein“. Was hier den Ton angibt ist die Trauer für eine gekannte, vergangenen Welt und die Angst gegenüber einer ungewissen Zukunft, so singen sie an anderer Stelle: „ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“. Der Titel des Albums gibt Aufschluss über die besondere Wahrnehmung der Gegenwart aus welcher die Zeilen sprechen: die Wahrnehmung der Gegenwart als Endzeit. Die warnende Floskel „5 vor 12“ hat ausgedient, es ist bereits „12“. Mit dieser Metapher des Zeniths der Mittagsstunde wird sowohl die Vorstellung des Höhepunkts einer dramatischen Situation auf den Plan gerufen, wie die Bewegung des Übergangs. Um 12 befinden wir uns in der Zwischenzeit, an der Grenze zwischen Vor- und Nachmittag. Doch bleibt die Zeit selbstverständlich auch in diesem Zwischenzustand in Bewegung. So lässt sich diese Zwischenzeit neben der Markierung eines Höhepunkts auch durch das Ereignis des Umschwungs charakterisieren. Eine solche gleichzeitige Bewegung der Zuspitzung und des Übertritts bestimmt auch das Moment des Jahres: das Moment der Krise.

Die Krise, aus dem altgriechischen krísis, heißt zunächst Entscheidung oder auch Meinung. Ursprünglich im Bereich der Medizin wurde mit der Krise dasjenige Moment bezeichnet in welcher eine Symptomatik einen Höhepunkt erreicht. In diesem Moment entscheidet sich der Verlauf der Krankheit zu einer radikalen Verbesserung oder Verschlechterung des Zustands der Patientin. Erst im Laufe des 17.Jahrhunderts findet der Begriff in einem Konflikt zwischen britischem Königshaus und Parlament Einzug in die Sprachwelt der Politik. Erst sehr viel später verwenden wir ihn für wirtschaftliche Wendepunkte oder Dramengeschehnisse im Privaten.

Antonio Francesco Gramsci, ein italienischer Philosoph, Marxist und Politiker, schreibt in seinem Hauptwerk, den sogenannten Gefägnisheften:  „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“. Auch dieses Interregnum bezeichnet also einen Zwischenzustand, zwischen vergangenen und kommenden Strukturen, einen Zustand des Transits in dem sich die Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig sprechen diesen Zeilen Gramcis ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig zu spüren bekamen: das Sichtbarmachen.

Auch wenn wir noch nicht absehen können in welche Richtung unsere Welt nach dieser akuten Krise kippt, so bleibt im Moment dennoch eines: den Bruch nach bestem Wissen und Gewissen in der Reflexion produktiv zu machen. Dies erfordert eine genaue Betrachtung der Strukturen unserer Gesellschaft, welche unter dem Vergrößerungslas der Krisensituation neu erfahrbar und in ihren Problematiken akzentuiert werden. So versieht die Transformationsexpertin Silke Nierfeld ihren im Mai im projektmagazin veröffentlichten Artikel zur Krise als Chance mit einem Beititel, der sich beinahe als Antwort auf AnnenMayKantereits Tonus der Verabschiedung lesen lässt: „Es soll nicht wieder so werden, wie es vorher war.“ Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten.

Anfang dieses Jahres, oder, wie es so oft heißt „im ersten Lockdown“, hörte man viele solcher Stimmen, die angesichts der Herausforderungen in der Pandemie schnell von Chancen, Möglichkeiten und Aufschwüngen durch die Verlangsamung der Krise sprachen. Man sprach von Entschleunigung, Rückbesinnung und Fokussierung auf das Wesentliche. Die Journalistin Jana Anzlinger schreibt im Juni über diese verfrühte Ideenschmiede im Angesicht der akuten Probleme mit der Verbreitung des Covid-19 Virus in der Süddeutschen Zeitung: das Gerede von Chancen sei ausschließlich ein Privileg derer, die weniger von der Krise betroffen seien und die das große Leid der Pandemie durch ihre schillernden Zukunftsvisionen verkennen würden. In ihrem Artikel heißt es, es helfe „nicht weiter, wenn Bessergestellte abgehoben von der Krise als Chance schwadronieren – Bessergestellte, die sich bequem ins Home-Office zurückziehen konnten, was all den Kassierern, Krankenpflegern und Paketbotinnen nicht vergönnt war. Menschen in schlechter entlohnten Berufen stehen stärker denn je unter Druck und sind besonders vom Virus gefährdet.“ 

Mit dem Ende des ersten Lockdowns schienen die Reden von Chancen abzuflachen, das Gefühl der Handlungsfähigkeit nahm ab und der Wunsch nach der Welt, die abhanden kam, schien die Stimmungen und Schlagzeilen zu dominieren. Die Autorin Ilona Hartmann hält in ihrem Beitrag in der November-Ausgabe des ZEIT Magazins dieses lähmende Gefühl des Herbsts und der sogenannten zweiten Welle fest: „Wie flauschig wirkt rückblickend der erste Lockdown: Man legte sich auf eine Matratze aus Bananenbrot und wartete auf den Sommer.“ Dieses Gefühl des geduldigen Wartens scheint einem Kampf gegen die allumfassende Hoffnungslosigkeit gewichen zu sein. So schreibt Hartmann süffisant: „Herbstspaziergänge sind eine perfekte Gelegenheit, um sich an der frischen Luft Sorgen zu machen.“ Ähnlich beschreibt es der Journalist Leonardo Bianchi im vice Magazin: Wir befänden uns in einem allgemeinen Gefühl der „Pandemiemüdigkeit“. Er verweist darauf, dass laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation 60% aller Befragten angaben von den Regulierung zur Eindämmung des Virus erschöpft zu sein. Der Psychologe Renato Troffa erklärt, dass das Risiko existiere, „gelernte Hilflosigkeit” zu entwickeln. Dieses Phänomen entstehe, wenn wir glauben, einen negativen Zustand überwunden zu haben und dann dennoch erneut damit konfrontiert werden. So verlieren wir das Kontrollgefühl über die Dinge. Hartmann kommentiert weiter humorvoll, wie die geschmiedeten Pläne des Frühjahrs einem kühlen Realismus weichen mussten: „Horoskop für den zweiten Lockdown (gültig für alle Sternzeichen): Nein, du wirst auch dieses Mal den Zauberberg nicht lesen: „Vielleicht ist nun gerade fern von einem Duktus der Abgehobenheit aus der Überforderung und Frustration heraus ein Wille für das neu Denken und Handeln zu schöpfen, eine Kraft freizusetzen, welcher der Philosoph Slavoj Žižek einen Buchtitel widmet: der Mut der Hoffnungslosigkeit. Fern vom Gerede der Selbstoptimierung unter einem Kreativitäsimperativ, der unseren ersten Lockdown zu bestimmen schien und welcher lediglich die Dogmen des Kapitalismus und seine Gebote zur Produktivitätssteigerung vom Büro in unsere Wohnzimmer verlagerte.

Die Frage ist also: Wie können wir aus der anfänglichen Euphorie und dem wachsenden Gefühl von Handlungsunfähigkeit, angesichts der vielen Realprobleme in andauernden pandemischen Zeiten, zu einem produktiven Diskurs zurückfinden, in dem wir das Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückerlangen? Hierzu lohnt sich ein genauerer Blick auf das Paradigma des Bruchs.

Kommen wir hierfür zunächst zurück zur angesprochenen Sichtbarmachung. Gramscis Formulierung zur Hervorbringung von Krankheitsbildern in der Krise bezieht sich deutlich auf ein Hervortreten einer Symptomatik. Klar ist die gesellschaftlichen Erkrankungen, die der Ursprung dieser Symptome sind, liegen schon wesentlich länger vor und sie speisen sich aus einer Vielzahl von Ansteckungsmomenten. Im Bruch mit der bekannten Lebensweise wird deutlich, welche im weitetesten Sinne “Erkrankungen” unserer Lebenswelt wir bisher wenig oder nicht deutlich genug in den öffentlichen Diskurs geholt haben. Wie das angelernte Konsumverhalten, die Unsichtbarkeit der physisch aber vor allem psychisch Kranken, die Ignoranz mit der wir den Alten in unserer Gesellschaft begegnen, die ungleichmäßige Verteilung der Löhne, die unzeitgemäße Ausstattung unserer Bildungsstätten. Die Liste ließe sich so fortführen. In der Krise rücken diese Themen nun in den Vordergrund. Von der Diskussion um schlechtbezahlte Pflegekräfte, über die kursierenden Nummern von Notfalltelefonen und Ersthilfen für häusliche Gewalt, zur Salonfähigkeit des Gesprächs über Mental Health. Im Angesicht der Gefahr und der gemeinsamen Erfahrung des in den privaten Raum Verbanntseins, erleben wir diese Probleme nicht mehr nur als abstrakte Phänomene einer von uns unterschiedenen oder außerhalb liegenden Gesellschaft, sondern wir erleben uns als Betroffene und Abhängige in einem System, das in vielen Bereichen nicht mehr auf unsere Bedürfnisse oder Lebensweisen ausgerichtet zu sein scheint.

Die Unausgeglichenheit des gesellschaftlichen Systems wird nicht zuletzt deutlich in den Maßnahmen, die in der Krise getroffen werden. In den Prioritäten, welche der Staat in Form von Finanzpaketen setzt: Schnell ist klar, dass nicht nur bestimmte Familienmodelle in den Hilfspaketen weniger berücksichtigt werden als andere. Auch ganze Bereiche der Gesellschaft, wie Kunst und  Kultur, werden unter dem Schlagwort der Systemrelevanz oder  unter dem Label der “Freizeitgestaltung” als mindestens zweitklassig deklariert. Diese staatliche Privilegierung oder gar Ausklammerung provozieren die Frage: Welcher Wert wird den verschiedenen Bereichen unseres Lebens bisher beigemessen? Und welchen Wert wollen oder sollten wir ihnen in Zukunft zugestehen?

Neues Potenzial bietet die akute Krise zunächst darin, dieses wir überhaupt vorstellbar zu machen. Insofern konfrontiert uns die Pandemie mit dem Problem widerstreitender Kollektivierungsbewegungen. Die Epidemie führt uns die Diskrepanz des Globalen vor Augen. Die Diskrepanz einer Welt, die im digitalen Raum und im Warenverkehr längst näher zusammengerückt ist, aber eine Form der globalen Solidarität, einer ethischen Verbindung im Gefühl nicht standhalten kann. Diese Diskrepanz betont auch die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke in einem Beitrag im Deutschlandfunk „es [gibt] die Wahrnehmung eines globalen Wir, wie es das vielleicht in der Form so vorher noch nicht gegeben hat“. Dennoch gilt es dieses Gefühl gesellschaftlich tragfähig zu machen, gerade vor dem Hintergrund identitärer Politik, die immer in Krisenzeiten die Spaltung von wir zu den Anderen zurückfordert. Die Krise scheint uns neue Möglichkeiten zu eröffnen, gerade in der Vorstellung einer gemeinsamen Aufgabe, oder eines gemeinsamen Gegners als Virus. Möglichkeiten uns darin zu üben uns als globale Gemeinschaft zu verstehen. So sind beispielsweise die menschenunwürdigen Bedingungen des zu Beginn des Jahres noch größten Lagers für Geflüchtete Personen in Europa, Moria, erst in Zeiten der Pandemie und der dort explosionsartig gestiegenen Zahlen von Covid Infektionen wieder in das Auge der medialen Öffentlichkeit gelangt. Die Schwierigkeit aber eben auch die Chance der Krise liegt darin, ein Wir nicht nur als Gemeinsames dessen zu denken, dass wir alle mit derselben Katastrophe umzugehen haben, sondern auch über eine Solidarisierung. Eine Solidarisierung mit jenen, die von dieser, wie im Übrigen von all den anderen Krisen, als erste und am stärksten getroffen werden. Ein Kollektiv kann so nicht nur im Sinne der Gleichheit gedacht werden, sondern auch und vor allem im Sinne einer Gemeinschaft der Diversität von Lebensumständen.

