Es gibt Dinge die bemerkt man lange Zeit nicht, bevor man zu wenig oder zu viel davon hat. Eines dieser Phänomene ist “die Zeit”. Sie ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Die Luft, die wir atmen. Immer da und doch nicht greifbar. Nur als Jenes, das verrinnt. Vor unseren Augen als Zeiger, die fortlaufend das Ziffernblatt der Uhr umrunden. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde für Stunde. Und das, ganz gleich, ob es uns beliebt oder nicht. Die Zeit lässt sich nicht stoppen, nicht unter Kontrolle bringen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass der Mensch noch keine Technik erfunden hat, die eben dies bewirkt. Doch, wenn sich die Zeit schon nicht kontrollieren lässt, so doch wenigstens der Umgang mit ihr. Man könnte sagen, der moderne Mensch IST Zeit. Er hat sie sich in solchem Maße angeeignet, dass sie Teil seines Selbst geworden ist – oder er Teil von ihr.
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► Alles eine Frage der Zeit: Harald Lesch, Karlheinz A. & Jonas Geißler. oekom Verlag.
► Momo: Michael Ende.
► Ist es radikal, nach Corona lange Ferien zu machen? Teresa Bücker in “Freie Radikale: Die Ideenkolumne” des sz-Magazins.
► 24 Jahre schlafen: Dafür geht unsere Lebenszeit drauf: Stern.de.
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Transkript: Klimakrise, Burn-out- alles eine Frage der Zeit?
„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ So steht es in Michael Endes Kinderbuch Momo.
Es gibt Dinge die bemerkt man lange Zeit nicht, bevor man zu wenig oder zu viel davon hat. Ansonsten kommen sie einem wie das Selbstverständlichste der Welt vor. Eines dieser Phänomene ist “die Zeit”. Sie ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Die Luft, die wir atmen. Immer da und doch nicht greifbar. Nur als Jenes, das verrinnt. Vor unseren Augen als Zeiger, die fortlaufend das Ziffernblatt der Uhr umrunden. Sekunde um Sekunde, Minute, um Minute, Stunde für Stunde. Tag für Tag, Jahr um Jahr. Und das, ganz gleich, ob es uns beliebt oder nicht. Die Zeit lässt sich nicht stoppen. Nicht unter Kontrolle bringen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass der Mensch noch keine Technik erfunden hat, die eben dies bewirkt. Die Zeit, wie in Michael Endes Roman Momo, zum Stoppen bringt. Doch wenn sich die Zeit schon nicht kontrollieren lässt, so doch wenigstens der Umgang mit ihr. Man könnte sagen, der moderne Mensch IST Zeit. Er hat sie sich in solchem Maße angeeignet, internalisiert, dass sie Teil seines Selbst geworden ist – oder er Teil von ihr. Um sie, also die Zeit, unter Kontrolle zu bringen, stehen dem postmodernen Subjekt ein reichhaltiges Repertoire von Strategien zur Verfügung, die es zur Anwendung bringen kann: von Speed-Reading, über One-Day-Delivery, Fast-Food-Ketten, Intermittent-Fasting, bis hin zur akribischen Tagesplanung, To-do-Listen und dem Leistungs-Tracking mittels moderner Technik. All dies gibt den Menschen das Gefühl ihr Leben und damit die verstreichende Zeit, unter Kontrolle zu haben. “Es liegt allein in deiner Hand”, scheint der Zeiger auf der Uhr uns mahnend entgegen zuraunen. Time is money! Oder, wie Seneca einst schrieb: “Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.”
