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Identität

Christian Uhle: (Lebens-)Sinn, eine Beziehungssache?

von Marilena 3. Mai 2022

Sinn ist also eine Beziehungssache. Er ist nicht in uns versteckt, liegt nicht irgendwo außerhalb in der Welt verborgen, sondern mitten drin – in den Zwischenräumen. Aber gerade die übersehen wir schnell mal. In der Hektik des Alltags, im Streben, Stratzen und Straucheln, unter all den Anforderungen, die das Leben an uns stellt. Welchen Sinneswandel bedarf es, damit wir heute (wieder) Sinn empfinden können? Mit dieser Frage befasst sich der zweite Teil des Gesprächs mit Philosoph Christian Uhle.

Shownotes:

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► Teil 1 des Gesprächs mit Christian Uhle.
► Mehr von und mit Christian Uhle gibt es hier.
► Christian Uhle: “Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens”. S. Fischer Verlage (04/22).

✉ redaktion@sinneswandel.art
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3. Mai 2022

Christian Uhle: Wie finden wir (unseren) Sinn?

von Marilena 28. April 2022

Wozu das alles? Wie entsteht eigentlich Sinn? Ist er in uns versteckt, außerhalb von uns, in der Welt – oder wohlmöglich dazwischen? In einer Zeit, in der vielen Menschen der Sinn (im Leben) abhanden zu kommen scheint, erlangt auch die Philosophie plötzlich mehr Aufmerksamkeit. Aber kann sie Antworten auf die Frage nach dem Sinn liefern? Wirft sie nicht eher noch mehr Fragen auf? Um das herauszufinden, hat sich Marilena Berends mit Philosoph Christian Uhle auf eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens begeben. Dies ist der erste Teil der Reise.

Shownotes:

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► Mehr von und mit Christian Uhle gibt es hier.
► Christian Uhle: “Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens”. S. Fischer Verlage (04/22).<br>

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28. April 2022

I’ll be your mirror

von Henrietta Clasen 30. November 2021

Spiegelneuronen – ohne die Nervenzellen in unseren Gehirnen wären wir vielleicht nicht in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen. Reflexion, sich spiegeln – im Außen, wie im Innen. Dafür braucht es Substanz – etwas, auf dem sich Projizieren lässt, sonst sehen wir nicht. Wie ein Diaprojektor, den man in die Leere richtet. Nichts. Betrachten wir Kunst, werden wir einerseits mit uns selbst konfrontiert, wie auch mit der Künstlerin – eine Synthese zweier Blicke. Inspiriert durch den Besuch der Ausstellung “Klasse Gesellschaft” in der Hamburger Kunsthalle mit den Künstlern Lars Eidinger und Stefan Marx, ist dieser kurze Impuls entstanden.  

Shownotes:

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► Ausstellung [“Klasse Gesellschaft – Alltag im Blick niederländischer Meister” mit Lars Eidinger und Stefan Marx – in der Hamburger Kunsthalle bis 27. März 2022.
► Die Zitate von Lars Eidinger stammen aus der Aufzeichnung der Ausstellungseröffnung am 25. November 2021 in der Hamburger Kunsthalle.
► Lars Eidinger auf Instagram.
► Stefan Marx auf Instagram.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: I’ll be your mirror – Der Blick der Anderen, ein Spiegel?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“I’ll be your mirror” – weiß auf schwarz, in dicken Lettern leuchtet es mir von der Wand entgegen. Es ist ein Donnerstagabend im November, an dem ich in der Hamburger Kunsthalle stehe. Herbei gelockt von der Einladung zweier Künstler zu ihrer Vernissage. “I’ll be your mirror” – der Schriftzug, der auf der Leinwand vor mir prangt, stammt von dem Zeichner Stefan Marx. Zusammen mit Schauspieler und Künstler Lars Eidinger sind seine Werke Teil der Ausstellung “Klasse Gesellschaft”. Ich stehe gut einen Meter von dem besagten Bild entfernt. Es hat in etwa die Größe eines Badezimmerspiegels. Vielleicht ein bisschen größer. Ich könnte mich zumindest bis zum Bauchnabel darin sehen. Aber das möchte mir das Kunstwerk wohl kaum vermitteln. Obwohl – wieso nicht? Selbst, wenn diese Assoziation nahe liegt, bei dem Wort “mirror” an einen Spiegel zu denken, so ist der Gedanke, das Bild zumindest in mir, bei der Betrachtung des Kunstwerks entstanden. Ob der Künstler nun genau das bezwecken wollte, ist erst einmal zweitrangig. Denn vielleicht hat es ja auch gar nicht den einen Zweck zu erfüllen. Nicht die eine message, die es den Kunstschauenden vermitteln möchte – vielleicht geht es um etwas ganz anderes. Ich denke an die Worte zurück, die Lars Eidinger ein paar Minuten zuvor in der Eröffnungsrede an das Publikum gerichtet hat: “‘I’ll be your mirror’ ist in gewisser Weise missverständlich, weil Sie sind natürlich auch mein Spiegel. Ich brauche Sie ja unbedingt sozusagen, um mich zu begreifen. […] Und ich unterstelle Ihnen mal, oder anders gesagt, es wäre schön, wenn Sie gar nicht wegen mir hier sind, sondern wegen sich. Und, dass es um Sie geht heute Abend und, dass Sie was über sich verstehen wollen.”

I’ll be your mirror. Spiegelneuronen – ohne die Nervenzellen in unseren Gehirnen wären wir im Zweifel nicht in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen. Reflexion. Sich spiegeln – im Außen, wie im Innen. Dafür braucht es Fläche, Substanz. Etwas, auf dem sich Projizieren lässt. Sonst sehen wir nicht. Wie ein Diaprojektor, den man in die Leere richtet. Nichts. Betrachte ich also die Bilder in der Ausstellung, werde ich einerseits mit mir selbst konfrontiert, wie auch mit dem Künstler. In gewisser Weise eine Synthese zweier Blicke: “Ich würde immer beschreiben, dass ich die Bilder benutze, um mich zu sehen, um mich darin wiederzuerkennen. Ich will die Bilder nicht zeigen, sondern mich selbst erkennen. Und ich möchte das Gegenüber dazu bringen, sich in diesen Bilder wiederzufinden und zu erkennen. Und das klingt vielleicht banal, aber es ist immer wieder interessant, was die Leute in den Bildern sehen und was das über sie erzählt. […] Wenn Sie da nach unten in den Raum gehen und meine Bilder sehen, dann zeige ich Ihnen wie es in mir aussieht.”