Unabhängig von einem Werteurteil der bisherigen sogenannten Corona-Politik, hat die Krise vor allem gezeigt, dass wir Handlungsspielraum besitzen die Potenziale ökonomischer, wie sozialer Umwälzungen auszuschöpfen. Vor dem Hintergrund der Schnelligkeit und Radikalität getroffener Entscheidungen, die unter der Absolution des Notstands in diesem Jahr möglich waren, zeigt sich die alte Rede von alternativloser Politik als Ammenmärchen der Konservativen. Ebenso deuten diese Entscheidungen die Menge an politischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten unseres Lebens an, wenn wir in der Lage sind anderen Herausforderungen der Gegenwart mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu begegnen, wie wir es im Angesicht der Pandemie tun.

Die Krise ist wie die Zahl 12 auf der Uhr, ein imaginärer Umschlagplatz. Insofern als sie im Bruch mit dem gewohnten Fortgang der Dinge, die Vorannahme der Gleichförmigkeit des Lebens als falsch entlarvt. Das Potenzial dieses Bruchs liegt in der doppelten Codierung dieser imaginierten Grenzlinie: Indem wir in der Lage sind anhand dieser Linie des Krisenmoments die Geschehnisse in ein Vergangenes und ein Kommendes zu gliedern. Ebenso, wie in der Realisierung dessen, dass ein stets gleichbleibendes System nicht der Natur der lebensweltlichen Dinge entspricht, die unter ihm geordnet werden sollen. Der Bruch kann uns helfen diese Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und unsere Ordnungssysteme den veränderten Bedingungen von außen und veränderten Bedürfnissen von innen anpassen müssen, wieder in das Bewusstsein zu holen. In der zuvor diskutierten direkten Erfahrbarkeit durch den Bruch mit dem gewohnten Fortgang, kann die Chance liegen die relevanteste Aufgabe in Krisenzeiten zurück in den gesellschaftlichen Diskurs zu holen: Zukunft denken.

Lisa Suckert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung. Dieses Jahr veröffentlichte sie einen Beitrag mit dem Titel Die Zukunft in der Krise. Darin schreibt sie: „Vielen Menschen scheint mit dem Ausbruch des Coronavirus ihre Zukunft abhandengekommen zu sein. Vormals gültige Pläne, Routinen, Hoffnungen und Ziele sind in vielen Lebensbereichen hinfällig geworden.“ Gerade deshalb braucht es nach Suckert im Umgang mit der Krise „gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zukunftsentwürfe ebenso wie Impfstoffe oder staatliche Überbrückungsmaßnahmen“. Die Krise, das ist ein unerwartetes Ereignis. „Um jedoch überhaupt erst als „unerwartet zu gelten, bedarf es aber etablierter Erwartungen, von denen diese Ereignisse abweichen können. Erst vor dem Horizont vermeintlicher Planbarkeit, die moderne Gesellschaften kennzeichnet, kann das Unvorhergesehene überraschen.“ Suckert denkt den Bruch also im Sinne dieser genannten Illusion der Gleichförmigkeit von Welt. Die Krise ist als Bruch nach Gramscis Entwurf eben nicht mehr als „stabile Verlängerung der Vergangenheit zu denken“. Dieses ins Wanken geraten der Vorstellungen aus der Vergangenheit, das Beben des bekannten Bodens, das irritiert nicht nur viele, es hinterlässt Angst vor einer Welt im Kommen, deren Organisationsstrukturen man nicht kennt. Gerade deshalb ist es wichtig mögliche Perspektiven vom Bruch in die Zukunft zu denken. Für gewöhnlich – und auch das sehen wir in der aktuellen Krise – wird das Gegenteil getan und eine Unmenge an Energie in die Widerherstellung des Bekannten investiert .

Der Historiker und Professor für Geschichte an der Yale University, Timothy Snyder, nennt diese Art des Festhaltens an bekannten Formen der Lebensgestaltung die ‚Politik der Unvermeidbarkeit‘. Im Zusammenhang mit einer Form der Krise, die jedoch zu der der Corona Pandemie, des Klimawandels und auch der des Kapitalismus untrennbar in Beziehung steht, nämlich die Krise der Demokratie, spricht Snyder von einem Narrativ der Unbedingtheit: „Die logische Schlussfolgerung dieses Narrativs, das von den Neunzigerjahren bis in die frühen 2000er überdauerte, lautet, dass alle anderen mit der Zeit zunehmend so werden wie wir. Dass wir zunehmend werden wie wir. Dass Demokratie unvermeidlich ist“. Innerhalb eines solchen Konzepts ist es die Vorstellung von Zukunft, an  der es Politik und Gesellschaft mangelt. Mit den nationalistischen und populistischen Strukturen, die in den vergangenen Jahren Europa und die USA erschüttern, habe sich allerdings gezeigt, dass eine solche Vorstellung von Unbedingtheit nicht haltbar ist. „Stattdessen hat sich das Gefühl eingestellt, dass sich mithilfe antidemokratischer Argumente Wahlen gewinnen lassen. Diesen Moment des Schreckens, in dem niemand wirklich von der Zukunft spricht, in dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen und in einer Gegenwart des „Wir gegen die“ gefangen sind.“ Das, so Snyder, sei die ‚Politik der Ewigkeit‘. Snyder schreibt weiter, dass sich die Probleme der Demokratie, die Krise der westlichen Welt, in einem Satz am besten darstellen lasse: „Die Zukunft ist verschwunden.“ Denn wenn „wir keine Vorstellung mehr von der Zukunft haben, wenn wir nicht mehr mannigfaltige Ideen davon haben, was noch kommen könnte und welche dieser Zukunftsversionen besser ist, dann ist es für die Menschen sehr schwierig, sich involviert zu fühlen“. Eine solche Politik ohne Zukunftsvisionen, die weiter ungeachtet der Widrigkeiten versucht unter den Prinzipien des letzten Jahrhunderts, wie dem Diktat zu stetigem und linearem Wachstum, kann unmöglich mit den Wandlungsprozessen einer modernen Welt mithalten. Er sieht zwei mögliche Reaktionen: eine ‚Politik der Katastrophe‘, die immer nur momentanes Krisenmanagement betreibt, unter den Dogmen des Fortschrittsgedankens, die allerdings keinen ernstzunehmenden Kurs der Krisenvermeidung einschlägt. Oder aber eine hoffnungsvolle ‚Politik der Verantwortlichkeit‘, die möglichen Versionen der Zukunft entwirft und sich dem Wiederherstellungsdrang von ausgedienten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modellen aktiv widersetzt.

An einer Politik oder schlicht an der Vorstellung von Wiederherstellung festzuhalten, wäre nicht nur reaktionär, sondern würde auch weiterhin Tür und Tor für Formen der Radikalisierung öffnen. So bezieht sich der Publizist Hans Rusinek in einem Gastbeitrag im Politischen  Feuilleton des Deutschlandfunks auf eine Fehlfokussierung des Diskurses in Zeiten von Corona: „Wir reden von der guten Ordnung, den etablierten Organisationen und deren Sinn – aber nicht von Ordnen, Organisieren und Sinnstiften.“ So liefen wir Menschen in die Arme „die etwas Vergangenes great again machen wollen“. Auch die Autorin und Politökonomin Maja Göpel formuliert diese Gefahr in ihrem Buch Unsere Welt neu denken: „Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt.“ Und auch diese Strukturen konnten wir im Zuge des Pandemiegeschehens bereits beobachten, zum Beispiel als Spaltungsphänome zwischen Querdenkern und Befürwortern der politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Vor dem Hintergrund, dass die akute Krise von Populisten und Neoliberalisten wieder genutzt wird, um beispielsweise in nationalistischer Manier das eigene Handeln durch den Ländervergleich von Strategien und Todeszahlen aufzuwerten, lohnt es sich die Funktionsweisen regressiver Rhetoriken zu überdenken. Die Krise ist eben auch, wie es in der von Žižek paraphrasierten Version der eingangs zitierten Gramsci Passage heißt, „die Zeit der Monster“. Vor diesen Phänomenen wird die Dringlichkeit deutlich, statt einer reaktiven Abwehr, wie Göpel formuliert, proaktiv Zukunftsversionen zu bauen. Nicht nur gesundheitspolitischen und wirtschafltichen Fragen ließe sich dann neu begegnen, sondern auch den klimatischen und sozialen Fragen unserer Gegenwart. Wie Göpel schreibt, ist „unsere heutige Welt eine fundamental andere als vor 250 Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wird heute vorwiegend mit der damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen.“ Eine neue und progressive Handlungsmacht muss sich zunächst im Denken formulieren. Auf die Fragen wann der Alltag wieder zurückkehrt, die Wirtschaft sich wieder stabilisiert und alles wieder im Lot sei antwortet Hans Rusinek: „Vielleicht wenn wir verstehen, dass das wahre Problem in dieser Art zu fragen und zu denken steckt: Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik“. Wie unabdingbar eine solche Erneuerung im Denken für unsere Gegenwart ist, formuliert auch der Philosoph und Direktor des Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien, Thomas Macho. Er betont, dass die Pandemie als Krise durch ihren andauernden Zustand ihren Ereignis Charakter verliert und nicht zuletzt unsere Gegenwart als Zeit der langfristigen Krisen in Erinnerung ruft. „Pandemien gehören – ebenso wie Migrationen und man könnte den Klimawandel ergänzen – zur longue durée menschlicher Geschichte.“ Und auch wenn es vermutlich vermessen und naiv wäre zu behaupten, dass wir nach der Corona-Krise eine allumfassende Neucodierung unserer Gewohnheit halten könnten, so birgt der Bruch Potenzial, sofern er für Zukunftsbildung in Gedanken und Handlungen produktiv gemacht wird. Wenn wir in der Lage sind uns auf das „ständige nachjustieren“ einzulassen, wie es die Philsophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in ihrem Band Über Philosophie in Echtzeit als Aufgabe in der Krise betonen.

Der Bruch als Krise zeigt sich also nicht als singuläres Moment, nach dessen Überwindung wir zum Gewohnten zurückkommen werden. Er schärft dagegen unseren Blick für eine Welt im stetigen Wandel, in der wir unsere Bedürfnisse und die Mittel, mit denen wir deren Erfüllung suchen, immer wieder aufs neue Überdenken müssen. Um letztlich den Bedingungen unserer Umwelt und uns selbst gerechter zu werden. Wenn wir verstehen, dass nicht die Anomalie im gewohnten Fortgang die Gefahr birgt, sondern die Vorannahme, dass wir in einer Welt der Regelmäßigkeiten lebten, der eigentliche Fehler im System unseres Denkens ist. Dann können wir die Krise als Möglichkeitsraum begreifen. Als Möglichkeitsraum, in dem wir das Gefühl für unsere Handlungsfähigkeit erneuern und neue Wege beschreiten können, um uns wieder als gesellschaftliche Mitgestalter:innen einer wünschenswerten  Zukunft zu erkennen. 

Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

16. Dezember 2020

Kunst und Kultur – (in Krisen) nicht systemrelevant?

von Ricarda Manth 18. November 2020

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und dem Vorgefundenen machen. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich.

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” kreist. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Diese Debatte verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt und hat hierzu einen Essay verfasst, der nun als erster Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcast erscheint.

Shownotes:
► Till Brönner’s Wutrede.
► Julian Nida-Rümelin über die Corona-Maßnahmen: Kulturzeit-Gespräch.
► Kunst, Kritik und Krise: NZZ-Kolumne von Konrad Paul Liessmann.
► Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960).
► Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis (2014).
► Alva Noë: Strange Tools: Art and Human Nature (2015).
► Amelie Deuflhard zum Theater-Lockdown: FAZIT-Beitrag.

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Transkript: Kunst und Kultur, (in Krisen) nicht systemrelevant?

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und den vorgefundenen Verhältnissen machen. Die gesamte menschliche Welt, sofern sie auf Aktivitäten und Leistungen des Menschen zurückgeht. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich. “Der Punkt, an dem der Mensch schon da ist, die Kultur aber noch nicht, ist ein theoretischer Nullpunkt.” So formulierte es kürzlich die Professorin Dr. Birgit Recki während einer Kulturphilosophie Vorlesung, der ich gespannt lauschte. 

