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Demokratie

Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

von Ricarda Manth 24. November 2020

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer.

Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als PionierInnen mit 10€ im Monat unterstützen: Anja Schilling, Christian Danner, René Potschka, Bastian Groß, Pascale Röllin, Sebastian Brumm, Wolfgang Brucker, Philip Alexander Scholz, Holger Bunz, Dirk Kleinschmidt, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Robert Kreisch, Martin Stier, Susanne Längrich, Annette Hündling, Deniz Hartmann, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Birgit Schwitalla, Heinrich Ewe, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Daniela Lange und Andreas Tenhagen.

Shownotes:
► Unterstützt die Organisation Ciocia Basia, die ungewollt Schwangeren aus Polen helfen, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen.
► Heinrich Böll Stiftung: Zum Recht auf Abtreibung in Polen.
► Spiegel: Abtreibungen und Frauenbild.
► Zeit Online: Verfassungsgericht verbietet Schwangerschaftsabbruch bei kranken Föten.
► The Guardian: A backlash against a patriarchal culture.
► Zeit Online: Vertraut den Frauen.
► bpb: Die Paragrafen 219 und 218 Strafgesetzbuch machen Deutschland zum Entwicklungsland.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

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Transkript: Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

Die Stimmung ist angespannt. Nur wenige Tage vor dem “Internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” wird sich weltweit auf Aktionen und Proteste vorbereitet. Trotz der schwierigeren Bedingungen versuchen Frauen den öffentlichen Protest in Zeiten von Versammlungs- und Kontaktbeschränkungen zu verteidigen. Denn auch in diesem Jahr gibt es viele Gründe, sich gegen die ökonomische Ungleichheit und gegen männliche, patriarchale Gewalt und Machtverhältnisse aufzulehnen: Ausbeutung, Diskriminierung, fehlende gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit, Bildung, Politik und Gesellschaft, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und Vergewaltigung. Der Körper der Frau als Zielscheibe patriarchaler Politik gehört alles andere, als der Vergangenheit an, wie sich auch anhand der kürzlich in Polen geplanten Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sehen lässt. Auch dort gehen sie auf die Straßen. Es wird vom “Protest der Frauen” gesprochen. Deren schwarze Kleidung zum Symbol des Widerstands wird, in einem Moment, in dem das Recht, als Frau über den eigenen Körper, das eigene Leben entscheiden zu dürfen, noch weiter beschränkt zu werden droht. 

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer. Der heutige Beitrag soll sowohl die Relevanz der Thematik unterstreichen als auch unsere Solidarität mit den Protestierenden in Polen bekunden. Verfasst hat ihn Gastautorin Isabell Leverenz, die sich bereits seit ihrem Studium der Kulturwissenschaften und Psychologie mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Verschränkungen, wie Rassismus und Sexismus befasst. 

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Vielen Dank.


»Wir haben genug«, »mein Körper, meine Entscheidung«, »To jest wojna – das ist Krieg«, heißt es auf zahlreichen Plakaten der Menschen – vorwiegend Frauen – die derzeit zu Zehntausenden in Polen demonstrieren. Mit »Krieg« ist der Krieg des Staates gegen die Körper von Frauen gemeint. Am 22. Oktober 2020 ist in Polen ein neues Gesetz in Kraft getreten, das es ungewollt Schwangeren fast gänzlich verbietet, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Ohnehin schon hatte das katholisch geprägte Land – neben Irland und Malta – eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Europäischen Union. Seit 1993 war in Polen ein Abbruch nur dann legal, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit oder das Leben der Mutter gefährdet, sie Folge einer Straftat ist, oder eine schwere und irreversible Beeinträchtigung des Fötus vorliegt. Mit dem neuen Gesetz gilt letzterer Grund nun als verfassungswidrig. Das heißt: Es zwingt Frauen dazu, ihre Schwangerschaft auch dann fortzuführen, wenn der Fötus entweder unheilbar erkrankt oder nicht lebensfähig ist. Es schränkt damit ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung noch weiter ein. Und – diesen Punkt möchte ich anmerken – das Gesetz adressiert zwar Frauen, betrifft aber in der Praxis Menschen mit Uterus, also auch trans-Männer und Personen mit nicht-binären oder intersexuellen Geschlechteridentitäten. 

Das Verfassungstribunal begegnet mit dem neuen Gesetz dem mit Abstand häufigsten Abtreibungsgrund in Polen: Etwa 95% aller legalen Schwangerschaftsabbrüche erfolgen wegen einer Fehlbildung oder einer schweren Erkrankung des Fötus. Für die regierende rechtskonservative PiS-Partei ein Verstoß gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf Leben. So drängen sowohl die PiS als auch die katholische Kirche schon seit Jahren darauf, das Recht auf Abtreibung weiter einzuschränken. Mit allen Mitteln: Um eine endgültige Durchsetzung des Abtreibungsverbotes zu erwirken, übergingen die Ultra-Konservativen eine parlamentarische Debatte und ließen das Gesetz auf direktem Wege durch das Verfassungstribunal ändern. Ein Tribunal, das sich seit der Justizreform 2015 und 2016 vorrangig aus Abgeordneten der PiS zusammensetzt. Damit wurde es politisiert und seiner Unabhängigkeit beraubt. Aus dem Polnischen übersetzt bedeutet PiS »Recht und Gerechtigkeit«. Welch Ironie. Gerechtigkeit – fragt sich, für wen? Mit dem neuen, de facto totalen Abtreibungsverbot verfügt eine männlich dominierte Instanz über die Rechte von Frauen und nimmt ihnen ihr dahingehendes Selbstbestimmungsrecht.