Absurd. Verstörend. Rührend. Mir fallen viele Wörter ein, mit denen sich die Fotografien von Lars Eidinger beschreiben ließen. Einige kenne ich bereits von seinem Instagram Kanal. Es sind Alltags Eindrücke, im weitesten Sinne – ready mades, wie Eidinger sie selbst bezeichnet. Früher hätte man wohl “Schnappschüsse” gesagt – aber im Zeitalter der Digitalität und Smartphone Fotos, klingt das zu antiquiert. Ready mades also. Ich stehe vor einem solchen. Die Fotografie zeigt ein älteres Paar, wie es sich gebannt Schmuck im Schaufenster ansieht, zu ihren Füßen liegt ein vermutlich Wohnungsloser, dessen Kopf zum Nickerchen auf einer Plastiktüte ruht. Ein anderes Bild zeigt zwei Männer. Der Größere von beiden hält einen Pappkarton über den Kleineren, um ihn vor dem Regen zu schützen. Er selbst trägt eine Papiertüte über dem Kopf. Die vollkommene Absurdität des menschlichen Seins und Tuns zeigt sich aber vermutlich in den Abbildungen, in denen nicht einmal Menschen anwesend sind – ihre Gegenwärtigkeit aber unübersehbar ist. So auf der Fotografie, die den Ast eines Baumes zeigt, der sich über die Errichtung eines Gartenzauns hinwegsetzt, indem er sich seine Wege sucht. Oder eine Treppe, die ins Nichts führt. “Vollendete Gegenwart”, nennt Eidinger diese Reihe. Nicht weil der Mensch in seinen Augen die Realität vervollkommnet – eher im Gegenteil: “…die Erkenntnis, dass der vermeintliche Zufall oder das Uninszenierte sich in einer Perfektion präsentiert, wie sie unnachahmlich ist. Ich kann diese Bilder nicht inszenieren. Und der Versuch ist immer erbärmlich. Und das interessiert mich auch an den Bildern, wo keine Menschen zu sehen sind. Weil man sieht, wie der Mensch versucht, etwas Natürliches, Kreatürliches zu imitieren und dabei so grandios scheitert. Und auch in der Abwesenheit des Menschen begreife ich den Menschen. Also die Bilder auf denen niemand zu sehen ist, sagen teilweise für mich mehr über die Menschheit aus, als Bilder auf denen Leute abgebildet sind.”

Und da wären wir wieder, bei der Konfrontation, dem Sehen und Gesehenwerden. „Der Blick des Anderen formt meinen Leib in seiner Nacktheit, läßt ihn entstehen, modelliert ihn, bringt ihn hervor, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werde“, schreibt Philosoph Jean-Paul Sartre in seinem Werk Das Sein und das Nichts. Weniger meinte er damit die Fotografie, als vielmehr den tatsächlichen Blick des Anderen, der mich spaltet: in Subjekt und Objekt zugleich. Weil ich mich erst in jenem Moment der Betrachtung eines Andern selbst erkenne und im selben Augenblick zum Gegenstand der Betrachtung werde, der sich meiner eigenen Beurteilung entzieht. Aber auch hier zeigt sich das, wovon Eidinger spricht, wenn er von Menschen erzählt, die Kunst betrachten. Was sie darin sehen, sagt oft mehr über sie selbst aus, als über das Objekt ihrer Betrachtung. Und gilt selbiges nicht auch, wenn wir Menschen beobachten? Sagt nicht unser Urteil, die Bewertung, die wir abgeben, mehr über uns aus, als über die Person, die in unser Blickfeld geraten ist? Es kann schmerzlich sein von anderen gesehen zu werden. Vor allem, wenn das Urteil anders ausfällt als unser eigenes oder, als wir es uns wünschen würden. Und doch liegt darin ein Potential verborgen. Natürlich nicht insofern, als dass wir jedes Bild, das uns widergespiegelt wird, ungefiltert und unhinterfragt in uns aufnehmen. Aber angeregt durch den Blickwinkel des Anderen, die eigene Perspektive zu hinterfragen, sich selbst oder die Welt und die Dinge in ihr in einem anderen Licht sehen zu können, das sind Erfahrungen, die uns als Einzelne nur schwer zugänglich sind: “Und dieses Verstehen und Begreifen, sich Erkennen, ist tatsächlich glaube ich die einzige Möglichkeit für den Menschen sich weiterzuentwickeln. Und wie oft schaffen wir es eigentlich gar nicht, in den Spiegel zu schauen. Vor allem nicht so zu schauen, oder sich so zu betrachten, wie wir eigentlich sind. Also wie oft schützen wir uns durch eine Maskerade oder spielen uns selbst was vor. Und das führt letztendlich immer zu einem großen Missverständnis und wahrscheinlich in letzter Konsequenz zu einer Form von Selbsthass oder Verachtung. Und dieses sich selbst Annehmen, das merke ich für mich, das ist der eigentliche Antrieb. Das ist das Ziel.”

Es liegt also auch etwas Versöhnliches, im Erkennen und Erkanntwerden. Wenn wir begreifen, dass wir nicht die einzigen sind, die an Banalitäten scheitern, deren Probleme weltlich sind und deren Leben überhaupt ziemlich trivial ist. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb wir uns so sehr nach Authentizität sehnen. Weshalb wir gebannt Reality Shows verfolgen und uns auf Instagram durch die Stories von Fremden und Freunden klicken. Immer auf der Suche nach dem Ungefilterten, dem Alltäglichen – was dort in Wirklichkeit natürlich nicht zu finden ist. Und doch ziehen sie uns an, die sozialen Netzwerke. Weil sie bedienen, wonach wir suchen: Bestätigung. Weil wir sehen und gesehen werden. Plötzlich Einblicke in die Leben anderer Menschen erhalten, die uns eigentlich so fern scheinen. Wir ziehen Vergleiche – was natürlich nicht immer dienlich ist Vor allem, wenn wir, außer dem teils inszenierten und kuratierten Alltag der Menschen dort, kaum etwas über sie wissen. Aber eben in jener Ambivalenz erkennt Eidinger die Schönheit für sich: “Ich schöpfe immer aus dem Widerspruch. Der Satz von Brecht: “Die Widersprüche sind unsere Hoffnung”, das ist mein Credo. Und ich merke, dass im Widerspruch alles an Potential steckt, was man mit Talent für sich nutzbar machen kann. Und ein Begriff, wie “Soziale Netzwerke”, ist ein klassisches Oxymoron. Es gibt keinen Ort, der asozialer ist, als diese Netzwerke. Und trotzdem bin ich davon alles andere als fasziniert. Ich bin davon fasziniert angewidert. Und wahrscheinlich in letzter Konsequenz einfach nur hochgradig abhängig.”
Insofern lasst uns lieber den Blick vom Bildschirm lösen. Manchmal muss man auch nicht alles sehen und gesehen haben. Außer die Ausstellung “Klasse Gesellschaft”, die möchte ich an dieser Stelle doch noch kurz empfehlen. Ein kurzer Blick in die Shownotes genügt, da findet ihr mehr Infos. Wenn euch die Episode gefallen hat, freuen auch wir uns natürlich über Bestätigung jeder Art. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast!

30. November 2021

Tatjana Schnell: (Lebens-)Sinn – etwas Kollektives?

von Henrietta Clasen 9. November 2021

Es scheint ganz so, als genüge es uns Menschen nicht, einfach nur zu Existieren. Wir brauchen einen Grund weshalb wir uns morgens aufraffen – die Freude am Sein allein, sie mag Mönche und Buddhisten beglücken – den postmodernen Menschen berauscht sie längst nicht mehr. Kein Wunder, möchte man sagen! Sind die Büchereien doch gefüllt mit Ratgeberliteratur, deren Titel uns aufmunternd zurufen: “Finde dich selbst!” Sie ist zum Greifen nah, die Erfüllung, wir müssen nur die Hand ausstrecken und zugreifen. So zumindest lautet das Glücksversprechen des modernen Kapitalismus. Aber ist das wirklich so? Existiert so etwas, wie ein individueller Lebenssinn, eine Art Berufung, die es zu Suchen und Finden gilt? Oder entsteht Bedeutung nicht vielmehr im Kollektiv(en)? Um das herauszufinden, habe ich mich mit Psychologin und Sinnforscherin Prof. Dr. Tatjana Schnell unterhalten.