24 Jahre seines Lebens verschläft der durchschnittliche Deutsche angeblich. 12 Jahre sieht er fern – zu Corona-Lockdown-Zeiten sind es vermutlich noch mehr. 374 Tage verbringt der Mensch angeblich wartend – an Ampeln, im Stau, an Flughäfen, in Schlangen, an der Kasse, beim Arzt… Doch wer beurteilt eigentlich, ob diese Zeit sinnvoll oder vergeudet ist? Wer, außer uns selbst, kann diese Bewertung vornehmen? In einer idealen Welt, wäre das vielleicht auch so, in der es uns, wovon Marx schon träumte, frei stünde „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren”. Oder vielleicht auch einfach mal nichts zu tun? Gut, das hätte Marx vielleicht anders gesehen. Aber, was ich damit sagen will, ist: Es ist leider nicht ganz so einfach. Denn Zeit ist leider nicht rein individuell zu betrachten. Sowohl in Bezug darauf, welchen Stellenwert sie für uns einnimmt, als auch, welchen Zugang wir zu ihr besitzen. Genau das ist nämlich immer schon unweigerlich mit dem Zeitgeist, der Gesellschaft und Kultur, in der wir leben, verbunden. Und, oh Wunder, was macht es wohl mit Menschen, die in einer Welt leben, in der Zeit wichtigste und knappste Ressource zugleich ist? Von Effizienz und Optimierungszwang getrieben, eilt das moderne Subjekt von A nach B. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie vielleicht weniger in geografischer Hinsicht, aber doch weiterhin, und sei es zwischen Home-Office Laptop und Kinderzimmer. Es gibt so viel zu tun, zu sehen, zu lesen zu wissen und vor allem so viel, zu dem man seinen Senf hinzugeben könnte. Meinung ist heute alles! Wer keine Meinung hat, hat verloren. Manchmal frage ich mich jedoch, wie ich mir überhaupt eine Meinung bilden soll, wenn alles an mir vorbeirauscht, die Twitter Meldungen nach 3 Sekunden schon veraltet sind und jeden Tag ein neuer Skandal auf dem Titelblatt steht. Wann soll ich die Zeit finden, mir darüber mal wirklich Gedanken zu machen? Mich mal intensiv mit etwas auseinandersetzen? Geschweige denn, mal anderen wirklich zuhören? Eine “Empörungskultur” erlaubt das nicht. Hier zählt nur das ausgesprochene oder ausgeschriebene Wort – möglichst schnell und am besten laut.
“Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat”, schrieb einst der Physiker und Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg. Ich erinnere mich noch, wie zu Anfang des ersten Corona-Lockdowns davon gesprochen wurde, wie viel mehr Zeit uns doch nun zur Verfügung stünde. Und, ach, welch ein Privileg! Was soll man nur mit ihr anstellen? Mit all der überflüssigen Zeit, die doch keinesfalls vergeudet werden durfte. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieser kurze Moment des Zeitwohlstands, der vermutlich auch nur einer sehr sehr kleinen Gruppe von Menschen vergönnt blieb, schnell vorüberging. Heute höre ich zumindest nur noch selten von Menschen auf der Suche nach neuen Hobbys, wie dem Puzzeln, Sauerteigbrot backen oder Stricken. Corona hat eines ganz bestimmt nicht vermehrt, die Zeit. Die Journalistin und Autorin Teresa Bücker schreibt in ihrer Kolumne für das Magazin der Süddeutschen Zeitung: “Der Corona-Bonus, den alle verdienen, ist mehr freie Zeit. Wir brauchen Corona-Sonderurlaub auch nach der Pandemie, damit wir nach einer langen Zeit, in der neben der Arbeit kaum etwas stattfand, wieder spüren können, warum wir auf der Welt sind.” Auch, wenn kritisch zu diskutieren wäre, um wen es sich bei diesem kollektiven “wir”, das Bücker anspricht, handelt, so kann ich mich ihrem Punkt, den sie damit vermutlich setzen will, nicht ganz entziehen. Denn ein Leben, das primär aus Arbeit, genauer gesagt, Lohnarbeit und oft unbezahlter Care-Arbeit besteht, ist ziemlich anstrengend, wenn nicht sogar ermüdend. Hinzu kommt die psychische Belastung der Situation an und für sich. Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft. Was bleibt einem da anderes übrig, als sich voll und ganz der Arbeit hinzugeben? Der nächste Urlaub rückt schließlich eh in immer weitere Ferne.