Trotz der durch die Pandemie herrschenden, erschwerten Protestbedingungen lehnen sich Menschen in ganz Polen vehement gegen die seit nun fast drei Jahrzehnten anhaltende Aberkennung der Rechte von Frauen auf und fordern den Rücktritt der Regierung. Allen voran, sind es insbesondere junge Frauen, die sich empört zeigen. Marta Lempart, eine der Köpfe der polnischen Frauenbewegung, reflektiert die Wucht des Widerstandes; sie sagt: »I think it is a whole backlash against a patriarchal culture, against the patriarchal state, against the fundamentalist religious state, against the state that treats women really badly«. Die Gegenbewegung zielt auf das Patriarchat als Obrigkeit der Kirche, als hierarchisches Gesellschaftssystem und auf das von Männern dominierte soziale System, in dem die Rechte der Frauen offenbar Rechte zweiter Klasse sind. Hiermit unterstreicht die Aktivistin den stark moralisch aufgeladenen Diskurs.

Das Abtreibungsgesetz in Polen greift die Rechte von Frauen an; es diskreditiert ihre körperliche Integrität und ihre Autonomie. Und: Es widerspricht dem weltweit anerkannten Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft. Die Aktivistin Sarah Diehl unterstreicht dies: »Unsere christlich-männlich und technokratisch geprägte Kultur macht aus einer Stärke der Frau, ihrer Gebärfähigkeit, eine Schwäche. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit«. Durch das Abtreibungsverbot werden ungewollt Schwangere in die Illegalität gedrängt – in Polen werden Schwangerschaftsabbrüche jährlich in mehr als 100.000 Fällen illegal durchgeführt. Es geht hier also nicht darum, ob eine Abtreibung stattfindet, sondern vielmehr: wie. Illegale Abbrüche werden zumeist unsachgemäß durchgeführt und sind daher lebensgefährlich für ungewollt Schwangere.

Schon seit Jahren plädieren christliche Fundamentalist:innen und Abgeordnete der PiS-Partei für das totale Abtreibungsverbot. Ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung des Fötus stellt für sie eine Form der »Eugenik« dar, so der genaue Wortlaut. Das neue Gesetz sei somit eine Chance, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu beenden. Die Ultra-Konservativen inszenieren sich hiermit nicht nur als Sprecher:innen von Menschen mit Behinderung, sie greifen gleichermaßen ein Ziel der Interessenpolitik der Frauen- und Behindertenbewegung heraus. Etabliert werden soll mit dem Verbot eine sogenannte »Willkommenskultur für Kinder«, ein Ausdruck, der nicht selten in Wahlprogrammen oder Ansprachen rechtskonservativer Politiker:innen auftaucht. Ich frage mich, kann das ein effektiver Weg sein? Sollte nicht eher auf gesellschaftspolitischer Ebene, anstelle auf individueller Ebene angesetzt werden? Sollten nicht eher mehr Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderung und ihre Familien aufgebaut werden? Sollte nicht eher dem bestehenden Ableismus, also der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, aktiver begegnet werden, damit bestehende, gesellschaftliche Barrieren abgebaut werden können, die letztlich die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit Behinderung maßgeblich beeinflussen? Und weiter: Es scheint mir nicht verwunderlich zu sein, dass jene Männer, die die Gesetze in Polen erlassen – die de facto keine Geburt am eigenen Leib und die Veränderungen im Körper erfahren haben – diesen intensiven Prozess, der nach der Geburt bei weitem nicht abgeschlossen ist, Frauen zumuten, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Als sei dies nun mal die Aufgabe der Frau, das Gebären. Und das nicht selten dazu gehörende körperlich und psychisch erfahrene Leid, eben ihre Bürde, die sie zu (er-)tragen hat. Ihr Leben gegen das des ungeborenen Fötus. Dass sowohl die eigentlich ungewollte Schwangerschaft als auch die Geburt Leid für die Betroffenen bedeuten können  und sie sich bei einer illegalen Abtreibung in Lebensgefahr begeben, scheint dem Ziel der polnischen Regierung, dem »Lebensschutz«, wie sie es ironischerweise bezeichnen, offenbar nicht zu entsprechen. 