Shownotes:

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► Sinnforschung.org Sinnforschung an der Universität Innsbruck mit Informationen und Studien zum Thema Lebenssinn.
► Buch: “Psychologie des Lebenssinns”, Springer Verlag (2020).
► Aktuelle Forschungsergebnisse zu psychologischen und existenziellen Aspekten der COVID-19 Pandemie.
► Mihály Csíkszentmihályi: “Flow. Das Geheimnis des Glücks”, Klett-Cotta (2002).
► David Graeber: “Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit”, Klett-Cotta (2009).
► Karl Jaspers: “Leben als Grenzsituation. Eine Biographie in Briefen”, Wallstein (2019).

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9. November 2021

Sich selbst neu erfinden, geht das?

von Henrietta Clasen 10. Juni 2021

Ist es Fluch oder Segen, dass der Mensch im Besitz der Freiheit ist, sich selbst entwerfen zu können? Die vermutlich zentralste Frage der Existenzialisten, nach deren Philosophie der Mensch ohne jeden Kompass zu einer angsteinflößenden und zugleich berauschenden Freiheit verdammt ist, die ihm die totale Verantwortung für sein Leben aufbürdet. Heißt das nun, dass wir uns im Leben selbst erfinden – im Zweifel immer wieder von Neuem? Gibt es so etwas wie eine abschließende Identität des Selbst, die sich verwirklichen ließe? Oder sind wir nicht vielmehr hybride und wandlungsfähige Wesen, deren Identitäten unabgeschlossen bleiben?

Shownotes:

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► Mira Lobe, Susi Weigel: “Das kleine Ich-bin-Ich”. Jungbrunnen, 1972.
► Sternstunde Philosophie: “Lars Eidinger – Das Leben als Kunstwerk”. SRF Kultur.
► Erving Goffman: “Wir alle spielen Theater”, 1956.
► Slavoj Žižek: “Lacan – Eine Einführung”. Fischer, 2008.
► Johan Huizinga: “Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel”, 1938.
► Helmuth Plessner: “Die Stufen des Organischen und der Mensch”, 1928.
► Martin Heidegger: “Sein und Zeit”, 1927.
► Karl Jaspers: “Existenzphilosophie”, 1938.
► Jean-Paul Sartre: “Das Sein und das Nichts”, 1943.

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Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als Pionier*innen mit 10€ im Monat unterstützen: Anja Schilling, Christian Danner, Bastian Groß, Pascale Röllin, Sebastian Brumm, Wolfgang Brucker, Petra Berends, Holger Bunz, Dirk Kleinschmidt, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Annette Hündling, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Heinrich Ewe, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Andreas Tenhagen, eeden Hamburg Co-creation Space for visionary women*, David Hopp, Jessica Fischer (Universität Paderborn), Ioannis Giagkos, Matthias Niggehoff, Nina Lyne Gangl, Johanna Bernkopf , Holger Berends, Sebastian Hofmann, Elvira-Eisen Walser, Do rian und Anita Wilke.

Transkript: Sich selbst neu erfinden, geht das? – Über Rollenwandel & Identitäts-Pluralismus

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Auf der bunten Blumenwiese geht ein buntes Tier spazieren, wandert zwischen grünen Halmen, wandert unter Schierlingspalmen, freut sich, dass die Vögel singen, freut sich an den Schmetterlingen, freut sich, dass sich’s freuen kann. Aber dann… Aber dann stört ein Laubfrosch seine Ruh, und fragt das Tier: „Wer bist denn du?“ Da steht es und stutzt, und guckt ganz verdutzt dem Frosch ins Gesicht: „Das weiss ich nicht“. Der Laubfrosch quakt und fragt: „Nanu? Ein namenloses Tier bist du? Wer nicht weiss, wie er heißt, wer vergisst, wer er ist, der ist dumm! Bumm!”

Als ich neulich durch die Buchhandlung meines Vertrauens, auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für meinen bald 8-jährigen Neffen schlenderte, stieß ich auf die Geschichte des kleinen Ich-bin-Ichs. Eine unerwartete Wiederbegegnung, mit der ich nicht gerechnet hatte und die noch mehr in mir auslösen sollte, als ich in der Buchhandlung zu erwarten hoffte. In diesem Moment, das Bilderbuch in der Hand haltend, fühlte ich mich augenblicklich zurück katapultiert in die dritte Klasse meiner Grundschulzeit. Ich trage eine bunte Leggins, ein noch bunteres T-Shirt und habe jeweils eine gepunktete Socke an meinen Ohren baumeln. Es ist der große Tag der Aufführung – und ich spiele das kleine Ich-bin-Ich aus Mira Lobes gleichnamigen Kinderbuch. Aufgeregt laufe ich zwischen meinen Klassenkameraden, die als Papageien, Nilpferde und Hunde verkleidet sind, hin und her. Stelle ihnen abwechselnd die immer gleich Frage, ob sie wissen, wer oder was ich bin – doch finde keine Antwort. 

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich damals schon bewusst mit der meinen, oder Identität überhaupt, auseinandergesetzt hätte – ich meine, ich war vielleicht acht oder neun Jahre alt – aber das Gefühl von Zugehörigkeit, oder eben auch der Abwesenheit von ihr, das kannte ich wohl. Und ich ahnte, dass diese Frage, die für das kleine Ich-bin-Ich so schwer zu beantworten war, eine wichtige sein wird. Als Kinder, wenn vielleicht eher unbewusst, beschäftigen wir uns, so glaube ich, schon früh mit unserer eigenen Identität oder sind zumindest durch Erfahrungen mit ihr konfrontiert. Als “Spiegelstadium” bezeichnete der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan den Moment, in dem sich ein Kind durch die Reflexion im Spiegel zum ersten Mal als ganzheitliche Gestalt, mit der es sich identifiziert, wahrnimmt. Und dies geschieht, so Lacan, bereits zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat. Aber spätestens, vermute ich, wenn wir von neugierigen Eltern und Verwandten gefragt werden, wer wir denn eigentlich einmal sein wollen, wenn wir einmal groß sind. Ich habe mir fest vorgenommen, meinem Kind später diese Frage nicht zu stellen. Ich weiß ja selbst bis heute keine kluge Antwort darauf zu geben. 