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” zu kreisen scheint. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir als Menschen in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Eben dieser Debatte um Kultur und Systemrelevanz, verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt. Und ich freue mich sehr, dass er mit seinem Essay, den er zu diesem Thema verfasst hat, den ersten Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcasts veröffentlichen wird. In meinen Augen ein wichtiger Schritt, um Sinneswandel zu öffnen, als Raum zu Denken, der mitgestaltet werden möchte. Nicht nur durch meine Wenigkeit, sondern, der bereichert wird durch möglichst vielfältige Perspektiven und Gedanken von unterschiedlichen Gastautorinnen und -autoren. Über Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Einreichung von Beiträgen, ist auf der Website www.sinneswandel.art mehr zu lesen.

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn das Recherchieren und Produzieren des Podcast ist nicht nur zeitintensiv, sondern kostet, wie fast alles im Leben, auch Geld. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude mit dem Gastbeitrag von Manuel Scheidegger über Kultur und Systemrelevanz.


“Sowas wie heute habe ich noch nie gemacht. Muss daran liegen, dass ich ziemlich sauer bin. Seit Monaten schaue ich mir jetzt nicht nur an, wie eine gesamte Branche durch Corona lahmgelegt wird, sondern erlebe auch, wie auffällig verhalten und geradezu übervorsichtig Bühnenkünstler:innen sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern, obwohl ihre Existenz gerade fundamental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurückhaltung aus unseren eigenen Reihen für fatal, weil sie ein völlig falsches Bild der dramatischen Lage zeichnet, in der sich unser Berufszweig aktuell befindet. Und ich denke, es ist an der Zeit einmal klarzustellen, worüber wir gerade sprechen. Denn hier geht es nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um uns alle. Und es geht um Geld, viel Geld.” – Mit dieser Wutrede hat sich der bekannte Jazzmusiker und Kulturunternehmer Till Brönner am 27. Oktober dieses Jahres an seine Follower:innen gewandt. Ein Tag später hat die Bundesregierung offiziell verkündet, dass „Theater, Opern- und Konzerthäuser sowie ähnliche Einrichtungen“ bis Ende November in den Teil-Lockdown müssen. Ähnliche Einrichtungen, das sind solche, die ebenfalls „der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind“. Darunter fallen laut Beschluss der Bundesregierung auch Fitnessstudios, Freizeitparks, Spielbanken oder Bordelle. Diese Reihung hat – sagen wir es mal offen – Anlass zu Fragen gegeben.

Spielbanken und Bordelle sind gesellschaftliche Realitäten. Und es kann  – bei allen diskussionswürdigen Fragen, die sie aufwerfen  – sogar interessant sein, darüber nachzudenken, was Glücksspiel und Sexarbeit mit unserem Bedürfnis nach Kunst teilen. Auch gegen Fitnessstudios und Freizeitparks ist nichts einzuwenden. Aber ob Kultur wirklich nur der Ergometer des Grosshirns und Kunst eine Art Disneyland – nur mit Anspruch ist, darüber lässt sich streiten. Die Debatte, die Brönner sich gewünscht hat, ist durch den Beschluss lautstark losgetreten worden.

Zahlreiche Stimmen haben sich zu Wort gemeldet: Im Grundsatz waren sich alle einig. Die Pandemie muss natürlich bekämpft werden, Einschränkungen ergeben Sinn. Punkt. Aber bitte „in sich stimmig, halbwegs logisch“, forderte etwa der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida Rümelin und wunderte sich, dass in ICEs vier Personen an einem Tisch sitzen, während in Museen und Theatern weit ausgefeiltere Hygienekonzepte längst Maßstab waren. Warum sind Gottesdienste erlaubt, aber die Versammlungsfreiheit in der Kunst eingeschränkt? Ist Theater nicht eine säkulare Form jener Sinnsuche, die im Gottesdienst gesucht wird? Schließlich sei Theater doch wie die Liebe, zwar nicht existentiell, aber „lebensrelevant“, so der Intendant Stefan Märki. Etwas prosaischer ist da Brönners Hinweis, dass im Kultur- und Kreativbereich mehr Menschen als in der Automobilindustrie tätig sind. Und 2019 sage und schreibe über 170 Milliarden Euro umgesetzt wurden (vgl. Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft). Gegen solche Zahlen und überhaupt jede Idee, die Kunst zu Markte zu tragen, wetterte der Philosoph Konrad Paul Liessmann in der NZZ: Kunst war nie lebensrelevant und er zitiert den Spätaufklärer Karl Philip Moritz: „Das Nützliche ist der Feind des Schönen.“ Wer Kunst retten will, so Lissmann, „sollte unverblümt einbekennen, dass es Menschen gibt, die etwas brauchen, das zu nichts zu gebrauchen ist.“ Nicht einmal zum Leben? Und auf keinen Fall zur Gestaltung von Freizeit? Aber wozu dann?

Die Frage ist brisant. Denn in der Debatte um die Systemrelevanz von Kunst haben sich bereits die ersten Entscheidungen eingeschlichen: So hat die Stadt Bamberg schon angekündigt, die Mittel für Kultur im nächsten Jahr um 25% zu streichen. Da nützt es dann auch nichts mehr, dass die Kulturstaatsministerin Monika Grütters Kultur als „systemrelevant“ bezeichnet, „weil sie das kritische Korrektiv in unserer Gesellschaft“ ist. Wer braucht schon ein kritisches Korrektiv, wenn die Zeiten selbst kritisch sind?

Für viele ist Kunst und Kultur wieder einmal dort angekommen, wo sie zu lange schon war: Am Rande der Gesellschaft, nicht wirklich systemrelevant. Aber ist dieses System umgekehrt denn auch kulturrelevant? Wie es der Poetryslammer Rainer Holl ironisch umgedreht hat. Was ist denn ein System ohne Systemkultur? Und was wäre, wenn wir besonders in Krisenzeiten mehr Kunst und Kultur brauchen und nicht weniger? Wenn sogar jedes System genuin davon abhängt, dass es sich – gerade durch die Impulse von Kunst und einer Kultur der kollektiven Auseinandersetzung mit ihr – zu wandeln vermag? Was wenn Menschen ohne Kultur nichts sind und das heißt: Kultur für uns alles ist? 

Doch was ist denn eigentlich Kunst? Diese Frage sprengt natürlich jeden Rahmen. Und das ist zugleich ihr erstes Kennzeichen. Kunst sprengt Rahmen. In diesem Sinne hat etwa der Philosoph Jacques Derrida in „Die Wahrheit der Malerei“ die Frage nach dem Rahmen als wesentliches Moment der Kunst bezeichnet. Kunstwerke rahmen immer wieder neu. Sie lassen uns spielerisch bestimmen, wovon sie handeln, was sie einrahmen und was sie ausklammern. Was sie zeigen, was sie verhüllen und was undarstellbar bleibt. Sie lassen uns darüber streiten, worum es geht und wie es darüber geht. Kein Kunstwerk ist einfach da, genauso wenig wie kein Mensch einfach ist. Kunstwerke und Menschen fordern Gespräche, wenn sie verstanden werden wollen, und das heißt, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, dass man sich auf sie einlässt. Sich dem Spiel des guten und offenen gemeinsamen Gesprächs hingibt und nicht der Intention, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren und auf jeden Fall recht zu behalten. Kunst und Kultur eröffnen empathische Gesprächsräume unter Gleichen. Sie halten die Demokratie am Laufen. Sie trainieren den Diskurs als einen gemeinsamen, pluralen und wertschätzenden – und das ist dann tatsächlich Fitness für das 21. Jahrhundert.

In der Kunst lernen wir aber nicht nur zu verhandeln, sondern auch ganz praktisch zu handeln. Denn Kunst bricht immer neu mit Routinen. Und Handeln, wenn es nicht automatisiert und in blinden Prozessen verläuft, ist unsere Fähigkeit, mit Unterbrüchen und Überraschungen umzugehen, auf die Veränderungen der Welt zu antworten, in dem wir eben – handeln. Dass das nicht immer glückt und mitunter tragisch sein kann, genau das zeigt die Kunst. Aber sie tut es, wie der deutsche Ästhetiker Martin Seel sinngemäß einmal gesagt hat, indem sie, was ein Kreislauf der Gewalt ist, in ein Spiel von Formen übersetzt. Schmerz wird zu Lust. Angst zu Optimismus. Kunst ist Krise in Permanenz, aber immer produktiv und positiv. So ist Kunst ein Tool, aber, wie der amerikanische Gegenwartsphilosoph Alva Noë sagt: ein “strange tool”, das heißt eines, das uns herausfordert, zuerst einmal herauszufinden, wofür es zu gebrauchen ist und das heißt: was wir überhaupt tun könnten. Kunst und Kultur sind keine Freizeit-, sondern Zukunftsgestaltung. Der Ort, wo wahre Innovation ihren Anfang nimmt. 

Das Problem ist: Wenn Kunst heute im politischen Alltagsgeschäft um systemrelevante Betriebe und finanzielle Unterstützung in Vergessenheit gerät, dann liegt das auch an einer Tradition, die Kunst seit der Moderne als autonom versteht. Autonomie hieß nämlich zu oft, die Kunst habe spezielle Gesetzmäßigkeiten, sie sei ihr eigenes System und nicht auf anderes übertrag- und schon gar nicht funktionalisierbar. Noch viel zu viel verstecken sich Künstler:innen selbst hinter dieser Parole, wenn sie gefragt werden, was ihre Kunst bewirken soll: “Nichts. Ich irritiere nur”, war zu lange eine Standardantwort, die sich der praktischen Relevanz enthebt und sich vor Verbindungen mit dem Außerhalb der Kunst scheut. Die Krise bietet nun die Chance, das Auratische, die Verklärung der Kunst zum Aussergewöhnlichen, zu nivellieren und anders zu denken. Kunst ist zunächst nämlich eine menschliche Praxis, in der wir uns in unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Mitteln immer wieder selbst neu gestalten, so der Berliner Philosoph Georg W. Bertram. 

Wenn Kultur die Summe unserer gemeinsamen Auseinandersetzungen ist, die durch Kunst im weitesten Sinne angestoßen werden, dann ist der Vergleich mit dem Freizeitpark, den der Bundesbeschluss evoziert, mehr als schief. Kunst und Kultur sind nicht an der Peripherie der Stadt, sie sind mitten drin in der Gesellschaft. Jeder Mensch, der Fragen stellt, Annahmen und Handlungsmuster erneuert, ist – frei nach dem Künstler Josef Beuys – Künstler und Künstlerin. Kunst ist der Name für das, was passiert, wenn Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und spielerisch transformiert werden. Egal ob in Unternehmen, im Kanon der moderne Kunstwerke oder in der Diskussion über “das System”. Kunst ist ein demokratisches Werkzeug. Es macht deutlich: So muss es nicht sein. So kann es werden. Oder mit dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty gesagt: Malerei und Kunst im Allgemeinen “ordnen die prosaische Welt neu”. 

Nun nochmal zurück zur aktuellen Situation, der Coronapandemie und dem Shutdown der Kunst. „Vielleicht sollten wir mal ein bisschen zurücktreten und uns nicht so hyperüberschätzen.“, sagt Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg. Und sie fragt: „Können wir uns nicht irgendwo in einem anderen gesellschaftlichen Bereich sinnstiftend betätigen? Für eine Zwischenzeit Schauspielerinnen und Schauspieler zu alten, vereinsamten Menschen schicken, in Gesundheitsämtern aushelfen?“

Natürlich ist in Krisen jede Hilfe gefragt. Auch ein Beitrag der Kunst- und Kulturszene – aber wenn, dann am besten künstlerisch, mit Fragen, mit kreativen Ideen, dem Aushaltenkönnen, Verlangsamen und jener Resilienz, die Künstler:innen immer schon hatten, weil sie nicht das System interessiert, sondern vor allem das, was es am Laufen hält, es unterbricht und umwirft, aber ohne das kein System der Welt je Bestand hat: das Leben selbst. 