Grundsätzlich halte ich  das Thema Abtreibung für eines, das im gesellschaftlichen Diskurs unmittelbar mit Trauer, Scham und Trauma verbunden wird. Es wird angenommen, dass Schwangere auf ihren Abbruch ausschließlich mit negativen Gefühlen reagieren. Bis auf wenige empowernde Ausnahmen – wie etwa die britische Fernsehserie »Sex Education« oder das Filmdrama »Niemals, Selten, Manchmal, Immer« – vermitteln Filme und Serien ein zumeist eindimensionales Bild: Die weiße junge cis-Frau, eingebettet in ein Schuld- und Schamnarrativ; also voller Zweifel und Schuldgefühle, sich fragend, ob der Eingriff die richtige Entscheidung war. Sozialwissenschaftliche Befragungen belegen jedoch das Gegenteil: Wenn ungewollt Schwangere die Chance auf eine Abtreibung haben, lassen sich ihre Gefühle nicht ausschließlich auf Trauer und Scham reduzieren; viele fühlen sich vor allem erleichtert und sind sich sicher, die für sich richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ein Schwangerschaftsabbruch ist mit Nichten gleichzusetzen mit einem Zahnarztbesuch, jedoch sollte in dem medialen Diskurs um Abtreibung berücksichtigt werden, dass Betroffene unterschiedlich mit ihren Erfahrungen umgehen. Eine differenzierte Betrachtung sollte dementsprechend auch in der Öffentlichkeit stattfinden – denn diese prägt massiv unser Denken.    

In nur wenigen Ländern gelten Schwangerschaftsabbrüche nicht als Straftat. Kanada etwa gilt als das Vorzeigebeispiel für einen liberalen Umgang mit dem Thema Abtreibung; es handelt sich hier um eine ärztliche Behandlung, die keiner staatlichen Einmischung bedarf.      In Deutschland werden Abtreibungen zwar unter bestimmten Voraussetzungen geduldet, sind aber gesetzlich als Straftat verankert. Der gesellschaftliche und politische Umgang mit dem Thema zeigt, dass Europa, so wie es sich gerne inszeniert, als Vorreiterin der Welt und als Hort der Geschlechteregalität, nicht so progressiv ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Um der Misslage in Polen zu begegnen, hilft die durch Spenden finanzierte Berliner Initiative Ciocia Basia ungewollt Schwangeren aus dem Nachbarland, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen. Das macht deutlich, wie dringlich die Situation für viele Betroffene ist. Die jungen Aktivist:innen in Polen rufen immer wieder »Solidarität ist unsere Waffe«. Deshalb halte ich es für wichtig, Organisationen wie Ciocia Basia, Pro-Choice-Bündnisse oder Initiativen für sexuelle Selbstbestimmung zu unterstützen. Vor allen Dingen aber ist ein gesellschaftliches Umdenken unabdingbar. »Trust women«, lautet einer der Slogan der US-amerikanischen Pro-Choice-Bewegung, angelehnt an den Abtreibungsarzt George Tiller. Er war es, der auf das frauenfeindliche Denken hinter den Abtreibungsverboten- und Debatten aufmerksam machte. Ginge es um die Sexualität und die Gebärfähigkeit, mangele es an Vertrauen gegenüber Frauen, weshalb Staat und Gesellschaft über sie und ihren Körper verfügen möchten, sobald sie schwanger werden. Was jedoch völlig fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass ungewollt Schwangere die kompetentesten Expertinnen in dieser Situation sind. Dass sie in der Lage sind, die Konsequenzen einer Mutterschaft, die nur sie tragen müssen, zu überblicken. Was fehlt, ist ein Raum, der sogenannte Tabuthemen wie Abtreibung, Fehlgeburten oder postnatale Depression anerkennt und damit sensibel verhandelbar macht. Ein Raum, der eine Schwangerschaft, die Mutterschaft oder Elternschaft von ihrem einseitigen Narrativ, dem als puren Glückszustand, löst. Es braucht mehr Information, mehr Dialog, mehr Verständnis und vor Allem braucht es mehr Autonomie für ungewollt Schwangere. 


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos sowie Quellen, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.


24. November 2020

Erik Marquardt: Kann Solidarität grenzenlos sein?

von Ricarda Manth 12. November 2020

Grenzen – sie bilden nicht nur geographische Flächen Trennlinien. Sie finden sich auch in unseren Köpfen wieder. Als Konstruktionen, als ordnungsschaffende Elemente, die eine pluralisierte Welt hoffen vor dem Zerbersten zu bewahren. Grenzen schaffen Sicherheit. Erfüllen jedoch nur so lange ihren Zweck, wie sie selbst zur Gefahr werden. Weil an ihnen Menschenleben hängen. Denen es durch ihr Schicksal nicht vergönnt war, auf der “richtigen” Seite des Zaunes das Licht der Welt zu erblicken. Kann das gerecht sein?

Diese Frage stellt sich auch Erik Marquardt. Als Mitglied des Europäischen Parlaments setzt er sich unermüdlich für die Einhaltung Europäischer Grundwerte, wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ein. Wie Migrationspolitik in seinen Augen gelingen kann, darüber habe ich mit Erik Marquardt ausführlich gesprochen.