“Haben Sie auch schon mal darüber nachgedacht, ob Sie Ihre Rolle im Leben gefunden haben? Nicht auch jemand ganz anderes oder viel mehr in sich tragen, als nur eine Person?”  fragt Wolfram Eilenberger sein Publikum in Sternstunde Philosophie und ich nicke innerlich mit dem Kopf. Nicht nur einmal. Immer wieder. In letzter Zeit sehr oft. Wenn diese Frage sich ihre Wege durch meine Synapsen in mein Bewusstsein bahnt, so ahne habe ich meist bereits, dass die Unruhe, die mich dann packt, der Vorbote eines anstehenden Wandels sein könnte. Bildlich stelle ich mich in diesen Phasen manchmal wie einen noch lebenden Aal vor, der sich in der Pfanne windet. Nicht, dass ich das schon mal wirklich miterlebt hätte, aber die Erzählungen meiner Mutter aus ihrer Kindheit waren sehr anschaulich. Vielleicht trifft es aber auch eher das Bild eines Chamäleons, dass erleichtert seine Haut abstreift, weil sie ihm eines Tages zu eng geworden ist. Was ich damit sagen will, ist, dass ich immer wieder diese Momente erlebe, in denen ich am liebsten alles hinwerfen und mich neu erfinden möchte. In denen sich einfach so gar nichts mehr stimmig anfühlt. Und das, obwohl eigentlich von außen betrachtet, alles gut ist, manchmal sogar besser als gut. Aber vielleicht macht mich genau das skeptisch? War es das jetzt schon? Bin das wirklich ich? Könnte ich nicht auch noch ganz wer anderes sein? Meistens sind das auch die Momente, in denen ich mich frage, ob ich damals nicht doch hätte zur Schauspielschule gehen sollen oder, ob ich diesen Weg vielleicht sogar heute noch wagen sollte. Einmal habe ich mich, in der Aufbruchsstimmung einer solchen Krise, sogar spontan zu einem Vorsprechen angemeldet. Nur, um es dann doch nicht anzutreten. Denn was wäre, wenn es wirklich klappt?

“Ich würde behaupten, dass ich in der “Verwandlung”, in dem Moment wo ich eine Rolle spiele, mehr ich selbst bin, als, wenn ich hier alltäglich vor Ihnen sitze. […] Ich habe für mich gemerkt, dass dieser Moment des Ausdrucks dazu führt, dass ich ein anderes Verständnis von mir selbst erlange. Und, dass ich Gefühle, die ich sonst nicht ausdrücken kann, aus welchen Gründen auch immer, mit der Rolle zum Ausdruck bringen kann.” Was Schauspieler Lars Eidinger in Sternstunde Philosophie beschreibt, kann ich nur allzu gut nachempfinden. Nicht nur, weil ich das Spiel mit Rollen auf der Theaterbühne selbst so liebe, sondern auch hinsichtlich der alltäglich erlebten Realität. Manchmal muss ich mich von mir selbst, räumlich im Außen, wie auch im Innen, distanzieren, Abstand gewinnen, um mir selbst wieder näher kommen zu können. Gerade in pandemischen Zeiten ist das nicht immer einfach. In den eigenen vier Wänden sitzend, reduziert auf die Rolle als erwerbstätige Bürgerin, bleibt nicht viel Raum zur Entfaltung der eigenen Facetten. 

“Aber habe ich das richtig verstanden? Sie sehen das als eine Art therapeutische Erfahrung, in eine Rolle zu gehen, die vielleicht sehr weit weg von sich ist, um eine Spiegelung von sich selbst damit zu bewirken?”, fragt Wolfram Eilenberger Lars Eidinger. Ich glaube nicht mal, dass es nur die Schauspielerinnen und Schauspieler sind, die in unterschiedliche Rollen schlüpfen. “Wir alle spielen Theater”, wenn es nach dem Soziologen Erving Goffman geht. Für ihn gleicht die soziale Welt einer großen Bühne und wir alle spielen in der Interaktion mit anderen verschiedene Rollen. Was nicht bedeutet, dass wir alle unauthentisch wären, sondern vielmehr, dass wir in unterschiedlichen Situationen, ob auf der Arbeit, zu Hause mit der Familie oder mit Freunden, eben anderen Anforderungen und Erwartungen gerecht werden müssen, weswegen wir uns mehrere Rollen aneignen. Und auch bei Friedrich Schiller lässt sich schon nachlesen: “Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Der Mensch, ein homo ludens, wie ihn der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga bezeichnete. 

Heißt das denn nun, dass wir uns im Leben selbst erfinden – im Zweifel immer wieder von Neuem? Gibt es dann überhaupt so etwas wie eine abschließende Identität des Selbst, die sich verwirklichen ließe? Oder sind wir nicht vielmehr hybride und wandlungsfähige Wesen, deren Identitäten unabgeschlossen bleiben?

“Der Mensch steht gleichsam hinter sich selbst, ortlos, im Nichts”, heißt es bei dem Philosophen Helmuth Plessner. “Nichts” im Sinne des nicht festgelegten Seins, im Gegensatz zu anderen Lebewesen, wie den Tieren. Was den Menschen zu einem zur Freiheit genötigten Wesen mache, das immer nach Neuem strebe. Auch bei Martin Heidegger, dem Begründer der Existenzialontologie, ist der Mensch aufgefordert, sich selbst zu entwerfen. Das Dasein ist zwar in die Welt “geworfen”, wird aber nicht auf ein bestimmtes So-Sein festgelegt. Es muss sich vielmehr selbst und immer wieder aufs Neue zu dem machen, was es sein will. Doch wie ich mein persönliches So-Sein finde, auf diese Frage gibt Heidegger keine Antwort.

Wissenschaft kann zwar erkennen, was der Fall ist, aber sie wird uns nie sagen können, was wir wollen sollen, so drückt es wiederum Karl Jaspers aus, der Heideggers Philosophie zur eigentlichen Existenzphilosophie führte. Hinter jedem Horizont öffnet sich ein weiterer Horizont ins Unendliche. Dies gilt auch für uns selbst, die wir immer nur Teilaspekte unseres Daseins erkennen können, aber nie wissen, wer oder was wir letztlich im Ganzen unseres Wesens sind. Spannend an einer solchen Vorstellung ist, dass die Idee des Ganzen zu einer Art Fluchtpunkt wird, auf den wir uns zwar zu bewegen könne, die Suche jedoch als Unabgeschlossenes akzeptieren müssen und selbst dann nicht aufgeben sollten, wenn wir uns einmal des Weges irren. Jaspers zufolge seien es gerade die Grenzerfahrungen, denen wir uns stellen müssen, um zu einer Persönlichkeit zu werden und in der Auseinandersetzung mit ihnen unsere Identität zu entwickeln.

Ist es da überhaupt ein Privileg oder nicht vielleicht sogar eher eine Bürde, so viel Freiheit zu besitzen, sich selbst entwerfen zu können, wie es uns als Menschen zusteht? Das ist  die zentrale Frage der Existenzialisten, nach deren Philosophie der Mensch ohne jeden Kompass zu einer angsteinflößenden und zugleich berauschenden Freiheit verdammt ist, die ihm die totale Verantwortung für sein Leben aufbürdet. Der lebendige, auf die Zukunft gerichtete Mensch ist ein Nichts an Sein, ein Werden, dass das, was es eben noch war, schon wieder ausradiert hat, wenn es sich vorwegnimmt, so Jean-Paul Sartre. Der Mensch ist nie identisch mit sich selbst. Und unser Bewusstsein kann auf die quälende Frage „Wer bin ich?“ keine endgültige Antwort geben. Diese Unbestimmtheit aber ist genau das, worin Sartre die eigentliche Freiheit erkennt.