Was könnte in diesem Moment sinnstiftender sein, als der Kultur neue Räume zu erschließen, statt alte zu schließen? Wo es in Schulen zu eng ist, könnten Museen einspringen – und gleich eine neue Form einer Schule des Sehens und Denkens mit Bildern erproben. Wo es an Betreuung fehlt und Jugendliche zu oft allein an Playstations sitzen, könnten neue Filmclubs entstehen oder gerne auch Clubs, in denen Games, ihre Erzählungen, Figuren und Themen gemeinsam diskutiert werden. Wo nach interdisziplinären und innovativen Lösungen gerufen wird, könnte man endlich auch Künstler:innen mit an den Tisch sitzen, sie sind nämlich gerade faktisch arbeitslos. Insgesamt bietet die Krise die Chance, dass wir mit Kunst und Kultur wieder mehr lernen, dass produktive Dissonanz Lust bedeutet und kein Niederbrüllen, und echtes Querdenken sehr viel sozialer, integrativer und – das sei erlaubt – einfach auch schlauer ist als jene meinen, die es am lautesten für sich reklamieren. 

Kunst und Kultur sind super. Wie vieles andere auch. Sie sind ein fantastisches Element unserer Kultur – neben anderen. Sie eröffnen Räume, in denen wir Welt neu in den Blick nehmen und Ideen entwickeln. Jedes System, das sich auf eine reine instrumentelle Mittel-Zweck-Beziehung und die Macht der Effizienz und Funktionalität reduziert, fährt gegen die Wand. Denn gerade Krisen zeigen: was überhaupt ein Mittel ist und was Ziele, die uns inspirieren, braucht Gespräch. Dissonanz. Demokratie. Offenheit. Culture of Failure. Ambivalenz. Widerspruch. Freude. Oder sagen wir einfach: überhaupt Kultur.


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch diese Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos sowie Quellen, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

18. November 2020

Rebekka Reinhard: Wie gelingt uns Vielfalt im Denken?

von Marilena 3. November 2020

In unsicheren Zeiten wächst die Sehnsucht nach Einfachheit und Entweder-oder-Denken. Das ist verständlich, aber nicht zeitgemäß, argumentiert die Philosophin Rebekka Reinhard. Unsere Vernunft wach zu machen und offen zu sein für das Vieldeutige und Widersprüchliche, weitet unseren Blick für andere Möglichkeiten – und für Reichtum und Schönheit einer vielfältigen Welt. Das »wache Denken« begegnet der Vereinfachung mit einer Lust am Spiel, am Experiment, am Wagemut. Und das brauchen wir, laut Rebekka Reinhard, heute dringend, um zu neuem Wissen zu finden, zu einer intelligenten Verbindung von Verstand und Emotion, von Hirn und Herz.

Shownotes:
► Wach Denken: Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch von Rebekka Reinhard. Erschienen 09/2020 im Verlag der Körber Stiftung.
► Mehr von und über Rebekka Reinhard auf ihrer Website.

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3. November 2020

Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

von Marilena 29. Oktober 2020

Während sich in der Corona-Pandemie weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese den perfekten Nährboden für den Glauben an Verschwörungstheorien. Da sie scheinbar klare Antworten auf Unsicherheiten geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in vermeintliche Sicherheit. Der Mensch lebt, laut Nietzsche, in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit stellt für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung dar. Dies scheint auch für Verschwörungsnarrative, mit ihren suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt, zu gelten. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im Falschen.

Shownotes:

Diese Episode wird präsentiert von Blinkist. Unter Blinkist.de/sinneswandel erhaltet ihr 25% Rabatt auf das Abo Blinkist Premium.

► „Wie ein Buschfeuer im Kopf“: ZEIT Interview mit Michael Butter über Verschwörungstheorien.
► „Hier walten geheime Mächte“: ZEIT Artikel von Thomas Assheuer über Verschwörungstheorien in den USA.
► Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.
► Leo Löwenthal: Falsche Propheten Studie von 1949.
► Dead and Alive: Beliefs in Contradictory Conspiracy Theories Michael Studie von J. Wood, Karen M. Douglas, Robbie M. (2012).
► So erkennt man Verschwörungstheorien: Leitfaden der Europäische Kommission.

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Transkript: Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

Mit Ausbruch des Corona-Virus Anfang des Jahres, entwickelte sich die Epidemie schnell zu einer Pandemie. Und beinahe zeitgleich verbreiteten sich zahlreiche Verschwörungstheorien rund um die Entstehung von Covid-19: Da ist einerseits der Glaube an die Übermacht von Bill Gates, der angeblich vorhat jeden Menschen zwangsimpfen zu lassen . Zugleich kursiert das Gerücht, das 5G-Netz sei an der Verbreitung des Coronavirus Schuld. Und dann sind da natürlich noch die QAnon Anhänger:innen zu nennen, die derzeit wohl populärste und meist diskutierteste Verschwörungstheorie, die insbesondere auf Demos gegen Corona-Maßnahmen verbreitet wird. QAnons glauben daran, US-Präsident Trump werde als Messias die Welt vor einem satanischen Kult aus Pädophilen und Kannibalen erlösen. Klingt nach einer absurden Geschichte, scheint aber dennoch anschlussfähig für Demokratiefeinde, Rechtsextreme und Antisemiten zu sein. Bunte Fähnchen, mit denen QAnons häufig auftreten, sollten also nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter häufig antidemokratische Tendenzen stecken, die alles andere als harmlos sind. Nun ist es allerdings nicht so, dass es Verschwörungstheorien erst seit Ausbruch von Covid-19 gäbe. Bereits seit Jahren wird über einen möglichen “Inside Job” also einer Verschwörung hinter 9/11, dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York, debattiert. Auch das Gerücht, die Erde sei eine flache Scheibe, hält sich nach wie vor hartnäckig und wird von sogenannten Flath-Eathlern emsig verbreitet. Ebenso, wie einige Menschen davon überzeugt sind, Chemtrails, also das Auftreten vermehrter Kondensstreifen am Himmel, entstehen durch gezielt in die Atmosphäre eingebrachte Chemikalien, die uns beeinflussen und möglicherweise vergiften sollen. Und so ließe sich die Liste ins beinahe Unendliche fortführen. Der Amerikanist und Forscher zu Verschwörungstheorien, Michael Butter, schreibt in einerm Interview mit der ZEIT: “Verdächtigungen und auch echte Verschwörungen gab es wohl schon immer, aber die klassische Verschwörungstheorie ist etwas anderes. Der Philosoph Karl Popper hat in ihr eine Antwort auf die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung und den verwaisten Himmel gesehen – das bringt ihren Ursprung deutlich näher an die Gegenwart. Nicht mehr der liebe Gott zieht in solchen Theorien die Strippen, so Popper, sondern eine böse Macht.” Willkommen im postfaktischen Zeitalter.

Ist unsere aktuelle Epoche also quasi prädestiniert, gerade zu anfällig für solcherlei Verschwörungstheorien? Greift der Mensch vielleicht sogar aufgrund seiner geistigen Veranlagung auf diese zum Teil wilden Fantasien zurück? Als eine Form der  Daseinsbewältigung? 

Für den Philosophen Friedrich Nietzsche existiert keine Wirklichkeit, außer jene, die wir selbst erschaffen. Alle Wirklichkeit ist unsere. Unsere, im Sinne unserer Kulturleistung. Für Nietzsche ist der Mensch ein Illusionist, in dem Sinne, als dass er niemals der Wirklichkeit, als objektive Wirklichkeit verstanden, gewahr wird, sondern sie stets als Abbild, als Übertragung – oder, wie Nietzsche es nennt, als “Metapher” – wahrnimmt. So, wie ein Wort für ihn “die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten” darstellt, die rein willkürliche Übertragung in Bilder, und aus ihnen nachgeformten Lauten, ist für ihn die durch den Mensch rezipierte Wirklichkeit eine Reduktion – oder vielmehr eine Illusion. Eine Illusion, ohne welche der Mensch, so Nietzsche, nicht lebenstauglich wäre. Dies ist es, was er versucht zu umschreiben, wenn er von dem “ästhetischen Fundamentaltrieb zur Metapherbildung” spricht. Nietzsche zufolge ist das Leben nur möglich “durch künstlerische Wahnbilder”. Jegliche sprachliche Erzeugung von Bedeutung stellt für ihn eine künstlerische Leistung dar. Damit ist die Wirklichkeit selbst das Gesamtkunstwerk, das der Mensch in seinem existentiellen Bedürfnis hervorbringt, um sich das Leben durch förderliche Illusionen erträglich zu machen. Erträglich zu machen, bedeutet für Nietzsche, dass der Mensch ohne die Illusionen, ohne die ‘Lügen’, die er sich über die Wirklichkeit erzählt, nicht existieren könnte. Kultur stellt für ihn die lebensdienlichen Alternative zur Wahrheit dar. Der Mensch lebt in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit ist für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung. ‘Die Wahrheit’ gibt es für ihn nicht, zumindest nicht als absoluten Maßstab unserer Erkenntnisse. Damit erhebt Nietzsche die ‘Lüge’ über die Wahrheit, insofern als dass sie Ausdruck schöpferischen Willens ist, der den Menschen am Leben erhält. Ein umgedrehter Platonismus, der das Leben als Schein, als künstlerische ‘Illusion” zum Ziel hat. Der Mensch ist, so Nietzsche, ein “gewaltiges Baugenie”. Und das Leben selbst in seinen elementaren Formen, enthält für ihn eine künstlerische Potenz, die sich in der Kultur zu einer eigenständigen Sphäre entwickelt.

Der Mensch, ist also notgedrungen ein Künstler, wenn man den Worten Nietzsches Glauben schenkt. Eine ähnliche Meinung vertritt auch der Journalist Thomas Assheuer, dessen Artikel ich kürzlich im Feuilleton der ZEIT gelesen habe. Darin schreibt dieser: “Verschwörungsnarrative [fallen] immer dann auf fruchtbaren Boden, wenn der psychische Apparat des Einzelnen mit einer verwirrend komplexen Gegenwart überfordert ist, genauer: wenn es dem Einzelnen unmöglich ist, seine Krisenwahrnehmungen in ein sinnvolles Schema ‘einzulesen’, und er das Gefühl bekommt, dem Weltgeschehen wehrlos ausgeliefert zu sein. […[ Verschwörungsgeschichten versprechen Abhilfe […] Dafür basteln sie einen suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt und ‘verständlich’ macht. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im falschen.” 

Da haben wir sie also, die Illusion, die ‘Lüge’, die über die Wahrheit erhoben wird. Zum Zwecke der eigenen Daseinsbewältigung in einer gefühlt immer undurchdringlicher erscheinenden Welt. Assheuer zufolge wirken Verschwörungstheorien gar  therapeutisch:  “Sie antworten auf Ohnmachtserfahrungen und verschaffen ihren Anhängern die grimmige Genugtuung, für einen Moment die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen und endlich gehört zu werden.” Während sich in der Corona-Pandemie also weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese einen perfekten Nährboden für den Glauben an eine Verschwörungstheorie. Da sie scheinbar klare Antworten auf die Unsicherheit geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in Sicherheit. Auch, wenn diese zwar oft nicht weniger dunkel und bedrohlich erscheint, weiß man wenigstens was los ist. Assheuer vermutet zudem, dass Verschwörungstheorien “weniger von der Klassenlage genährt [werden], als von elementaren ‘Nöten und Bedrängnissen’. Dazu gehört die Angst vor Status- und Kontrollverlust. Und die Sorge, im gnadenlosen ökonomischen Konkurrenzkampf aussortiert zu werden. […] ein Gefühl von Ohnmacht und Verunsicherung, […] verstärkt durch den Zerfall familiärer Geborgenheit und das Schwinden ‘moralischer Maßstäbe’.” “Genau von dieser Malaise, vom Zustand ‘permanenter Unsicherheit’, würden Propheten angezogen ‘wie die Fliegen vom Misthaufen’”. So attestierte es bereits 1949 der Soziologe Leo Löwenthal in seiner Studie mit dem Titel “Falsche Propheten”.