Shownotes:
► Erik Marquardt auf Twitter, Instagram und auf seiner Website.
► Erik betreibt auch einen eigenen Podcast: Dickes Brett.
► Unterstützt die Kampagne #LeaveNoOneBehind.
► Bleibt informier – z.B. über die Seebrücke.

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12. November 2020

Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

von Marilena 29. Oktober 2020

Während sich in der Corona-Pandemie weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese den perfekten Nährboden für den Glauben an Verschwörungstheorien. Da sie scheinbar klare Antworten auf Unsicherheiten geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in vermeintliche Sicherheit. Der Mensch lebt, laut Nietzsche, in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit stellt für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung dar. Dies scheint auch für Verschwörungsnarrative, mit ihren suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt, zu gelten. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im Falschen.

Shownotes:

Diese Episode wird präsentiert von Blinkist. Unter Blinkist.de/sinneswandel erhaltet ihr 25% Rabatt auf das Abo Blinkist Premium.

► „Wie ein Buschfeuer im Kopf“: ZEIT Interview mit Michael Butter über Verschwörungstheorien.
► „Hier walten geheime Mächte“: ZEIT Artikel von Thomas Assheuer über Verschwörungstheorien in den USA.
► Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.
► Leo Löwenthal: Falsche Propheten Studie von 1949.
► Dead and Alive: Beliefs in Contradictory Conspiracy Theories Michael Studie von J. Wood, Karen M. Douglas, Robbie M. (2012).
► So erkennt man Verschwörungstheorien: Leitfaden der Europäische Kommission.

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Transkript: Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

Mit Ausbruch des Corona-Virus Anfang des Jahres, entwickelte sich die Epidemie schnell zu einer Pandemie. Und beinahe zeitgleich verbreiteten sich zahlreiche Verschwörungstheorien rund um die Entstehung von Covid-19: Da ist einerseits der Glaube an die Übermacht von Bill Gates, der angeblich vorhat jeden Menschen zwangsimpfen zu lassen . Zugleich kursiert das Gerücht, das 5G-Netz sei an der Verbreitung des Coronavirus Schuld. Und dann sind da natürlich noch die QAnon Anhänger:innen zu nennen, die derzeit wohl populärste und meist diskutierteste Verschwörungstheorie, die insbesondere auf Demos gegen Corona-Maßnahmen verbreitet wird. QAnons glauben daran, US-Präsident Trump werde als Messias die Welt vor einem satanischen Kult aus Pädophilen und Kannibalen erlösen. Klingt nach einer absurden Geschichte, scheint aber dennoch anschlussfähig für Demokratiefeinde, Rechtsextreme und Antisemiten zu sein. Bunte Fähnchen, mit denen QAnons häufig auftreten, sollten also nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter häufig antidemokratische Tendenzen stecken, die alles andere als harmlos sind. Nun ist es allerdings nicht so, dass es Verschwörungstheorien erst seit Ausbruch von Covid-19 gäbe. Bereits seit Jahren wird über einen möglichen “Inside Job” also einer Verschwörung hinter 9/11, dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York, debattiert. Auch das Gerücht, die Erde sei eine flache Scheibe, hält sich nach wie vor hartnäckig und wird von sogenannten Flath-Eathlern emsig verbreitet. Ebenso, wie einige Menschen davon überzeugt sind, Chemtrails, also das Auftreten vermehrter Kondensstreifen am Himmel, entstehen durch gezielt in die Atmosphäre eingebrachte Chemikalien, die uns beeinflussen und möglicherweise vergiften sollen. Und so ließe sich die Liste ins beinahe Unendliche fortführen. Der Amerikanist und Forscher zu Verschwörungstheorien, Michael Butter, schreibt in einerm Interview mit der ZEIT: “Verdächtigungen und auch echte Verschwörungen gab es wohl schon immer, aber die klassische Verschwörungstheorie ist etwas anderes. Der Philosoph Karl Popper hat in ihr eine Antwort auf die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung und den verwaisten Himmel gesehen – das bringt ihren Ursprung deutlich näher an die Gegenwart. Nicht mehr der liebe Gott zieht in solchen Theorien die Strippen, so Popper, sondern eine böse Macht.” Willkommen im postfaktischen Zeitalter.

Ist unsere aktuelle Epoche also quasi prädestiniert, gerade zu anfällig für solcherlei Verschwörungstheorien? Greift der Mensch vielleicht sogar aufgrund seiner geistigen Veranlagung auf diese zum Teil wilden Fantasien zurück? Als eine Form der  Daseinsbewältigung? 