Vielleicht geht es am Ende auch viel weniger darum, eine abschließende Antwort auf die Frage “Wer bin ich?” zu finden, als vielmehr zu ergründen, wer man alles sein könnte. Wozu selbstverständlich auch gehört, Erfahrungen zu machen, in denen ich das Gefühl habe, nicht ich selbst sein zu können, entfremdet zu sein. Wie Lars Eidinger beschreibt, sind es manchmal sogar jene Rollen, die uns zunächst am unähnlichsten scheinen, die uns näher zu uns selbst führen. In dem Sinne, dass sie unsere Existenz, das was wir glauben zu sein, ein Stück weit in die Ferne rücken lassen. Wir können Abstand zu uns selbst gewinnen, was zugleich Raum schafft, neue Seiten an uns zu entdecken. Wir schlüpfen bildlich gesprochen aus unserer Haut, die sich, wie die eines Chamäleons, manchmal zu klein anfühlt, um über uns hinauswachsen zu können. Was nicht heißt, dass dieser Prozess der Seins-Werdung einem linearen Wachstum gleicht. Vermutlich ist es eher ein Vor und Zurück. Ein Ruckeln und Zuckeln. Oder eben ein Kostümwechsel, ein stetiges An-und Ausprobieren. Ein manchmal auch unangenehmer und kräfteraubender Akt der Entdeckung des eigenen Facettenreichtums und der inneren Widersprüche. “Ambiguitätstoleranz”: wir sollten einander mehr Vielfalt zugestehen, Pluralität schätzen lernen und Offenheit und Toleranz kultivieren, heißt es doch so oft. Aber weshalb nur den anderen und nicht auch uns selbst gegenüber? Dafür, dass es in Ordnung ist, sich umzuentscheiden, neue Wege zu gehen, sich auszuprobieren, ganz gleich ob mit 18 oder 80. Eine offene und tolerante Gesellschaft, ermöglicht es in meinen Augen, jedem Menschen gleichermaßen, die eigene Existenz zu erforschen. Im Miteinander mit anderen selbstverständlich, und nicht auf deren Kosten. Sie erlaubt es Menschen, sich in verschiedenen Rollen auszuprobieren, frei und ohne Zwang.

“Werde der, der du bist”, zitiert Nietzsche den griechischen Lyriker Pindar. Was nach einer Hymne moderner Selbstverwirklichung klingt, könnte, etwas weiter gefasst, eine Einladung sein, die eigene Vielheit der Identität, das Facettenreichtum in sich selbst und damit auch in anderen, anzuerkennen. Ohne, dass es dafür eine Erklärung bedarf, wie es auch das kleine Ich-bin-Ich voller Erleichterung feststellt:

„So, jetzt weiss ich, was ich bin! Kennt ihr mich? ICH BIN ICH!“ Alle Tiere freuen sich, niemand sagt zu ihm: „Nanu?“ Schaf und Ziege, Pferd und Kuh, alle sagen: „Du bist du!“ Auch der Laubfrosch quakt ihm zu: „Du bist du! Und wer das nicht weiss, ist dumm! Bumm!”

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch der Podcast gefällt, teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Außerdem würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir weiterhin gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast. 

10. Juni 2021

Emilia Roig & Mohamed Amjahid: Wie lässt sich Rassismus verlernen?

von Henrietta Clasen 13. Mai 2021

“Was ich nicht sehe – existiert nicht.” Mit dieser verkürzten Sichtweise, wie Scheuklappen vor den Augen, laufen nicht wenige Menschen durch die Welt. In einer sicheren, weißen Blase, ausgepolstert mit Privilegien, die das Leben komfortabel machen, haben sie sich eingenistet. Mohamed Amjahid, nennt sie “Parallelgesellschaften” – Räume, die sozial segregiert sind, in denen sich Communities bilden. An und für sich erstmal nichts Schlimmes. Problematisch wird es erst dann, wenn diese Blasen dafür sorgen, dass Menschen sich und ihr Handeln nicht mehr in Frage stellen. Um eben diesen Perspektivwechsel und die Dekonstruktion dessen, was viele Weiße für die „Normalität“ halten, geht es Emilia Roig in ihrem Buch „Why We Matter“. Gemeinsam mit Mohamed Amjahid, dem Autor von “Der Weiße Fleck” habe ich mich unter anderem darüber unterhalten, wie sich eine antirassistische Haltung erlernen lässt, was es mit dem Begriff der “Intersektionalität” auf sich hat und, wie privilegierte Menschen, zum Ally werden können.

Shownotes:

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► Emilia Roig: Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung, Aufbau Verlag.
► Mohamed Amjahid: Der Weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken, Piper Verlag.
► Emilia auf Twitter und Instagram.
► Mohamed auf Twitter und Instagram.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

13. Mai 2021

Hengameh Yaghoobifarah: Sollten wir wütender sein?

von Henrietta Clasen 28. April 2021

Ein Mensch, der seine Wut nicht auf sich sitzen lässt, sondern ihr Raum gibt, ist Hengameh Yaghoobifarah. Als “Reizfigur” bezeichnete die sz Hengameh kürzlich. Weil angeblich kaum ein* Autor*in im vergangenen Jahr so viel Solidarität und Empörung zugleich auf sich zog. Aber, warum ist das so? Weil Hengameh queer, nicht-binär, migrantisch oder Feminist*in ist? Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, in der gewisse Eigenschaften als “normal”, andere als “abnormal” gelten. Nicht selten geht diese Kategorisierung, meist von weißen, cis-Personen vorgenommen, mit Stigmatisierung oder gar blankem Hass einher, der jenen entgegengebracht wird, die von der sogenannten “Norm” abweichen. Kann man angesichts dieser Umstände überhaupt von einer freien Gesellschaft sprechen? Ist diese nicht erst dann erreicht, wenn Menschen sich, ohne Angst vor Diskriminierung haben zu müssen, zu ihrer Identität bekennen können? Über diese und weitere Fragen, hat sich Marilena Berends ausführlich mit Hengameh Yaghoobifarah unterhalten.

Shownotes:

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►Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume, Aufbau Verlag (2021).
► Podcast Auf eine Tüte mit Hengameh Yaghoobifarah. 
► Hengameh auf Instagram und Twitter.
►Hengameh’s taz Kolumne Habibitus
► SZ-Magazin: “Reizfigur: Hengameh Yaghoobifarah im Porträt”.