Der Wunsch nach Sicherheit, nach einem Halm, an dem man sich zumindest ein wenig festhalten kann, erscheint da durchaus verständlich. Vor allem, wenn hinzukommt, dass das altbewährte Freund-Feind-Schema immer mehr versagt oder stattdessen fallweise von Tag zu Tag neu justiert werden muss. “Keine erklärende […] Fortschrittserzählung macht die Chronik des Weltgeschehens narrativ verständlich”, schreibt Assheuer. Also wird sich ein eigenes Narrativ zusammen gedichtet. Und die Verschwörungsfabel QAnon zum neuen Sortierschema, welche das Geschehen im globalen Irrenhaus ‘sinnvoll’ einordnen soll, erklärt. Der Verschwörungsexperte Michael Butter erklärt sich solche Verhaltensweisen durch das urmenschliche Bedürfnis, aus losen Einzelheiten Muster zu bilden und Kausalzusammenhänge herzustellen. Auch wenn diese oft gar nicht existieren. Außerdem tendieren wir häufig dazu, Informationen danach auszuwählen, was in das eigene Weltbild passt. Alles andere wird einfach ausgeblendet.

Interessant dabei ist, dass eine solch selektive Wahrnehmung auch den Wissenschaften nicht völlig fremd ist. Auch eine wissenschaftliche Theorie beruht auf Annahmen, die teilweise bestimmte Aspekte bewusst ausblenden. Ein Unterschied besteht jedoch, wenn Fakten oder Hinweise auftauchen, die die Theorie widerlegen können. Denn das kann und soll sogar so sein: Eine Theorie muss widerlegbar sein. Alles andere, so der Philosoph Karl Popper, einer der wichtigsten Vertreter der Erkenntnistheorie, könne man nicht als Theorie bezeichnen. Wohl eher als Ideologie. Verschwörungstheorien nutzen demnach Argumente, die gegen eine wissenschaftliche Theorie sprechen. So verwendet Donald Trump beispielsweise gerne und oft die Floskel  „A lot of people are saying …“, um über konspirative Ideen zu sprechen. So haben die amerikanischen Wissenschaftler Nancy Rosenblum und Russell Muirhead aus Princeton auch ihre Studie genannt, in der sie Trumps Technik als „conspiracy without theory“ beschreiben, also als Verschwörung ohne Theorie. Das heißt: Es gibt nur noch die Behauptung, keine Herleitung mehr und schon gar keine Belege. Das, was nach ihrer Logik bewiesen werden kann, wird als Wahrheit bezeichnet. Die empirische Wissenschaft hingegen geht nur so lange davon aus, dass etwas wahr ist, bis es falsifiziert, also widerlegt wurde. Die Gravitation beispielsweise, konnte bisher niemand beweisen. Widerlegen konnte sie allerdings auch noch keiner. Daher ist und bleibt sie eine aktuell gültige Theorie. Lange Rede, kurzer Sinn: eigentlich sollten wir Verschwörungstheorien gar nicht erst als solche bezeichnen. Auf diese Weise sprechen wir ihnen etwas zu, das ihnen eigentlich gar nicht zuteil werden sollte – nämlich den Anspruch einer Theorie gerecht zu werden. Thomas Assheuer verwendet beispielsweise in dem ZEIT Artikel stellenweise den Begriff “Verschwörungsnarrative” als Alternative, nehme ich an.


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Ein weiterer Grund, weshalb wir vielleicht eine Hochkonjunktur der Verschwörungsgeschichten erleben, könnte auch an der wachsenden Geschwindigkeit ihrer medialen Verbreitung liegen. Man kann beobachten, wie unfassbar schnell sie heute im Netz kursieren und wie schwer sie sich eindämmen lassen. Eine lange „Beweisführung“ scheint wohl einfach nicht zum Charakter der sozialen Medien zu passen, wo weder Platz noch Zeit für so etwas ist. Die Theorie wird hier zum Verschwörungsgerücht verkürzt. Viele beginnen mit der Frage: “cui bono”, also, wem nützt das? Danach werden atemberaubende Indizienketten rückwärts gesponnen. Ganze Forschungsprojekte, so Michael Butter, zeichnen die Wege nach, auf denen Verschwörungsideologien von einem Twitter-Account zum nächsten wandern, ganz ähnlich wie bei der Rekonstruktion einer Ansteckungskette. Widersprüche untereinander scheinen Menschen, die solche Ideen vertreten, allerdings eher selten zu irritieren. Wichtiger ist, dass die Geschichten der sogenannten „offiziellen“ Version der breiten Mitte entgegenstehen. Immer wieder werden neue Vorfälle in den vorhandenen Rahmen eingebettet, sodass er zur gesamten Verschwörungserzählung passt. Besonders eindrücklich ist auch das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2012, nach der die Wahrscheinlichkeit, an eine Verschwörungstheorie zu glauben, wenn man auch an andere Verschwörungstheorien glaubt, deutlich steigt. Wer demnach beispielsweise offen für Impffantasien ist, könnte sich potentiell auch von QAnon Gedanken inspiriert fühlen. Der gemeinsame Kern ist ein grundsätzliches Misstrauen, das sich stets gegen bestimmte Menschen oder Gruppen richtet. Ob Bill Gates, China, die “Wirtschaftseliten” – die Bestätigung eines Feindbildes machen sie besonders attraktiv. Denn es ist leichter, anzunehmen, dass eine bestimmte Gruppe hinter dem Übel der Welt steckt, als zu akzeptieren, dass auch grundlos Übel in der Welt existiert. Die Verschwörung schafft einen Sündenbock, der auch die Gläubigen selbst entlastet. Die Rollen sind klar verteilt. Zudem bringt ein Feindbild immer auch die Hoffnung mit sich, dass die “Bösen” eines Tages zu besiegen seien. 

Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie damit umgehen? Wie begegnet man Menschen, die an solche teilweise obskuren Verstrickungen glauben? Was, wenn sogar Freunde oder  Familienmitglieder sich für Verschwörungsideen öffnen? Und wir diese uns nahestehenden Personen nicht einfach ignorieren oder als “Spinner” abtun können und wollen. 

Es gibt eine Reihe empirischer Studien, die zeigen, dass solche Menschen noch fester an ihre vermeintlichen “Theorien” glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Die Konstruktionen sind, wie wir von Nietzsche wissen, wichtig für ihr Selbstbild. Gegenargumente bringen ihre Identität ins Wanken, weshalb sie Belege gegen die Verschwörung in Belege für sich selbst umwandeln. Aus diesem Grund sind Verschwörungsgeschichten auch so schwer zu widerlegen, weil jeder, der es versucht, sogleich in den Verdacht gerät, selbst Teil dieser Verschwörung zu sein. Mit Fakten allein kommt man da selten weiter. Weshalb Verschwörungsexperte Michael Butter stattdessen empfiehlt, lieber Fragen zu stellen. zum Beispiel nach der Glaubwürdigkeit der Quellen oder nach Widersprüchen. Zudem spricht er sich dafür aus, dass eher aufgeklärt, als nachträglich zensiert oder gelöscht werden sollte.  Sprich, dass wir sachlich darüber informieren, wie Verschwörungstheorien aufgebaut sind, wie sie argumentieren, welche Muster sich erkennen lassen. Auf der Website der Europäischen Kommission ist beispielsweise ein ausführlicher Leitfaden zu finden. Diesem zufolge sollte man sich die drei folgenden Fragen stellen, wenn man die Vermutung hat mit einer einer Verschwörung konfrontiert zu sein: Erstens, ist die “Theorie” widerlegbar? Zweitens, gibt es Argumente, die mich vom Gegenteil überzeugen würden? Drittens, stehen die Annahmen in grundsätzlicher Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Gesetzen? Lässt sich mindestens eine dieser Fragen mit „nein“ beantworten, ist man womöglich einer Verschwörung auf der Spur.  

Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch das Recht darauf, seine Meinung zu äußern und zu vertreten, und sei es eine Abwegige. Aber nicht jede Meinung muss millionenfach verbreitet und diskutiert werden. Und, wenn doch, dann sollten wir zumindest unsere Wortwahl beachten. Ein Herunterspielen, in die Lächerlichkeitziehen oder Anfeinden von Verschwörungsgläubigen zieht den Graben vermutlich nur noch breiter. Lässt diese Menschen gar noch mehr von ihren Ideen überzeugt sein. Weil sie ihnen einen gewissen Halt in ihrer Angst geben, den sie sich nicht so schnell nehmen lassen. Wer schon einmal versucht hat einen solchen Menschen von einer anderen Realität zu überzeugen, weiß wovon ich spreche. Es ist ein wenig zum Haare raufen. Jedes Argument, das man anbringt, scheint einem im Munde verkehrt zu werden und sich gegen einen selbst zu richten. Die Europäischen Kommission empfiehlt dennoch das offene Gespräch zu suchen und insbesondere detaillierte Fragen zu den vermeintlichen “Theorien” zu stellen, um eine Selbstreflexion anzuregen. Man solle behutsam vorgehen und eine Vielzahl von Quellen rund um das Thema nennen. Einfühlungsvermögen zeigen, auch, wenn es schwer fällt. Und keinen Druck ausüben. Dann kann es gelingen. Dass das Gegenüber die wild konstruierte Realität zugunsten der “allgemein anerkannten Wirklichkeit” aufgibt. Und nicht zuletzt kann es natürlich nicht nur ein individuelles Aufeinanderzugehen sein, sondern es sollte zugleich auch auf systemischer Ebene dafür gesorgt werden, dass Menschen gar nicht erst das Bedürfnis verspüren, sich in derlei Phantasien, die zum Teil Menschenleben und Demokratie gefährden, flüchten. Bereits Leo Löwenthal fragte sich damals, ob, wie er es ausdrückte, “die Verrückten eine Unvernunft in den Verhältnissen [spüren], die jene, die in der kapitalistischen Tretmühle gefangen sind, nicht spüren?” Natürlich heißt das nicht, dass jede Angst und Sorge rational begründbar ist – oft ist wohl eher der Gegenteil der Fall – und es rechtfertigt auch nicht das zum Teil menschenfeindliche Gedankengut einiger Anhänger:innen. Nichtsdestotrotz können und sollten die Ängste dieser Menschen nicht bloß abgetan werden, sondern können ein weiteres Argument dafür bieten, den Status quo immer wieder in Frage zu stellen. In welcher Gesellschaft wir aktuell leben und zukünftig leben wollen. Was Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit beispielsweise für uns bedeuten. Und, wie wir zu einem Miteinander beitragen können, das auf Mitgefühl und nicht auf Konkurrenz baut. Wie Nietzsche sagt, der Mensch ist ein “gewaltiges Baugenie”. Was auch bedeutet, dass er neue Realitäten erschaffen kann. Und im besten Fall sind das geteilte Narrative lebenswerter Zukünfte, in denen sich möglichst viele Menschen wiederfinden können.      


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch diese Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Werbeeinbindungen und nur solche, die wir mit gutem Gewissen vertreten können, werden übrigens eine absolute Ausnahme im Podcast bleiben. Solange Sinneswandel allerdings finanziell noch nicht auf festen Beinen steht, hoffen wir auf euer Verständnis. Wenn ihr uns als Fördermitglieder unterstützen wollt, dann freuen wir uns natürlich. Ganz einfach geht das via Steady oder Paypal.me/sinneswandelpodcast. In den Shownotes ist wie immer alles verlinkt. Auch alle Quellen zum Nachlesen. Vielen Dank fürs Zuhören und bis ganz bald.