Für den Philosophen Friedrich Nietzsche existiert keine Wirklichkeit, außer jene, die wir selbst erschaffen. Alle Wirklichkeit ist unsere. Unsere, im Sinne unserer Kulturleistung. Für Nietzsche ist der Mensch ein Illusionist, in dem Sinne, als dass er niemals der Wirklichkeit, als objektive Wirklichkeit verstanden, gewahr wird, sondern sie stets als Abbild, als Übertragung – oder, wie Nietzsche es nennt, als “Metapher” – wahrnimmt. So, wie ein Wort für ihn “die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten” darstellt, die rein willkürliche Übertragung in Bilder, und aus ihnen nachgeformten Lauten, ist für ihn die durch den Mensch rezipierte Wirklichkeit eine Reduktion – oder vielmehr eine Illusion. Eine Illusion, ohne welche der Mensch, so Nietzsche, nicht lebenstauglich wäre. Dies ist es, was er versucht zu umschreiben, wenn er von dem “ästhetischen Fundamentaltrieb zur Metapherbildung” spricht. Nietzsche zufolge ist das Leben nur möglich “durch künstlerische Wahnbilder”. Jegliche sprachliche Erzeugung von Bedeutung stellt für ihn eine künstlerische Leistung dar. Damit ist die Wirklichkeit selbst das Gesamtkunstwerk, das der Mensch in seinem existentiellen Bedürfnis hervorbringt, um sich das Leben durch förderliche Illusionen erträglich zu machen. Erträglich zu machen, bedeutet für Nietzsche, dass der Mensch ohne die Illusionen, ohne die ‘Lügen’, die er sich über die Wirklichkeit erzählt, nicht existieren könnte. Kultur stellt für ihn die lebensdienlichen Alternative zur Wahrheit dar. Der Mensch lebt in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit ist für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung. ‘Die Wahrheit’ gibt es für ihn nicht, zumindest nicht als absoluten Maßstab unserer Erkenntnisse. Damit erhebt Nietzsche die ‘Lüge’ über die Wahrheit, insofern als dass sie Ausdruck schöpferischen Willens ist, der den Menschen am Leben erhält. Ein umgedrehter Platonismus, der das Leben als Schein, als künstlerische ‘Illusion” zum Ziel hat. Der Mensch ist, so Nietzsche, ein “gewaltiges Baugenie”. Und das Leben selbst in seinen elementaren Formen, enthält für ihn eine künstlerische Potenz, die sich in der Kultur zu einer eigenständigen Sphäre entwickelt.

Der Mensch, ist also notgedrungen ein Künstler, wenn man den Worten Nietzsches Glauben schenkt. Eine ähnliche Meinung vertritt auch der Journalist Thomas Assheuer, dessen Artikel ich kürzlich im Feuilleton der ZEIT gelesen habe. Darin schreibt dieser: “Verschwörungsnarrative [fallen] immer dann auf fruchtbaren Boden, wenn der psychische Apparat des Einzelnen mit einer verwirrend komplexen Gegenwart überfordert ist, genauer: wenn es dem Einzelnen unmöglich ist, seine Krisenwahrnehmungen in ein sinnvolles Schema ‘einzulesen’, und er das Gefühl bekommt, dem Weltgeschehen wehrlos ausgeliefert zu sein. […[ Verschwörungsgeschichten versprechen Abhilfe […] Dafür basteln sie einen suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt und ‘verständlich’ macht. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im falschen.” 

Da haben wir sie also, die Illusion, die ‘Lüge’, die über die Wahrheit erhoben wird. Zum Zwecke der eigenen Daseinsbewältigung in einer gefühlt immer undurchdringlicher erscheinenden Welt. Assheuer zufolge wirken Verschwörungstheorien gar  therapeutisch:  “Sie antworten auf Ohnmachtserfahrungen und verschaffen ihren Anhängern die grimmige Genugtuung, für einen Moment die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen und endlich gehört zu werden.” Während sich in der Corona-Pandemie also weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese einen perfekten Nährboden für den Glauben an eine Verschwörungstheorie. Da sie scheinbar klare Antworten auf die Unsicherheit geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in Sicherheit. Auch, wenn diese zwar oft nicht weniger dunkel und bedrohlich erscheint, weiß man wenigstens was los ist. Assheuer vermutet zudem, dass Verschwörungstheorien “weniger von der Klassenlage genährt [werden], als von elementaren ‘Nöten und Bedrängnissen’. Dazu gehört die Angst vor Status- und Kontrollverlust. Und die Sorge, im gnadenlosen ökonomischen Konkurrenzkampf aussortiert zu werden. […] ein Gefühl von Ohnmacht und Verunsicherung, […] verstärkt durch den Zerfall familiärer Geborgenheit und das Schwinden ‘moralischer Maßstäbe’.” “Genau von dieser Malaise, vom Zustand ‘permanenter Unsicherheit’, würden Propheten angezogen ‘wie die Fliegen vom Misthaufen’”. So attestierte es bereits 1949 der Soziologe Leo Löwenthal in seiner Studie mit dem Titel “Falsche Propheten”.