Mit der Gleichsetzung von Zeit mit Geld verblasste die Bedeutung ökologischer wie kultureller System- und Eigenzeiten immer mehr. “Dafür zahlen nicht nur die heute lebenden Menschen, sondern vor allem die Natur und die künftigen Generationen einen hohen Preis”, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler in dem Buch Alles eine Frage der Zeit, welches just am heutigen Tage erscheint. Er und seine zwei Co-Autoren, Harald Lesch und Jonas Geißler eröffnen darin eine weitere Perspektive auf das Phänomen Zeit, die eigentlich von größter Relevanz für uns alle sein sollte. Nämlich die Frage, wie viel Zeit uns noch bleibt, um unseren Planeten und damit auch die Menschheit zu retten. Sprich, wie viele Jahre oder Jahrzehnte, bleiben uns noch, um die Klimakrise abzuwenden? Um das Schlimmste zu verhindern oder gar das Blatt zu wenden und eine lebenswertere Zukunft zu gestalten? “Klimakrise, Artensterben, Burn-out? Alles eine Frage der Zeit!”, sagt Harald Lesch. “Zeitnot und Hektik prägen unsere Gesellschaft. Gemäß dem Motto »Zeit ist Geld« kämpfen wir gegen alles Langsame, Bedächtige oder Pausierende, oft bis zur Erschöpfung. Dafür zahlt auch die Natur einen hohen Preis: Unsere Nonstop-Gesellschaft forciert die ökologische Krise. Was die Natur in Jahrtausenden erzeugt hat, wird in kürzester Zeit »verwertet«, ja regelrecht verbrannt.” Was es den Autoren zufolge bedarf, ist eine “nachhaltige Zeitkultur”, “in der das Diktat der Verrechnung von Zeit in Geld überwunden ist und wir nicht länger uns und unsere Umwelt verschleißen. [Denn nichts] hat keine Zeit, alles aber hat seine Zeit! Verändern wir unser Verhältnis und Verständnis zur Zeit, dann fördern wir die Zukunftsfähigkeit unserer Lebensformen.” Es ist wirklich an der Zeit, so könnte man sagen!
Ein Blick auf die Politik erweckt jedoch eher den Eindruck, als lebe sie in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum, zu der die existenzielle Dringlichkeit der klimatischen Veränderungen noch nicht vorgedrungen ist. Oder aber, es gilt, was Ernst Ferstl einst schrieb: “An Zeit fehlt es uns vor allem dort, wo es uns am Wollen fehlt.” Nur ist das wiederum der Natur ziemlich einerlei, ob wir wollen oder nicht. Der Klimawandel wird sich weiter vollziehen, wenn wir den Kurs nicht ändern. Und damit ist nicht nur die Umsetzung der Maßnahmen des Pariser Klimaabkommens gemeint, sondern auch das Überdenken unseres Verständnisses von uns Menschen in der Welt und damit auch in der Zeit. Autor und Berater Jonas Geißler empfiehlt dazu folgendes: “Eine gute Möglichkeit, sich selbst auf die Spur zu kommen, ist, statt “Zeit einmal “Leben” zu sagen und zu beobachten, was dann passiert. Unsere Wahrnehmung verändert sich augenblicklich: ›Ich habe kein Leben?‹ ›Ich leide unter Lebensknappheit?‹ ›Ich habe Lebensprobleme?‹ Es wird deutlich, wie unser Denken und Sprechen über die Zeit uns dazu verführt, auf einer bestimmten Ebene zu bleiben und die dahinter liegenden Probleme nicht zu erfassen. Wenn wir sagen: ›Ich habe keine Zeit‹, scheint das etwas zu sein, was außerhalb unserer Verantwortung liegt. Wenn wir sagen: ›Ich habe kein Leben‹, sprechen wir von uns.”
Sicherlich, das Hinterfragen individuellen Zeitverständnisses und -gebrauchs ist ein wichtiger Schritt – dabei belassen sollten wir es jedoch nicht. Ein sehr viel grundsätzlicheres Umdenken, insbesondere auf ökonomischer Ebene sei vonnöten, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler: “Der vom Messen besessene Kapitalismus sieht in der Natur eine endlos verfügbare Ressource, der man sich, ohne sich um die Reproduktion zu kümmern, nach Belieben bedienen kann. Zeit ist aber ebenso wenig eine Ressource wie das Leben selbst. »Ressource« ist sie nur in der ökonomischen Systemlogik. Wir tun gut daran, deshalb auch nur im Rahmen ökonomischer Diskurse der Zeit Ressourcencharakter zuzuschreiben. Geht’s um Zeit in Kultur, Kunst, Politik oder in Bildung und Erziehung, ist die Ressourcenperspektive fehl am Platze. In der Ökonomie muss man Zeit gewinnen, in der Erziehungs- und der Bildungsarbeit, wie auch in der Kunst, Zeit in kreativer Art und Weise verlieren.”
Es gilt also bewusster und zugleich “verschwenderischer” mit Zeit umzugehen. Für einen neuen Zeitwohlstand, der allen zugutekommt, Mensch, wie Natur. Die Zeit dafür ist mehr als reif! Nehmen wir sie uns!
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