29. Oktober 2020

Elisabeth von Thadden: Vereinsamen wir unfreiwillig?

von Marilena 15. Oktober 2020

Abstand wahren, Kontakte einschränken, Körperkontakt vermeiden. Gerade die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf unser Miteinander, hat uns zwei Dinge vor Augen geführt: Ersten, wie wichtig und überlebensnotwendig Berührungen für uns Menschen sind. Und zweitens, wie verletzbar wir doch als leiblichen Wesen sind. Sehnsucht nach Abstand. Angst vor Einsamkeit. Diese Ambivalenz scheint dem Bedürfnis nach Nähe und Berührung innezuwohnen – aber, was bedeutet das für den Menschen?

In Ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ stellt sich die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth von Thadden eben diese Frage. Und versucht zu ergründen, wie individuelle Freiheiten, der Wunsch nach Nähe, Solidarität und gesellschaftliches Miteinander in einer immer schnelllebigeren Welt miteinander vereinbar sind.

Shownotes:
► Die berührungslose Gesellschaft von Elisabeth von Thadden. Erschienen 2018 im C.H.Beck Verlag.
► Elisabeth von Thadden ist verantwortliche Redakteurin des Feuilleton der ZEIT und schreibt hier.

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15. Oktober 2020

Ich poste, also bin ich? Instagram und das Selbst

von Marilena 1. Oktober 2020

‘Identität’ ist die Antwort auf die Frage “Wer bin ich”. Es ist der Prozess der Seins-Werdung, um seinen Platz in der Welt zu finden, der so bezeichnend ist für uns Menschen. In den hiesigen Zeiten wird diese Entwicklung nicht unwesentlich von den sozialen Medien mitbestimmt und beeinflusst. Sie stellen uns gewissermaßen eine Plattform, ja eine Bühne zur Selbstinszenierung bereit. Auf der wir uns nach Lust und Laune austoben und unsere Identität oder viel mehr Identitäten formen können. Gelingt dieser Prozess, so erhalten wir Likes, gelten als ‘authentisch’ – zumindest von außen betrachtet. Denn ohne den Blick der anderen, ohne Publikum, kann die Inszenierung auf Instagram und Co. gar nicht gelingen. Sie bleibt ungesehen, unvollständig. Ich poste, also bin ich.

Shownotes:
► Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts
► Erik H. Erikson: Das Stufenmodell
► Erving Goffman: Wir alle spielen Theater
► Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten
►Geschichte Instagrams Quellen: Basic thinking Blog, Promodeo, Wikipedia

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Transkript: Ich poste, also bin ich? Instagram und das Selbst

‘Identität’ ist die Antwort auf die Frage “Wer bin ich”. Es ist der Prozess der Seins-Werdung, um seinen Platz in der Welt zu finden, der so bezeichnend ist für uns Menschen. In den hiesigen Zeiten wird diese Entwicklung nicht unwesentlich von den sozialen Medien mitbestimmt und beeinflusst. Sie stellen uns gewissermaßen eine Plattform, ja eine Bühne zur Selbstinszenierung bereit. Auf der wir uns nach Lust und Laune austoben und unsere Identität oder viel mehr Identitäten formen können. Gelingt dieser Prozess, so erhalten wir Likes, gelten als ‘authentisch’ – zumindest von außen betrachtet. Denn ohne den Blick der anderen, ohne Publikum, kann die Inszenierung auf Instagram und Co. gar nicht gelingen. Sie bleibt ungesehen, unvollständig. Ich poste, also bin ich. Wirklich? Welchen Einfluss haben soziale Medien und insbesondere Instagram als eine beliebte Plattform der Inszenierung, auf die Seinsbildung und -werdung, auf unsere Identitätskonstruktion? Mit dieser Frage wollen wir uns heute gedanklich befassen. Aus einer philosophischen, psychologischen aber auch aus einer persönlichen Sicht Warte heraus. Denn um die komme ich, als aktive Nutzerin der Plattform gewiss nicht umhin. Und ist mit Sicherheit auch einer der Gründe, weshalb mich diese Frage selbst beschäftigt und bewegt.

Bevor wir allerdings beginnen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren und Produzieren des Podcast stecke ich nicht nur viel Zeit sondern auch Geld. Und es wäre schön, wenn der Podcast eines Tages auf stabilen Beinen stünde. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr mir die werbefreie Produktion des Podcast. Außerdem nehmt ihr automatisch an Buchverlosungen teil. Wie ihr Mitglied werdet und teilnehmt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude beim Lauschen.


Ich spaziere gedankenverloren durch die Straßen. Beginne leise vor mich hinzusummen: “Well, if you want to sing out, sing out. And if you want to be free, be free. ‚Cause there’s a million things to be. You know that there are.” Plötzlich entdecke ich zwei Augen, die auf mich gerichtet sind. Die Augen eines Andern. Die mich neugierig mustern. Mich ungefragt aus meinem ‘an sich’ Sein herauskatapultieren und mich bewusst werden lassen, dass ich nicht alleine bin. Ich fühle mich irgendwie ertappt und seltsam beschämt.

In dem Moment, in dem mich ein anderer Mensch erblickt, werde ich meiner selbst bewusst. Ich bin Objekt für einen Andern, der selbst Subjekt ist. Denn indem der Andere mich als einen Gegenstand wahrnimmt, beraubt er mich im selben Moment meiner Subjektivität. Mein Wesen wird im Blick des Andern geschaffen, doch mein Sein ist von ihm abhängig, durch ihn bestimmt. Ich bin nicht ‘an sich’, denn ich bin mehr als nur gegenständlich, und nicht ‘für sich’, denn ich bin nur, insofern ich ‘für andere’ bin. Ich bin mein eigenes Nichts. So lautet die These des Philosophen und Existenzialisten Jean-Paul Sartre in seinem Werk Das Sein und das Nichts. Erst im Blick des Andern erkenn ich mich selbst, werde mir meiner Existenz bewusst. Und zugleich, in diesem Moment der Freiheit, geht mir meine Identität verlust, da sie gebunden ist an die Wahrnehmung des Anderen. Zugleich ermöglicht mir der Vorgang des Betrachtet-werdens, mich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen. Die begrenzte Welt meiner Selbstwahrnehmung zu verlassen und neue Einsichten über die Möglichkeiten meines Seins zu erlangen. Es scheint also eine Ambivalenz in diesem Verhältnis zu liegen. Etwas Befreiendes, wie auch etwas Beschneidendes. Wir sind auf die Wahrnehmung der Anderen angewiesen und zugleich berauben sie uns ein Stück weit unsere Illusion dessen, wer wir glauben zu sein.

‘Identität’ ist die Antwort auf die Frage “Wer bin ich”, behauptet der dänische Psychoanalytiker Erik Erikson, ein Schüler Sigmund Freuds. Es ist der Prozess der Seins-Werdung, um seinen Platz in der Welt zu finden, der so bezeichnend ist für uns Menschen. In seinem “Stufenmodell” beschreibt Erikson die Gesamtheit aller psychosozialen Entwicklungen des Menschen, die sich im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen und Wünschen als Individuum und den sich im Laufe der Entwicklung permanent verändernden Anforderungen der sozialen Umwelt entfaltet. Die Konstruktionsleistung der Identität wird als Passung von innerer und äußerer Welt verstanden, die im Fall des Gelingens als kohärent, also als stimmig erlebt wird. 

Wenn Sartre also behauptet, der Mensch sei dazu verurteilt, sich selbst zu wählen, sich also eine Existenz zu geben, dann ist dieser Prozess der Identitätsbildung allerdings nicht unabhängig von der ihn umgebenden Umwelt zu betrachten. Ist diese nicht gar konstitutiv für das Menschsein? So lautet zumindest die These des Philosophen und Gesellschaftstheoretikers Karl Marx. Individualität ist für ihne eine Form von Sozialität. So besteht immer eine Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt. Beides bedingt sich gegenseitig. Im Prozess der Selbstwerdung gestaltet das Individuum die Welt und wird zugleich von ihr gestaltet. Wir können uns also nicht komplett frei selbst erfinden, sondern müssen immer zugleich mit dem arbeiten, was wir vorfinden. Was mitunter kein bewusster, sondern zumeist ein unbewusster Prozess ist. Bei Identitätsarbeit geht es also nicht um ein Entweder-Oder, sondern es ist als ein integrativer Prozess zu verstehen, eine Passung zwischen Innen- und Außenwelt. Damit beinhaltet er, wie es bereits bei Sartre anklingt, befreiende wie ‘entfremdende’ Elemente. 

Denn als soziale Wesen bleibt uns gewissermaßen nichts anderes übrig, als uns bis zu einem gewissen Grad gesellschaftlichen Erwartungen zu beugen. Zumindest, wenn wir innerhalb dieser anerkannt werden wollen. Und das trifft wohl auf die meisten von uns zu. Um diesen unterschiedlichen, zum Teil sogar widersprüchlichen Erwartungen gerecht zu werden, eignen wir uns Rollen an. Wir spielen gewissermaßen Theater. So bezeichnet es der kanadische Soziologe Erving Goffman. Für ihn gleicht die soziale Welt einer großen Bühne. Und wir alle spielen in der Interaktion mit anderen eine Rolle. Diese Rolle haben wir zuvor auf der “Hinterbühne” – einem Ort, der den anderen natürlich nicht zugänglich ist – gut eingeübt. Präsentiert wird sie dann auf der “Vorderbühne”. Nach Goffman haben wir alle verschiedene Rollen, die wir in unterschiedlichen Situationen spielen, als Repertoire auf dem Kasten. Wie auch im Theater, liegt es zu großen Teilen am Publikum, zu entscheiden, ob die Inszenierung gelingt oder nicht. Ob sie ‘authentisch’ wirkt oder bloß aufgesetzt, wie eine Maske. Das gilt selbst für den Schauspieler oder die Schauspielerin, die natürlich von der von ihr dargestellten Rolle verschieden ist, sich aber dennoch mit ihrem ‘Selbst’ einbringen kann. Sodass die Rolle einen Hauch ihrer Persönlichkeit abbekommt und nicht wie ein übergestülptes, leeres Kostüm wirkt.

Dieser Wunsch nach ‘Authentizität’, nach Übereinstimmung zwischen dem im Außen präsentierten Selbst und dem eigens empfundenen Ich, lässt sich nicht nur im Theater beobachten, sondern seit einiger Zeit auch im Internet. In den Sozialen Medien, könnte man sagen, wird das Theaterspiel, die Inszenierung des Selbst auf die Spitze, ad absurdum getrieben. Plattformen, wie Facebook, Instagram und LinkedIn, öffnen Räume oder, um in der Bildsprache zu bleiben, öffnen uns Bühnen, auf denen wir uns nicht nur inszenieren sondern auch selbst konstruieren können. Auf eine Weise, die von der Selbstgestaltung im analogen Raum noch einmal verschieden ist oder zumindest Besonderheiten aufweist. Und die vor allem, wie es mir scheint, auch einen nicht wegzudiskutierenden Einfluss auf die Identitätsbildung ausübt. Da jede soziale Plattform, von Facebook über Twitter und Co. unterschiedliche Voraussetzungen mit sich bringt und damit auch andere Auswirkungen auf uns hat, kann und möchte ich in dieser Episode lediglich auf Instagram eingehen. Zum einen, da mir diese Plattform vermutlich selbst am vertrautesten ist und zum anderen, da ich meine in ihr ein besonders hohes Maß an Einfluss auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung erkennen zu können.