Der Wunsch nach Sicherheit, nach einem Halm, an dem man sich zumindest ein wenig festhalten kann, erscheint da durchaus verständlich. Vor allem, wenn hinzukommt, dass das altbewährte Freund-Feind-Schema immer mehr versagt oder stattdessen fallweise von Tag zu Tag neu justiert werden muss. “Keine erklärende […] Fortschrittserzählung macht die Chronik des Weltgeschehens narrativ verständlich”, schreibt Assheuer. Also wird sich ein eigenes Narrativ zusammen gedichtet. Und die Verschwörungsfabel QAnon zum neuen Sortierschema, welche das Geschehen im globalen Irrenhaus ‘sinnvoll’ einordnen soll, erklärt. Der Verschwörungsexperte Michael Butter erklärt sich solche Verhaltensweisen durch das urmenschliche Bedürfnis, aus losen Einzelheiten Muster zu bilden und Kausalzusammenhänge herzustellen. Auch wenn diese oft gar nicht existieren. Außerdem tendieren wir häufig dazu, Informationen danach auszuwählen, was in das eigene Weltbild passt. Alles andere wird einfach ausgeblendet.

Interessant dabei ist, dass eine solch selektive Wahrnehmung auch den Wissenschaften nicht völlig fremd ist. Auch eine wissenschaftliche Theorie beruht auf Annahmen, die teilweise bestimmte Aspekte bewusst ausblenden. Ein Unterschied besteht jedoch, wenn Fakten oder Hinweise auftauchen, die die Theorie widerlegen können. Denn das kann und soll sogar so sein: Eine Theorie muss widerlegbar sein. Alles andere, so der Philosoph Karl Popper, einer der wichtigsten Vertreter der Erkenntnistheorie, könne man nicht als Theorie bezeichnen. Wohl eher als Ideologie. Verschwörungstheorien nutzen demnach Argumente, die gegen eine wissenschaftliche Theorie sprechen. So verwendet Donald Trump beispielsweise gerne und oft die Floskel  „A lot of people are saying …“, um über konspirative Ideen zu sprechen. So haben die amerikanischen Wissenschaftler Nancy Rosenblum und Russell Muirhead aus Princeton auch ihre Studie genannt, in der sie Trumps Technik als „conspiracy without theory“ beschreiben, also als Verschwörung ohne Theorie. Das heißt: Es gibt nur noch die Behauptung, keine Herleitung mehr und schon gar keine Belege. Das, was nach ihrer Logik bewiesen werden kann, wird als Wahrheit bezeichnet. Die empirische Wissenschaft hingegen geht nur so lange davon aus, dass etwas wahr ist, bis es falsifiziert, also widerlegt wurde. Die Gravitation beispielsweise, konnte bisher niemand beweisen. Widerlegen konnte sie allerdings auch noch keiner. Daher ist und bleibt sie eine aktuell gültige Theorie. Lange Rede, kurzer Sinn: eigentlich sollten wir Verschwörungstheorien gar nicht erst als solche bezeichnen. Auf diese Weise sprechen wir ihnen etwas zu, das ihnen eigentlich gar nicht zuteil werden sollte – nämlich den Anspruch einer Theorie gerecht zu werden. Thomas Assheuer verwendet beispielsweise in dem ZEIT Artikel stellenweise den Begriff “Verschwörungsnarrative” als Alternative, nehme ich an.


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Keine Sorge, es geht gleich weiter. An dieser Stelle möchte ich euch den Sponsor dieser Episode kurz vorstellen. Bestimmt habt ihr, wenn ihr gerne lest, schon einmal von ihnen gehört: Blinkist. Blinkist ist eine App für das Smartphone, die Kernthesen unterschiedlichster Sachbücher in 15 Minuten kurz und knackig zusammenfasst. Ihr könnt aus einer Auswahl von rund 3.000 Büchern, auf Deutsch und Englisch, schöpfen. Aus den Bereichen Philosophie, Politik, Psychologie, Geschichte und vielen weiteren. Jede Woche kommen etwa 40 neue Blinks hinzu. Und falls ihr nach der Zusammenfassung tiefer in das Thema einsteigen wollt, gibt es nun auch Hörbücher in voller Länge auf Blinkist. 

Ich finde das recht praktisch, da ich mir auf diese Weise einen kurzen Eindruck verschaffen kann, ob mich ein Buch inhaltlich interessiert, bevor ich mich diesem dann ggf. in ganzer Länge widme. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, die Leseliste wird nicht kleiner, sie wächst eher. Blinkist kann da auf jeden Fall ein bisschen Erleichterung schaffen.

Im Moment gibt es eine Aktion ausschließlich für Hörer:innen des Sinneswandel Podcast. Auf BLINKIST (B-L-I-N-K-I-S-T) punkt DE slash Sinneswandel  erhaltet ihr 25% Rabatt auf das Jahresabo Blinkist Premium. Die ersten 7 Tage könnt ihr alles ausgiebig kostenlos testen. Den Link blinkist.de/sinneswandel findet ihr auch in den Shownotes. Jetzt geht es weiter im Kontext.