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28. April 2021

Igor Levit: Können wir überhaupt unpolitisch sein?

von Henrietta Clasen 12. April 2021

Was macht ein Pianist, der keine Konzerte mehr spielen kann? Auf diese Frage gibt es sicherlich viele Antworten. Eine davon liefert Igor Levit, den die New York Times als einen der „bedeutendsten Künstler seiner Generation“ beschreibt. Bereits am 12. März 2020, entschließt sich Igor die Konzerte in sein heimisches Wohnzimmer zu verlegen. Jeden Abend um 19 Uhr spielt er live – und tausende von Menschen schauen und hören ihm via Twitter und Instagram dabei zu. Marilena hatte die Gelegenheit, sich mit Igor Levit persönlich zu unterhalten und mit ihm über das vergangene Jahr zu sprechen, das ihn, wie er sagt, näher zu sich selbst geführt hat, wie kaum ein anderes. Es ist ein Gespräch, das sehr persönlich erscheinen mag, uns auf der anderen Seite aber auch das Politische, das Igor als untrennbar mit seinem Wesen verknüpft begreift, vor Augen führt. Denn gibt es eigentlich irgendetwas im Leben, das nicht politisch ist? Können wir unpolitisch sein? 

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► Website Igor Levit.
► Igor Levit, Florian Zinnecker: Hauskonzert. Hanser Literaturverlage.
► Musik: Waldsteinsonate, Igor Levit. Mit freundlicher Genehmigung von Sony Music International .

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12. April 2021

Joséphine Sagna: Kann Kunst (uns) befreien?

von Henrietta Clasen 5. April 2021

Joséphine Sagna setzt sich in ihrem künstlerischen Schaffen mit der Identitätsfrage einer Schwarzen Frau in einer weißen Mehrheitsgesellschaft auseinander. Mit Vorurteilen und Rassismus, Fremd- und Eigenwahrnehmung, Intimität und Selbstinszenierung der Dargestellten. In den Mittelpunkt stellt sie den weiblichen Körper, selbstbewusste, starke BIPoC-Frauen, die sich dem westlichen Schönheitsideal entgegenstellen. Joséphine Sagna möchte die Essenz der Figuren darstellen, ihre laute, leise, weiche, starke und freie Art in einem vielschichtigen und fragmentarischen Bild einfangen — Schicht für Schicht, vielfarbig und mit unterschiedlichen Facetten. 

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► Website Joséphine Sagna.
► Joséphine Sagna auf Instagram.
► Doku My Body – My Art. Frauen. Körper. Kunst. auf 3sat u.a. mit Joséphine Sagna.

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5. April 2021

Hollywood und der Male Gaze – wo bleibt die Vielfalt auf der Leinwand?

von Henrietta Clasen 9. März 2021

Warum spielen Männer eigentlich so oft die Hauptrolle in Filmen, während Frauen meist deutlich weniger Redeanteil haben, dafür aber viermal so oft nackt dargestellt werden, wie ihre männlichen Kollegen? Mal ganz zu schweigen von der (Un-)Sichtbarkeit nicht-binärer Personen. Der sogenannte Male Gaze dominiert noch immer Hollywood. Ein aktiv-männlicher, kontrollierender und neugieriger Blick, der nicht nur die Filmindustrie bestimmt, sondern damit auch unser Leben, unseren Blick auf die Welt. Was daran problematisch ist und, wie ein Gegenentwurf aussehen könnte, der Vielfalt statt die ewige selben Rollenklischees produziert, davon erzählt Elisabeth Krainer in ihrem Gastbeitrag.

SHOWNOTES:

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► The Guardian: „Male Glance: How we fail to take women’s stories seriously“
► Jean-Paul Sartre: „Das Sein und das Nichts“
► Eva Illouz: „Der Konsum der Romantik“
► Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“
► Plan International: „Welt-Mädchenbericht 2019 zu Frauenrollen in Kinofilmen“
► Stacy L. Smith: „Annenberg Inclusion Initiative“
► Nina Menkes: „Sex and Power: The visual Language of Oppression“
► Alison Bechdel: „The Bechdel-Test“
► Joey Soloway: „The Female Gaze“

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Transkript: Hollywood und der Male Gaze – wo bleibt die Vielfalt auf der Leinwand?

Nach einem langen Arbeitstag oder am Wochenende sich gemütlich einen Film oder eine Serie auf dem Sofa anschauen? Na klar. Filme und Serien gehören zum Alltag der meisten von uns. Gerade in Zeiten von Corona sind sie für viele eine Art Rettungsanker, um sich die Zeit im Lockdown zu vertreiben. Allein im ersten halben Jahr von 2020 konnte Netflix sage und schreibe 26 Millionen neue Abonnenten gewinnen. Wir verbringen also mehr Zeit denn je vor dem Fernseher oder Laptop, streamen, lassen uns berieseln, unterhalten – mal mehr, mal weniger bewusst. Doch selbst, wenn wir meinen, nur einen Film zu schauen, um zu entspannen, der Realität ein wenig zu entflüchten, so vergessen wir oft, dass eben dieser sehr wohl auch unsere Realität bestimmt. Insofern, als dass Geschichten, Bilder und vor allem die Sichtweise aus der diese erzählt werden, unsere Welt beeinflussen. Oft ohne, dass wir es merken. Dass Filme und Serien unweigerlich politisch sind, war mir lange Zeit nicht bewusst. Ist ja bloß Unterhaltung, dachte ich. Erst, als ich begann mich zu fragen, weshalb eigentlich in fast jedem Film, den ich sah, der Mann die Hauptrolle spielte, während Frauen meist dazu verdammt waren, ansehnliche Dekorationsfiguren darzustellen – stumm, aber nett anzuschauen, begann ich zu realisieren, dass da etwas nicht stimmen konnte. Warum zu Teufel waren Frauen eigentlich so oft nackt in Filmen zu sehen? Ganz einfach: Es ist der “Male Gaze”, ein aktiv-männlicher, kontrollierender und neugieriger Blick, der noch immer die Filmindustrie bestimmt und damit auch unser Leben, unseren Blick auf die Welt. Was daran problematisch ist und, wie ein Gegenentwurf aussehen könnte, der Vielfalt anstelle der ewig selben Rollenklischees produziert, davon erzählt Elisabeth Krainer, die als freie Journalistin und Autorin über die großen und kleine Fragen in der Popkultur schreibt,  in ihrem Gastbeitrag. 

Bevor wir beginnen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht auch schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Vielen Dank.


Perfekte Frauen, gestählte Körper, Hetero-Beziehungen und Helden, die am Ende die Welt mit ihrer unbesiegbaren Männlichkeit retten – kommt euch bekannt vor? Kein Wunder, diese klassische Heldenreise lässt sich vor allem in vielen Filmen und Serien der Popkultur finden. James Bond ist nur ein Beispiel dafür. Sie erzählt die immer gleiche Geschichte aus der immer gleichen Perspektive. Seit mehreren Jahrzehnten. Klingt langweilig? Ist es auch. Die Bond-Filme reproduzieren im Grunde eines: den Male Gaze, eine heteronormative, cis-männliche, weiße Sichtweise auf eine Geschichte und deren Protagonist*innen. Der Begriff ist vor allem in der Filmtheorie bekannt, lässt sich aber auch auf andere Bereiche unseres Alltags übersetzen: auf Werbung zum Beispiel, die die immer gleichen Stereotype mit der fadenscheinigen Erklärung „Sex sells“ reproduziert, oder auch unsere Sprache. Begriffe wie „Mutti“ oder „Powerfrau“, sprechen aus der cis-männlichen Perspektive und dienen vor allem dazu, das Weibliche abzuwerten und zum Objekt zu stilisieren. 