Bevor ich meine Thesen in den Raum stellen möchte, vielleicht vorab ein paar Worte zur Geschichte von Instagram und wie alles begann: Es waren einmal zwei junge, dynamische ‘Dudes’ in den USA, namens Kevin Systrom und Mike Krieger, die beide schon früh ihre Leidenschaft für das Programmieren und Entwickeln von Software entdeckt hatten. Außerdem waren sie der festen Überzeugung, dass das Teilen von Fotos mit Freunden zu lange dauere und zu umständlich sei. Und zack war die Idee von Instagram geboren. Für alle, die sich schon immer gefragt haben, was der Name eigentlich bedeutet: er setzt sich aus den zwei Begriffen “instant”, also “sofort” und “telegram”, was etwa so viel wie Nachricht bedeutet, zusammen. Aber weiter in der Geschichte: Nach einigen Stunden der Tüftelei schreiben wir nun den 6. Oktober 2010. Den Tag, an dem Instagram live ging. Bereits zwei Jahre später zählte die App bereits 100 Millionen aktive Nutzer:innen. Ihr Konzept schien also aufgegangen. Kevin und Mike waren scheinbar nicht die einzigen, die gerne Fotos mit Bekannten teilten. Das Potential von Instagram hat, wie vermutlich den meisten bekannt ist, kein geringerer als Mark Zuckerberg ziemlich schnell gerochen. Für satte 1 Milliarden US-Dollar wurde Facebook im April 2012 also zum neuen, stolzen Eigentümer der Foto-App. Die zu diesem Zeitpunkt übrigens gerade einmal 12 Mitarbeiter:innen beschäftigte. In der Hand von Zuckerberg wurde Instagram dann auch schnell eine neue Datenschutzerklärung verpasst, die, wie nicht anders zu erwarten war, das Abgreifen von Nutzer:innen-Daten erleichtert. Das war aber natürlich nicht die einzige Änderung: 2013 wird es zusätzlich möglich Werbung auf Instagram zu schalten, über deren Erträge die App sich bis heute finanziert oder besser gesagt dumm und dämlich verdient. Angeblich lag der Umsatz durch Werbeeinnahmen bei sage und schreibe 20 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr, also 2019. Aber blicken wir noch einmal ein paar Jahre zurück: 2016 wird der Algorithmus eingeführt sowie Instagram Stories. Während sich anfangs noch viele fragen, welchen Sinn diese Story-Funktion habe, da es doch bereits Snapchat gibt – eine App, auf der man Bilder und Videos für einen begrenzten Zeitraum von 24 Stunden hochladen kann – stellt sich diese Frage heute angesichts deren Beliebtheit kaum noch. Heute sind es bereits mehr als eine Milliarde aktiver Nutzer:innen pro Monat, die sich in der App austoben. Von denen sind rund 60% im Alter zwischen 18 und 24. Die Person mit der größten Reichweite auf Instagram ist übrigens der Fußballer Cristiano Ronaldo, mit sage und schreibe 230 Millionen Followern. Wenn man überlegt, dass die USA rund 328 Millionen Einwohner zählt (Stand 2019), ist das ein ziemlich gewaltiges Publikum. Interessanterweise sind rund 9% der Profile auf Instagram reine Fake-Accounts, also fast jedes 10. Profil. Und, um das beliebteste Lebensmittel, das auf Instagram am häufigsten geteilt wird noch zu nennen: es ist Pizza, gefolgt von Sushi. Wer hätte das gedacht – ein außergewöhnlicher Geschmack.

Angesichts dieses rasanten Wachstums, lässt sich fragen: Was macht die App eigentlich so attraktiv? Und, welche Auswirkungen hat sie auf unser Verhalten? Insbesondere auf unsere Selbstwahrnehmung. Denn kaum eine Plattform, wie Instagram, hat die Inszenierung und Vermarktung der eigenen Person so publik gemacht. Schon lange ist die App zum Teilen von Fotos mit Freunden nicht mehr ein privates, digitales Fotoalbum – zumindest für die wenigsten – sondern vielmehr ein Tool, um sich selbst und die eigene Marke, auch, wenn man gar kein Unternehmen im klassischen Sinne führt, in Szene zu setzen. Doch wer glaubt, die Inszenierung funktioniere nur über ‘Selfies’, der täuscht sich. Nicht nur das eigene ‘Körperkapital’ lässt sich auf Instagram vermarkten, indem beispielsweise Likes für den Adoniskörper oder für das hippe Outfit gesammelt werden. Das ganze Leben wird zur Inszenierung – oft unbewusst. Der Soziologe Andreas Reckwitz nennt dieses Phänomen “Singularisierung”. Damit meint er den Prozess, in welchem sich kulturelle Güter angeeignet werden und zur Darstellung der eigenen Persönlichkeit, der Einzigartigkeit verwendet werden. Im Prinzip kann alles, nicht nur Objekte, sondern auch Erlebnisse, wie Reisen oder der Musikgeschmack einen zum Besonderen erheben. Und wo, wenn nicht in den sozialen Medien, auf Instagram, könnte man diese Auswahl an Singularitäten besonders gut inszenieren?! Wir kuratieren unser Leben und präsentieren das Kunstwerk zur Valorisierung unseren Follower:innen. Denn ohne deren Urteil wäre unsere Kuration ja im Prinzip nutzlos. Sie dient ja gerade dazu, sich abzusondern und zugleich sein Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsgruppe zu kennzeichnen. Ich poste, also bin ich. 

“Wenn ein einzelner vor anderen erscheint, stellt er bewußt oder unbewußt eine Situation dar, und eine Konzeption seiner selbst ist wichtiger Bestandteil dieser Darstellung“ (Goffman 1998, 285). So beschreibt es Erving Goffman in “Wir alle spielen Theater”. Das geschieht natürlich nicht nur im Netz, sondern auch im Analogen und scheint allzu menschlich zu sein. Nach Goffman arbeiten wir aktiv an der Entwicklung unseres eigenen Selbstbilds mit. Das Selbstkonzept wird dann allerdings zum größten Teil über das Fremdbild konstruiert. Insbesondere durch die eigenen Erwartungen darüber, was wir glauben, was andere Menschen über uns denken. Wir stehen also vor der doppelten Herausforderung, einerseits den sozialen Anschluss finden zu wollen, andererseits aber nur dann anerkannter Teil sozialer Interaktionen werden, wenn es uns gelingt, unsere Originalität hervorzuheben. Ganz schön knifflig! Vor allem, da sich unsere aktuelle gesellschaftliche Situation durch Prozesse wie der Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung auszeichnet, was wiederum mit dem Verlust traditioneller Identitätsmodelle einhergeht. “Schaffe schaffe Häusle baue” war gestern. Stabile Orientierungsangebote sind heute eher limitiert: stattdessen besteht die Notwendigkeit der Konstruktion seiner eigenen Identität: “Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert werden“ (Keupp 2000, 117) schreibt der Sozialpsychologe Heiner Keupp. Identität muss also als eine kreative Eigenleistung des Individuums verstanden werden. Und diese Eigenleistung impliziert Freiheiten, aber eben auch Unsicherheiten. Identität ist nach diesem Verständnis vergleichbar mit einem Projekt, das sich mithilfe von Selbstreflexion ständig verändern lässt, was wiederum die Selbsterzählung und -inszenierung, wie wir sie von Social Media kennen, in den Mittelpunkt rückt. 

Wir erzählen uns auf Instagram Geschichten von uns selbst, wie wir sind oder vielmehr, wie wir gerne wären. Denn eine 1:1 Darstellung unserer Persönlichkeit ist vermutlich unmöglich. Oder wer würde freiwillig seine “dunklen Seiten”, seine Ecken und Kanten dort zur Schau stellen? Und ich meine damit nicht, um hierfür Anerkennung zu erhalten, weil man den Mut hat seine vermeintlichen Makel und Dellen zu offenbaren. Sondern lediglich, um ein möglichst präzises Bild von sich darzustellen. Nein, wir erzählen lieber davon, wer wir gerne wären. Präsentieren uns von unserer ‘Schoko-Seite’ und in den goldenen Stunden. Vollkommen verständlich. Nur entsteht dadurch natürlich ein ziemlich unrealistisches Bild, dem wir niemals gerecht werden können. “Ist doch klar!”, werden einige jetzt rufen. Es sei doch ganz offensichtlich, dass Instagram nur eine Plattform, ein Sammelsurium der ‘guten Momente’ sei. Darüber müsse man sich eben bewusst sein. Leichter gesagt, als getan. Insbesondere für die jüngeren Generationen, die mit Social Media groß werden und denen das Smartphone quasi in die Wiege gelegt wird, scheint das nicht mehr allzu leicht zu trennen zu sein. Es entsteht Druck. Druck, dem Bild gerecht zu werden, das ich selbst erschaffen habe. Weil andere Menschen nun den Eindruck haben, dass ich wirklich so bin. Dass ich immerzu lächle, glücklich und zufrieden bin – Happyland eben. Es existieren bereits einige Studien, die sich mit den Auswirkungen von Social Media auf unsere Psyche beschäftigen. Damit, wie sich unser Welt- und Selbstbild verändert. Denn wer glaubt, soziale Plattformen, wie Instagram und Co. seien doch nur ‘Kinderkram’ und vollkommen harmlos, der irrt. Sie prägen uns massiv. Ob wir wollen oder nicht. Und die wenigsten, insbesondere jungen Menschen, können sich ihnen entziehen. Weil es eben dazugehört dort präsent zu sein. Und einmal dort, werden wir mit Bildern von scheinbar immerzu glücklichen Menschen, von ‘Traumkörpern’ und fetten Karren überschwemmt, die unsere Schönheitsideale und Vorstellungen von ‘guten Leben’ beeinflussen.

Das muss natürlich per se nicht schlecht sein und ein Verteufeln der Plattformen wäre ebenso Unfug. Wir alle inszenieren uns, auch unabhängig von Social Media und den neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Noch lange sind wir nicht persönlichkeitsgestört, weil wir gerne unsere positivsten Seiten zur Schau stellen. Es kommt eben auf die Art der Verwendung ein. So, wie ein Skalpell genutzt werden kann, um einem Menschen das Leben zu retten, so kann es eben auch dazu verwendet werden, Schaden anzurichten oder gar zu töten. Ein bewusster Umgang ist das A und O. Ärgerlich nur, dass dieser bisher eher unzureichend gelehrt und vermittelt wird. Viele Eltern berichten von ihren Unsicherheiten im Umgang mit Social Media. Verbieten können sie ihren Kindern das Liken und Sharen teilweise privater Bilder kaum. Und auch in Schulen wird bisher wenig aufgeklärt.

Dabei können Plattformen, wie Instagram auch positiv genutzt werden. Positiv im Sinne von selbst eine aufklärende Funktion übernehmen. So sind beispielsweise viele gemeinnützige Initiativen und Aktivist:innen, wie FFF auch dort vertreten. Auch, um auf Missstände hinzuweisen, wie es bei #MeToo der Fall war oder bei der Ermordnung des Afro Amerikaners George Floyd, haben soziale Medien Potential. Aber natürlich reicht es nicht aus,  ein schwarzes Viereck mit dem Hashtag #BlackLivesMatter zu posten, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen, etwas getan zu haben. Dies kann und darf wenn überhaupt erst der Anfang sein, der Anstoß, sich selbst mit Themen, wie Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ungerechtigkeit außeinanderzusetzen. Plattformen, wie Instagram können durchaus Bewusstsein schaffen und mobilisieren selbst aktiv zu werden. Nur darf sich eben nicht darauf ausgeruht werden, indem man glaubt, das Posten könne die Teilnahme an einer Demonstration ersetzen. Es braucht beides. 