Ein weiterer Grund, weshalb wir vielleicht eine Hochkonjunktur der Verschwörungsgeschichten erleben, könnte auch an der wachsenden Geschwindigkeit ihrer medialen Verbreitung liegen. Man kann beobachten, wie unfassbar schnell sie heute im Netz kursieren und wie schwer sie sich eindämmen lassen. Eine lange „Beweisführung“ scheint wohl einfach nicht zum Charakter der sozialen Medien zu passen, wo weder Platz noch Zeit für so etwas ist. Die Theorie wird hier zum Verschwörungsgerücht verkürzt. Viele beginnen mit der Frage: “cui bono”, also, wem nützt das? Danach werden atemberaubende Indizienketten rückwärts gesponnen. Ganze Forschungsprojekte, so Michael Butter, zeichnen die Wege nach, auf denen Verschwörungsideologien von einem Twitter-Account zum nächsten wandern, ganz ähnlich wie bei der Rekonstruktion einer Ansteckungskette. Widersprüche untereinander scheinen Menschen, die solche Ideen vertreten, allerdings eher selten zu irritieren. Wichtiger ist, dass die Geschichten der sogenannten „offiziellen“ Version der breiten Mitte entgegenstehen. Immer wieder werden neue Vorfälle in den vorhandenen Rahmen eingebettet, sodass er zur gesamten Verschwörungserzählung passt. Besonders eindrücklich ist auch das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2012, nach der die Wahrscheinlichkeit, an eine Verschwörungstheorie zu glauben, wenn man auch an andere Verschwörungstheorien glaubt, deutlich steigt. Wer demnach beispielsweise offen für Impffantasien ist, könnte sich potentiell auch von QAnon Gedanken inspiriert fühlen. Der gemeinsame Kern ist ein grundsätzliches Misstrauen, das sich stets gegen bestimmte Menschen oder Gruppen richtet. Ob Bill Gates, China, die “Wirtschaftseliten” – die Bestätigung eines Feindbildes machen sie besonders attraktiv. Denn es ist leichter, anzunehmen, dass eine bestimmte Gruppe hinter dem Übel der Welt steckt, als zu akzeptieren, dass auch grundlos Übel in der Welt existiert. Die Verschwörung schafft einen Sündenbock, der auch die Gläubigen selbst entlastet. Die Rollen sind klar verteilt. Zudem bringt ein Feindbild immer auch die Hoffnung mit sich, dass die “Bösen” eines Tages zu besiegen seien. 

Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie damit umgehen? Wie begegnet man Menschen, die an solche teilweise obskuren Verstrickungen glauben? Was, wenn sogar Freunde oder  Familienmitglieder sich für Verschwörungsideen öffnen? Und wir diese uns nahestehenden Personen nicht einfach ignorieren oder als “Spinner” abtun können und wollen. 

Es gibt eine Reihe empirischer Studien, die zeigen, dass solche Menschen noch fester an ihre vermeintlichen “Theorien” glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Die Konstruktionen sind, wie wir von Nietzsche wissen, wichtig für ihr Selbstbild. Gegenargumente bringen ihre Identität ins Wanken, weshalb sie Belege gegen die Verschwörung in Belege für sich selbst umwandeln. Aus diesem Grund sind Verschwörungsgeschichten auch so schwer zu widerlegen, weil jeder, der es versucht, sogleich in den Verdacht gerät, selbst Teil dieser Verschwörung zu sein. Mit Fakten allein kommt man da selten weiter. Weshalb Verschwörungsexperte Michael Butter stattdessen empfiehlt, lieber Fragen zu stellen. zum Beispiel nach der Glaubwürdigkeit der Quellen oder nach Widersprüchen. Zudem spricht er sich dafür aus, dass eher aufgeklärt, als nachträglich zensiert oder gelöscht werden sollte.  Sprich, dass wir sachlich darüber informieren, wie Verschwörungstheorien aufgebaut sind, wie sie argumentieren, welche Muster sich erkennen lassen. Auf der Website der Europäischen Kommission ist beispielsweise ein ausführlicher Leitfaden zu finden. Diesem zufolge sollte man sich die drei folgenden Fragen stellen, wenn man die Vermutung hat mit einer einer Verschwörung konfrontiert zu sein: Erstens, ist die “Theorie” widerlegbar? Zweitens, gibt es Argumente, die mich vom Gegenteil überzeugen würden? Drittens, stehen die Annahmen in grundsätzlicher Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Gesetzen? Lässt sich mindestens eine dieser Fragen mit „nein“ beantworten, ist man womöglich einer Verschwörung auf der Spur.  

Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch das Recht darauf, seine Meinung zu äußern und zu vertreten, und sei es eine Abwegige. Aber nicht jede Meinung muss millionenfach verbreitet und diskutiert werden. Und, wenn doch, dann sollten wir zumindest unsere Wortwahl beachten. Ein Herunterspielen, in die Lächerlichkeitziehen oder Anfeinden von Verschwörungsgläubigen zieht den Graben vermutlich nur noch breiter. Lässt diese Menschen gar noch mehr von ihren Ideen überzeugt sein. Weil sie ihnen einen gewissen Halt in ihrer Angst geben, den sie sich nicht so schnell nehmen lassen. Wer schon einmal versucht hat einen solchen Menschen von einer anderen Realität zu überzeugen, weiß wovon ich spreche. Es ist ein wenig zum Haare raufen. Jedes Argument, das man anbringt, scheint einem im Munde verkehrt zu werden und sich gegen einen selbst zu richten. Die Europäischen Kommission empfiehlt dennoch das offene Gespräch zu suchen und insbesondere detaillierte Fragen zu den vermeintlichen “Theorien” zu stellen, um eine Selbstreflexion anzuregen. Man solle behutsam vorgehen und eine Vielzahl von Quellen rund um das Thema nennen. Einfühlungsvermögen zeigen, auch, wenn es schwer fällt. Und keinen Druck ausüben. Dann kann es gelingen. Dass das Gegenüber die wild konstruierte Realität zugunsten der “allgemein anerkannten Wirklichkeit” aufgibt. Und nicht zuletzt kann es natürlich nicht nur ein individuelles Aufeinanderzugehen sein, sondern es sollte zugleich auch auf systemischer Ebene dafür gesorgt werden, dass Menschen gar nicht erst das Bedürfnis verspüren, sich in derlei Phantasien, die zum Teil Menschenleben und Demokratie gefährden, flüchten. Bereits Leo Löwenthal fragte sich damals, ob, wie er es ausdrückte, “die Verrückten eine Unvernunft in den Verhältnissen [spüren], die jene, die in der kapitalistischen Tretmühle gefangen sind, nicht spüren?” Natürlich heißt das nicht, dass jede Angst und Sorge rational begründbar ist – oft ist wohl eher der Gegenteil der Fall – und es rechtfertigt auch nicht das zum Teil menschenfeindliche Gedankengut einiger Anhänger:innen. Nichtsdestotrotz können und sollten die Ängste dieser Menschen nicht bloß abgetan werden, sondern können ein weiteres Argument dafür bieten, den Status quo immer wieder in Frage zu stellen. In welcher Gesellschaft wir aktuell leben und zukünftig leben wollen. Was Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit beispielsweise für uns bedeuten. Und, wie wir zu einem Miteinander beitragen können, das auf Mitgefühl und nicht auf Konkurrenz baut. Wie Nietzsche sagt, der Mensch ist ein “gewaltiges Baugenie”. Was auch bedeutet, dass er neue Realitäten erschaffen kann. Und im besten Fall sind das geteilte Narrative lebenswerter Zukünfte, in denen sich möglichst viele Menschen wiederfinden können.      


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch diese Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Werbeeinbindungen und nur solche, die wir mit gutem Gewissen vertreten können, werden übrigens eine absolute Ausnahme im Podcast bleiben. Solange Sinneswandel allerdings finanziell noch nicht auf festen Beinen steht, hoffen wir auf euer Verständnis. Wenn ihr uns als Fördermitglieder unterstützen wollt, dann freuen wir uns natürlich. Ganz einfach geht das via Steady oder Paypal.me/sinneswandelpodcast. In den Shownotes ist wie immer alles verlinkt. Auch alle Quellen zum Nachlesen. Vielen Dank fürs Zuhören und bis ganz bald.

29. Oktober 2020

Dieter Thomä: Brauchen Demokratien (mehr) Helden?

von Marilena 5. März 2020

Ob Pippi Langstrumpf, Robin Hood oder Ronja Räubertochter, KindheitsheldInnen haben wir als Kinder fast alle. Deren mutigen und selbstlosen Taten uns beeindrucken und oft bis ins Erwachsenenalter nostalgisch werden lassen, wenn wir an die Geschichten mit ihnen zurückdenken. Vielleicht, weil wir uns manchmal nach ihnen sehnen? Menschen, die uns Mut machen über uns hinauszuwachsen. Helden, die uns daran erinnern, wer wir sein könnten.

Insbesondere in krisenhaften Zeiten wünschen sich Menschen charismatische Leitfiguren, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Welches sich jedoch, mit Blick auf die in einigen Ländern zu beobachtenden autokratischen Tendenzen und den wachsenden Rechtsdruck, oft als problematisch herausstellt. Und so könnte man sich die Frage stellen, ob solche Heldenverehrung nicht ein Rückfall in autoritäre Zeiten darstelle? Der Philosoph Dieter Thomä sagt entschieden: Nein. Auch Demokratien brauchen HeldInnen, die sich für ihre Werte einsetzen. Gerade jetzt, meint Dieter Thomä sei das besonders wichtig, wo die Demokratie sich in der tiefsten Krise seit 1945 befände. Da dürfen wir die Bühne nicht den neuen Rechten überlassen. Aus diesem Grund plädiert Dieter Thomä, der als Professor Philosophie an der Schweizer Universität St. Gallen lehrt, für einen zeitgemäßen Heroismus.

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  • Das aktuelle Buch „Warum Demokratien Helden brauchen“ von Dieter Thomä ist u.a. hier erhältlich.

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5. März 2020
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