In der Unterhaltungsindustrie findet jetzt scheinbar ein Umdenken statt: Die Macher*innen hinter James Bond haben den Schuss (endlich!) gehört, denn die nächste Protagonistin ist schwarz und weiblich. Das ist ein guter Schritt, aber auch ein längst überfälliger. Zum Glück gibt es da draußen noch mehr als Bond: Spätestens seit Produzentinnen, wie Phoebe Waller-Bridge oder Shonda Rhimes aufgetaucht sind und „Killing Eve“ oder „Fleabag“ auf unsere Bildschirme gebracht haben, öffnet sich der kollektive Blickwinkel. Das ist wichtig – weil Filme und Serien die meist konsumierte Form von Storytelling unserer Zeit darstellen und damit Einfluss auf unsere Art, Menschen und Situationen zu beurteilen haben. Und, weil vieles, wovon wir uns täglich unterhalten lassen, unterbewusst nachwirkt. Das lässt sich auch auf die Art, wie wir Kunst von Männern und Frauen bewerten, übertragen: Filme, Serien, Bücher oder Kunst von Männern gilt als universal, die von Frauen dagegen häufig als trivial, emotional oder häuslich, ungeachtet des Inhalts. Dadurch entstehen leere Kategorien wie „Frauen-Literatur“, die nichts über Qualität oder Inhalt aussagen. Das britische Medium The Guardian nennt diese Kategorisierung zwischen männlicher und weiblicher Kunst Male Glance und beschreibt, wie wir verlernt haben, weibliche Kunst ernst zu nehmen und unabhängig der Geschlechtsidentität des*der Künstler*in zu bewerten. Beim Male Gaze oder Male Glance wird der Blickwinkel also von einer möglichen Vielzahl an Perspektiven, wie durch Scheuklappen begrenzt – auf hetero, cis-männlich und meistens weiß.  Wer sein Leben lang mit Scheuklappen durch die Welt rennt, merkt allerdings erst dann, dass das Blickfeld eingeschränkt ist, wenn die Scheuklappen verschwunden sind. Höchste Zeit also, die Aussicht zu erweitern.

Woher kommt diese männliche Perspektive und deren Dynamik, durch die wir Geschichten bisher betrachtet haben? Die Grundform des Begriffs wird auf die Gaze Theory zurückgeführt, die von dem Philosophen Jean-Paul Sartre beschrieben wurde – als „Der Blick“ in seinem Werk „Das Sein und das Nichts“ von 1943. Er erklärt darin, dass die Interaktion zwischen zwei Individuen immer zwei Ebenen hat – die, des*der Blickenden und die, auf den*die geblickt wird. Dadurch entstehe, so Sartre, ein Machtgefälle, da der*die Blickende zum Subjekt, und der*die jeweils gegenüberstehende Person zum Objekt werde. Die Soziologin Eva Illouz nennt diesen Vorgang „Verdinglichung“: Die Frau, das Objekt, werde dabei rein nach ästhetischen und sexuellen Attributen bewertet.

Der Begriff Male Gaze wurde dann in der feministischen Filmtheorie bekannt, als Filmkritikerin Laura Mulvey den Essay „Visuelle Lust und narratives Kino“ 1975 veröffentlichte – mit der These, dass Frauen im Film durch den heteronormativen Blick des Cis-Mannes abgewertet und sexualisiert würden. Dabei bezieht sich Mulvey auf Aspekte der Psychoanalyse: Der Male Gaze bediene eine Art Voyeurismus, der sexuell erregt, auch als „The Pleasure of Looking“ bezeichnet. Das mache die Film-Narrative zu einer sozial-gesellschaftlichen Kraft, die Frauen immer wieder in die Rolle des Objekts drängen und als Folge der patriarchalen Machtstellung zu deuten seien. Dem Publikum werde der maskuline Blick aufgedrängt, ungeachtet von deren Geschlechtsidentität. Zudem bezieht sich Mulvey auf die psychoanalytische These von Jacques Lacan, der den sogenannten „narzisstischen Blick“ definiert hat – als einen Moment der Identifikation, der laut Mulvey auch im Film gegeben sei: in Form von überstilisierten, mächtigen Männern, mit denen sich das männliche Publikum identifizieren könne.

Jetzt ist der Male Gaze aber nicht bloß eine Theorie für eine kleine Gemeinschaft von „Film-Nerds“, die sich mit Feminismus auseinandersetzt, sondern popkultureller Alltag für uns alle. Wir konsumieren Filme, Serien, Bücher oder Kunst aus einer ganz bestimmten Perspektive – die uns aus Mangel an Alternativen häufig total normal vorkommt. Dieser bestimmte Blickwinkel steckt tief im westlichen Kultur-Verständnis und beginnt bereits in der antiken Dichtung, etwa mit Homers Odyssee, die bereits die klassische Heldenreise skizziert, in der der männliche Blick dominiert. Bis heute strahlt der Einfluss in alle Milieus aus und ist auch in der Literatur und Kunst präsent.

In der gegenwärtigen Popkultur beginnt das Problem allerdings weit vor dem Moment, in dem wir auf Play drücken: Es beginnt dort, wo die Unterhaltung produziert wird – in Hollywood zum Beispiel, das auch im 21. Jahrhundert immer noch Dreh- und Angelpunkt der westlichen Unterhaltungs-Industrie darstellt. In den letzten hundert Jahren wurden dort in erster Linie Filme von Männern für Männer produziert. Vom Drehbuchautor bis zum Kamera-Assistenten waren Film-Sets vor allem weiß, männlich, hetero.  Bis heute hat sich daran nur bedingt etwas geändert: Die Professorin Stacy L. Smith befasst sich seit etwa 15 Jahren mit der Rollenverteilung in Hollywood, vor und hinter der Kamera. Auf der Leinwand scheint sich zumindest in Sachen Repräsentation etwas zu tun: In ihrer Studie wurden rund 53.000 Charaktere aus 1200 Filmen zwischen 2007 und 2018 analysiert, also 100 Filme pro Jahr. 2007 waren darin 20 weibliche Hauptrollen zu finden, 2018 dagegen 39. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass diese Rollen nicht auch sexualisiert werden. Die, die sie umsetzen, sind nämlich auch 2018 noch weitestgehend Männer – der Anteil weiblicher Regisseurinnen liegt bei gerade einmal vier Prozent.

Genauso stereotyp, wie der Male Gaze, wäre es allerdings zu behaupten, dass jeder cis Mann, der Filme oder Serien produziert, dies automatisch nur anhand vorgefertigter Rollenbildern tut. Es gibt sie, die Produzenten und Regisseure, die es schaffen, nicht bloß Klischees zu bedienen – Noah Baumbach mit seinem letzten Film „Marriage Story“ etwa, der die Schauspielerin Scarlett Johansson in einer rauen, unperfekten und authentischen Rolle zeigt, ohne sie darin auf ihren Körper zu reduzieren, der in der Vergangenheit öfter Thema der Medien war als ihre schauspielerische Leistung. Oder Director Ryan Murphy, der mit seiner Netflix-Serie „Pose“ trans Schauspieler*innen eine Bühne bietet und sie weit weg von gängigen Klischees auftreten lässt. Wäre es aber nicht einfach fair, die Menschen auch hinter der Kamera mitreden zu lassen, die täglich erleben, wovon andere nur theoretisieren können? Also cis, queer oder trans Frauen zum Beispiel? 