Indem wir von der Art der Nutzung von Plattformen wie Instagram sprechen, wird auch deutlich, dass, auch, wenn sie in den Händen von übermächtigen, nein viel zu mächtigen Konzernen, wie Facebook liegen, wir sie dennoch mit gestalten können. Instagram lebt von seinen User:innen. Ohne sie wäre die Plattform pleite. Denn irgendwen braucht es ja, der die Werbung, die dort ausgespielt wird, klickt. Und natürlich, um Inhalte zu generieren. Was wir bislang übrigens komplett for free tun. Eigentlich absurd, wenn man sich das mal bewusst vor Augen führt. Uns wird eine Plattform zur Verfügung gestellt und wir befüllen diese umsonst, da es uns als Ort der Selbstkreation und -inszenierung dargestellt wird. Nichtsdestotrotz bleibt es Arbeit. Zeit und Muße, die Menschen in die Kreation dieser Inhalte stecken, ohne welche die Plattform nutzlos wäre. Auch hierüber lohnt es sich vielleicht einmal nachzudenken. Aber zurück zum Punkt der Mitgestaltung. Wir können mitbestimmen. Auch, wenn es einen Algorithmus gibt, der es nicht leichter macht, guten Inhalten eine Reichweite zu geben. Dennoch können wir durch einen bewussten Umgang mit Plattformen wie Instagram Einfluss nehmen. Auf die Gesellschaft und das Weltbild, das nicht starr sondern dynamisch ist. So frage ich mich, wie es beispielsweise immer noch sein kann, dass auf Instagram weibliche Nippel zensiert werden. Gerade in dem großen Einfluss den Social Media ausübt liegt auch das Potential. Es liegt auch an uns, die sozialen Medien kritisch zu hinterfragen und sie nicht einfach nur als Bühne der Inszenierung und Bespaßung zu nutzen. Indem wir Einfluss auf sie ausüben. Eine kritische Distanz zu ihnen einnehmen und einen bewussten Umgang mit ihnen pflegen und vermitteln. Natürlich können weiterhin Selfies und Katzenvideos geteilt werden. Es soll ja schließlich auch Spaß machen. Nur sollten wir uns eben auch bewusst darüber sein, welchen Einfluss wir ausüben, indem wir gewisse Inhalte, Bilder und Geschichten teilen oder auch einfach nur rezipieren. Weil sie unsere Welt und unser miteinander gestalten – bewusst wie unbewusst. 


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch die Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen, Verwandten. Und natürlich würde ich mich besonders freuen, wenn auch ihr als Mitglieder auf Steady einen Sinneswandel möglich macht. Alle Infos dazu findet ihr wie immer in den Shownotes.  Dann hoffentlich bis bald, wenn wir uns wiederhören. Bei Sinneswandel, dem Podcast für persönliche und gesellschaftliche Transformation.

1. Oktober 2020

Rahel Jaeggi: Selbstverwirklichung, (wie) geht das? (Teil 2)

von Marilena 24. September 2020

“Finde dich selbst. Sei wer du bist. Authentisch. Dein wahres Ich.” Man könnte meinen, dies sei das Plädoyer, vielleicht sogar der Imperativ unserer Zeit. Sich selbst zu finden, sein volles Potential zur Entfaltung zu bringen, scheint der Motor geworden zu sein, der viele Menschen antreibt. Weg von der Konformität, den gesellschaftlichen Zwängen, hin zu individualität und Einzigartigkeit. Doch, wenn nun von Entfremdung und Authentizität die Rede ist, so müsste man doch davon ausgehen, dass da etwas ist, von dem einer sich entfremdet hat. So etwas, wie ein Wesenskern, eine Natur des Menschen. Die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi spricht sich gegen diese essentialistische Auffassung aus und entwirft stattdessen ein neues Verständnis von Entfremdung, das ohne den Rückgriff auf einen Wesenskern auskommt.

Shownotes:
► Teil 1 des Interviews mit Rahel Jaeggi.
► Mehr von und über Rahel Jaeggi ist auf der Website der HU Berlin zu lesen.
► Lesenswert: Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems von Rahel Jaeggi, erschienen im Suhrkamp Verlag.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

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24. September 2020

Rahel Jaeggi: Können wir uns selbst finden? (Teil 1)

von Ricarda Manth 22. September 2020

“Finde dich selbst. Sei wer du bist. Authentisch. Dein wahres Ich.” Man könnte meinen, dies sei das Plädoyer, vielleicht sogar der Imperativ unserer Zeit. Sich selbst zu finden, sein volles Potential zur Entfaltung zu bringen, scheint der Motor geworden zu sein, der viele Menschen antreibt. Weg von der Konformität, den gesellschaftlichen Zwängen, hin zu individualität und Einzigartigkeit. Doch, wenn nun von Entfremdung und Authentizität die Rede ist, so müsste man doch davon ausgehen, dass da etwas ist, von dem einer sich entfremdet hat. So etwas, wie ein Wesenskern, eine Natur des Menschen. Die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi spricht sich gegen diese essentialistische Auffassung aus und entwirft stattdessen ein neues Verständnis von Entfremdung, das ohne den Rückgriff auf einen Wesenskern auskommt.

Shownotes:
► Mehr von und über Rahel Jaeggi ist auf der Website der HU Berlin zu lesen.
► Lesenswert: Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems von Rahel Jaeggi, erschienen im Suhrkamp Verlag.

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22. September 2020

Wozu (ein) Sinneswandel? Ein kurzes Intro

von Ricarda Manth 8. September 2020

Der Wandel, so könnte man sagen, ist das verbindende Glied der Fragmente, die sich zu unserem Leben zusammensetzen. Ein dynamischer Prozess, den wir selbst mitgestalten – bewusst wie unbewusst. Der Podcast ist ein Versuch und zugleich ein Wunsch, dazu anzuregen, sich für neue Perspektiven zu öffnen. Der ermutigt, den Status-Quo zu hinterfragen und sich selbst als aktive Zukunftskünstler:in zu begreifen.

SHOWNOTES:

► Episode zum Thema Mitgliederfinanzierung und, weshalb wir uns gegen Werbung entschieden haben

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TRANSKRIPT:

Hallo und herzlich Willkommen zum Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich euch in der allerersten Episode begrüßen zu dürfen.

Ich gebe zu, es ist nicht die erste Episode, die ich im Rahmen des Sinneswandel Podcast aufzeichne. Aber, da der Podcast sich seit seiner Gründung im Oktober 2017 doch sehr gewandelt hat, dachte ich, es sei an der Zeit, eine neue erste Pilotfolge aufzunehmen. In dieser möchte ich kurz erläutern, was das Anliegen von Sinneswandel überhaupt ist, was euch in diesem Podcast erwarten wird und, wie ihr selbst Teil dessen werden könnt.

Vielleicht kurz vorweg zwei, drei Worte zu mir, für alle die ganz neu einsteigen: Mein Name ist, wie bereits gesagt, Marilena und ich habe Ende 2017 diesen Podcast gegründet. Wenn ich nicht an neuen Episoden tüftle, studiere ich Philosophie und Politik. Gelegentlich schreibe ich als freie Autorin Artikel, halte dann und wann Vorträge oder moderiere Panels – kurzum, ich schreibe, rede und denke gerne. Das sollte zu meiner Person vorerst reichen.

Nun zur Frage: Wozu eigentlich (ein) Sinneswandel?

Der Wandel, so könnte man sagen, ist das verbindende Glied der Fragmente, die sich zu unserem Leben zusammensetzen. Ein dynamischer Prozess, den wir selbst mitgestalten – bewusst wie unbewusst. Der Podcast ist ein Versuch und zugleich ein Wunsch, dazu anzuregen, sich für neue Perspektiven zu öffnen. Der ermutigt, den Status-Quo zu hinterfragen und sich selbst als aktive Zukunftskünstler:in zu begreifen. Denn sind es nicht gerade die Künstler:innen, von denen wir uns in diesen manchmal dystopisch anmutenden Zeiten, eine Scheibe abschneiden können sollten? Ähnlich, wie diese sich immer wieder neu auf Prozesse einlassen, deren Ende sie nicht kennen und sich dennoch mutig dieser Situation hingeben, liegt es auch an uns zu lernen, Vertrauen zu finden indem wir uns unseres Gestaltungs- und Handlungspotentials bewusst werden.

Denn “die Zukunft”, die es schon mal gar nicht im Singular gibt, sondern wohl eher Zukünfte, beschreibt keinen festgelegten vordefinierten Ort . Sie ist im Hier und Jetzt, als dass wir mit unseren heutigen Entscheidungen maßgeblich ihren Verlauf  beeinflussen. Der sich jedoch nicht linear fortschreiben lässt, sondern immer wieder die Richtung wechselt. Zukünfte sind menschengemacht, was nicht bedeutet, dass wir alles kontrollieren können, wovon vielleicht einige Unternehmen des Silicon Valley träumen. Einer solchen Hybris möchten wir uns nicht anschließen. Was Sinneswandel bewirken möchte, ist im ersten Schritt Bewusstsein. Indem wir beobachten und beschreiben was wir wahrnehmen. Sodass ein Raum entstehen kann, der eigene Gedanken zulässt. Der Kritik ermöglicht. Denn nur, wenn wir uns über die Art und Weise, wie die Welt gestaltet ist, bewusst sind, können wir eine Haltung dazu einnehmen. Und im nächsten Schritt Einfluss nehmen. Denn wir sind davon überzeugt, dass da noch viel Luft nach oben ist. Wir leben in einer Welt, die weit entfernt davon ist, sozial gerecht zu sein. Unser Umgang mit der Natur, deren Teil wir doch eigentlich sind, richtet uns schon jetzt selbst zugrunde. Der Glaube an ewiges Wachstum, ohne, dass wir uns fragen, was eigentlich wachsen sollte, scheint absurd. Kurzum, wir glaube, es ist an der Zeit, unangenehme Fragen zu stellen: In welcher Welt wir leben wollen? Als Einzelne aber vor allem als Gesellschaft?

Aus diesem Grund sprechen wir im Podcast mit Menschen, die sich in unterschiedlichen Kontexten Gedanken darüber machen, selbst aktiv einen Wandel einfordern oder eigene Konzepte und Ideen kreieren. Darunter sind Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, Aktivist:innen, Philosoph:innen, Autor:innen und Menschen, die sich in keine dieser Kategorien einordnen lassen (wollen). Unser Wunsch ist es, dass die Gespräche mit ihnen zum Mitdenken anregen. Dabei darf und sollte alles hinterfragt werden. Denn einen Anspruch auf “absolute Wahrheit”, den haben auch wir nicht. Darum ist auch der Sinneswandel Podcast in sich ergänzungsbedürftig und verlangt nach der immer wieder aufgenommenen kritischen Deutung. Sie will die Gestalt, in der uns Traditionsbestände gegeben sind, auflösen, ihre Ansprüche hinterfragen, ihre vermeintliche Eindeutigkeit problematisieren. Gegenwart wurzelt in einem „Vergangenen, das nie gegenwärtig war“, schrieb der französische Philosophe Jacques Derrida. Und meint damit die Unmöglichkeit, in der Neubeschreibung zum vollendeten Ausdruck, zur endgültigen Identifizierung zu gelangen. Anders gesagt: Wir freuen uns über Zuhörer:innen, die auch das von uns Hervorgebrachte kritisch hinterfragen und weiterdenken. 

Wenn ich übrigens von “uns oder wir” spreche, dann meine ich damit die Redaktion, die hinter Sinneswandel steht und den Podcast produziert. Denn alleine würde ich das alles nicht wuppen. Die Recherche, Produktion und Nachbereitung von Podcast Episoden kostet nämlich eine ganze Menge Zeit und Energie. Daher bin ich sehr dankbar und froh ein Team aus freien Redakteur:innen und Autor:innen um mich zu haben. Die kommen auch immer mal selbst, z.B. in Form von Kurzessays, im Podcast zu Wort.

Apropos Zeit und Geld, an dieser Stelle möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit (einen) Sinneswandel möglich machen könnt. Wie gesagt, stecken wir in den Podcast nicht nur Zeit sondern auch Geld. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr meinem Team und mir die werbefreie Produktion des Podcast. Außerdem nehmen Steady Unterstützer:innen regelmäßig an Verlosungen von Büchern teil. Wie ihr Fördermitglieder werdet, steht in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Via Paypal könnt ihr uns aber auch einmalig einen Betrag ab 1€ zukommen lassen. Das geht ganz einfach an Paypal.me/SinneswandelPodcast. Zur Mitgliederfinanzierung habe ich zudem eine eigene Episode aufgenommen, in der ich erklärt habe, weshalb wir uns gegen Werbung und für dieses Modell entschieden haben. Auch das habe ich in den Shownotes verlinkt.

Anregungen, Wünsche, Liebesbriefe jederzeit gerne an redaktion@sinneswandel.art. Das war’s ansonsten erstmal von meiner Seite. Ich hoffe, ich konnte euch einen kurzen, ersten Einblick geben, was euch in diesem Format erwarten wird. Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, wir hören uns bald wieder im Sinneswandel Podcast.
8. September 2020
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