Durch die Mehrheit von cis Männern hinter der Kamera ist der Male Gaze so alltäglich, dass er sich an manchen Stellen schwer aufdecken lässt. Ein guter Hinweis sind sogenannte „Tropes“, also Charaktere, die ausschließlich platte Klischees bedienen – und häufig Frauen betreffen, denen keine eigenen Bedürfnisse zugeschrieben werden und die nur dazu dienen, den männlichen Blick zu befriedigen. Dazu zählt das eiskalte, aber sehr attraktive Biest wie etwa Rachel McAdams in „Girls Club“, die vor allem andere Frauen verabscheut, das Mauerblümchen in prekärer Lage, das von einem Mann entdeckt werden muss, um zu voller Blüte zu gelangen, wie Julia Roberts in „Pretty Woman“ oder das weit verbreitete Phänomen des dicken, lustigen Sidekicks, wie Rebel Wilson in „Pitch Perfect“, die zwar zum Brüllen komisch ist, aber vor allem dann, wenn sie Witze auf Kosten ihres Körpers macht. Der sogenannte „Bechdel-Test“ dient dazu, diese einfältigen Plots und Charaktere zu entlarven. Er wurde in den 80ern von Autorin und Comic-Zeichnerin Alison Bechdel in einem Comic verwendet und besteht aus drei einfachen Fragen: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Und: Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Klingt lapidar, ist es auch – und trotzdem gibt es bis heute Filme, die trotz eines nicht bestandenen „Bechdel-Tests“ für einen Oscar nominiert waren. Der Test ist nicht wissenschaftlich und kein aussagekräftiges Barometer dafür, ob ein Film wirklich sexistisch ist, den Male Gaze reproduziert oder nicht – aber er kann als erster Check hilfreich sein, bevor man auf Play drückt.

Regisseurin Nina Menkes beschreibt in ihrem Artikel „Sex and Power: The Visual Language Of Oppression“ einfache Hinweise, die den Male Gaze entlarven können. Zum Beispiel: Wie häufig sieht man einzelne Körperteile von Frauen, während man ihren Kopf (und damit Gesichtsausdruck, Emotionen, etc.) nicht sieht? Wie ist die Person ausgeleuchtet? Darf sie z.B. ihre Stirn in Falten legen oder wird sie wie ein glatt gebügeltes, übermenschliches Wesen, das allen Schönheitsidealen entspricht, dargestellt? Bringt es den Inhalt irgendwie weiter, dass die Person in bestimmten Szenen nackt oder leicht bekleidet ist? Wird bloß über sie gesprochen oder kommt sie auch zu Wort? Die Organisation Plan International hat 2018 gemeinsam mit dem Geena Davis Institut die 56 umsatzstärksten Filme und deren Hauptrollen analysiert. Das Ergebnis: Männer reden doppelt so viel und haben doppelt so viele Rollen, Frauen dagegen sind viermal öfter nackt als männliche Rollen. Das hinterlässt Eindruck beim Publikum. Allerdings soll das nicht heißen, dass alle filmischen Sexszenen oder Ähnliches komplett aus der Filmwelt verbannt werden sollten. Sondern lediglich, dass man darin auch andere Perspektiven als die, des männlichen Subjekts sehen sollte.

Wie kann ein Gegenentwurf dazu aussehen? Hier kommt der Female Gaze ins Spiel: Bedeutet er bloß die Umkehrung von Objekt und Subjekt? Also sollen Männer jetzt von cis Frauen sexualisiert werden? Der Begriff wurde bisher noch nicht wissenschaftlich definiert – über die Bezeichnung lässt sich also durchaus streiten. Fraglich ist, ob es im 21. Jahrhundert Sinn der Sache sein kann, die Perspektive von Menschen rein auf deren Geschlecht und Sexualität zu reduzieren, und davon auszugehen, es gäbe nur zwei Geschlechter. Es geht nicht um die Umkehrung von Objekt und Subjekt im binären Gender-Konstrukt, sondern um die vielschichtigen Möglichkeiten außerhalb der heteronormativen, männlichen Normen, die seit Jahrhunderten verdrängt werden. Da dann aber ein Begriff basierend auf dem binären Geschlechter-Konstrukt problematisch ist, gibt es Alternativen dazu, wie den Feminine Gaze, der sich nicht auf das biologische Geschlecht bezieht, sondern auf Eigenschaften, die weiblich gelesen werden, oder der Individuals’ Gaze, der sich völlig vom Geschlecht abkoppelt. 

Der nicht binäre Produzent Joey Soloway hat 2016 auf dem Toronto Film Festival, den Female oder Feminine Gaze als eine diverse, vor allem auf emotionaler Ebene authentische Perspektive beschrieben. Eine Perspektive, die Protagonist*innen ungeachtet deren Geschlechtsidentität Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Ängste zugesteht. Die ambivalent handeln und denken, ja sogar zum Objekt werden können – sofern sie es selbst wollen. Das funktioniert aber nur, wenn unterschiedliche Perspektiven an der Entstehung beteiligt sind. Das beweist etwa Soloway selbst, mit der Serie „Transparent“, in der sich ein Familienvater nach vielen Jahren als trans outet. Oder mit Phoebe Waller-Bridge, die mit „Fleabag“ den Gegenentwurf zu all den misogynen „Frauen-Serien“ geschrieben und produziert hat. In Fleabag sind Frauen ambivalent, derb, unausstehlich und zum Brüllen komisch. All das ist möglich, spannend und sehr unterhaltsam – sofern man nicht versucht, zwanghaft ein cis-männliches Machtkonstrukt aufrechtzuerhalten. Wie schade um die vielen guten, unterhaltsamen und innovativen Ideen, die es nicht auf unsere Bildschirme geschafft haben, weil der*die Urheber*in nicht cis-männlich ist.

Die gute Nachricht: Der Zeitgeist verändert sich, und damit auch die Popkultur. Die Diversität von Filmen und Serien und die weniger platten Charaktere, die auf der Leinwand stattfinden, sind Beweis dafür. Regisseur*innen wie Greta Gerwig, Ava DuVernay, Joey Soloway oder Chloé Zhao, die vielschichtige Rollen erschaffen und zeigen, verändern die Branche. Allerdings stehen nicht nur Produzent*innen in der Verantwortung: Auch Konsument*innen können dafür sorgen, dass diverse Stoffe mehr Aufmerksamkeit erhalten, indem sie u.a. Filme und Serien bewusst auswählen. Hollywood, Streamingdienste, Verlage und Co. reagieren vor allem auf Geld und View-Zahlen. Wer also “plattes Zeug” streamt, liest, konsumiert, unterstützt letztlich die Produktion von mehr “plattem Zeug”. Es lohnt sich langfristig, genau hinzuschauen: Wessen Perspektive unterstütze ich? Damit kann man vielleicht nicht die gesamte Unterhaltungsindustrie auf den Kopf stellen, aber zumindest einen ersten Schritt in Richtung Vielseitigkeit tun.


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9. März 2021
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