Wenn wir “Heimat” als Chiffre eines Ortes betrachten, der einem vertraut ist, an dem man zuhause und nicht fremd ist, dann ergibt sich daraus eine toxische Mischung. Denn, wie kann ein Mensch an einem Ort nicht fremd sein, an dem er als fremd stilisiert wird? Migration und Identität sind eng miteinander verwoben – an einem Ort fremd und damit gleichzeitig „in der Fremde“ zu sein, zerstört die Selbstverständlichkeit, die Identität eigentlich ausmacht. In Anlehnung an Bloch, der einst schrieb, Heimat sei kein Raum, sondern Perspektive, plädiert Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz inihrem Gastbeitrag für einen Perspektivwechsel – zu mehr Pluralität in unserer Gesellschaft und die Auflösung statischer und ausgrenzender Begriffspraktiken.
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► “Wandernde Identitäten” Philip Cohen, Reclam
► “Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!”, Superflex
► “Reframing Migration, Diversity and the Arts: The Postmigrant Condition” Moritz Schramm, Sten Pultz Moslund und Anne Ring Petersen, Routledge
► „Vertrauter Fremder“: Autobiografie von Stuart Hall, WDR 5
► “Dossier Migration”, bpb
► “Stuart Hall und der Rassismus. Keine Identität ist garantiert”, FAZ
► “Stuart Hall: ‘Vertrauter Fremder’ Ein Leben zwischen allen Stühlen”, Deutschlandfunk Kultur
► “Ambivalente Identitäten”. Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein.
► “Ich bin die Flüchtlinge” Vida Gouma, Der Tagesspiegel
► “Die Geschichten einer Familie – Heimaten in Zeiten von Wandel, Umbrüchen und Migration”. Kübra Gümüşay
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Transkript: Wandernde Identitäten – Heimat als Raum für neue Begegnung?
Vor fast zwei Jahrzehnten, im Jahr 2002, entwickelte das dänische Künstlerkollektiv Superflex eine interventionistische Kampagne als Antwort auf Dänemarks zunehmend reaktionäre Einwanderungspolitik. Auf orangefarbenen, in den Straßen Kopenhagens aushängenden Plakaten, hieß es in schwarzen Großbuchstaben „Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!“ – also „Ausländer:innen, lasst uns nicht mit den Dänen allein!“. Was auf den ersten Blick als bloße Parodie auf politische Plakate mit rassistischen Slogans erscheinen mag, legt auf den zweiten Blick ein komplexes Gefüge frei: „Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!“ Also ein Dreigespann aus dem „Innen“, dem „Außen“ und dem „Dazwischen“. Denn obwohl Superflex mit der direkten Ansprache der sogenannten „Ausländer:innen“ ihren sozialen Stellenwert hervorhebt und damit die populistische Logik umkehrt, wird die binäre Logik zwischen „den Dänen“ und der Kategorie „Ausländer:innen“ reproduziert. Eine Dialektik zwischen den Sesshaften und den Wandernden. Also zweier homogener, identitärer Einheiten, die unvereinbar scheinen. Dazwischen existiert das „Wir“, das die Erklärung auf dem Plakat abgibt; also offenbar gleichzeitig Insider und Outsider der dänischen Gesellschaft ist, und damit eine ambivalente kollektive Position einnimmt. Geöffnet wird mit dieser Konstellation eine Art durchlässiger Zwischenraum, der die Position vieler Menschen mit (oder ohne) Migrationsgeschichte zwischen Staatsbürgerschaft und dem Status oder der Kennzeichnung als Ausländer:innen zu beschreiben vermag.
Die Botschaft des Slogans, der vor fast 20 Jahren in Kopenhagens Straßen prangte, hat, so meine ich, ihre Aktualität keinesfalls verloren. Und sie beschränkt sich nicht nur auf eine Nation, sondern hat vielmehr transnationalen Gehalt. Sie greift in Dänemark, in Frankreich, in Großbritannien, in Deutschland. Sie greift in jeder postmigrantischen Gesellschaft; also in jeder Gesellschaft, die durch Migration geprägt ist. Es lohnt sich demnach ein genauerer Blick in den genannten „Zwischenraum“. Mit dieser Metapher meine ich keinesfalls einen statischen Raum im Sinne eines „Gefangenseins“ zwischen zwei Kulturen – also zwischen eigener Kultur und jener der Aufnahmegesellschaft, als geschlossene und unveränderbare Systeme – sondern vielmehr einen synthesefähigen Raum. Ist es in diesem Fall überhaupt sinnvoll, von einem „Dazwischen“ zu sprechen? Oder anders gefragt: Wie sind Identität und Migration zusammenzudenken?
Hinter der Kampagne von Superflex lässt sich aus der Perspektive des „Wir“ – also derjenigen, die nicht mit der Aufnahmegesellschaft allein gelassen werden möchten – eine Solidaritätserklärung gegenüber Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte vermuten. Eine Geste der Inklusion. Das komplexe Gefüge des Slogans formuliert den Wunsch, „Ausländer:innen, bitte bleibt!“, misst ihnen also eine partizipative Rolle zu und kehrt damit zwei prominente rechtspopulistische Formeln um, nämlich „Ausländer raus!“ oder auch „Ausländer nach Hause!“. Was aber ist mit diesem „Zuhause“ gemeint? Der Soziologe Philip Cohen beschreibt die Komplexität und die Unschärfe des Begriffes “Heimat”: Das zu Hause des Engländers, so sagt er, „ist sein Schloss, das Land des Franzosen ist sein Dorf oder seine Region, die Heimat des Deutschen ist der Boden und die Seele der Nation, das Bantustan des Afrikaners ist das Gefängnis der Apartheid“. Heimat ist also nicht gleich Heimat; es ist kein universaler Begriff. Die sogenannten “Heimatländer”, in die die Menschen zurückkehren sollen, sind ihnen zumeist durch innere Entwicklungen oder äußere Einwirkungen fremd gemacht worden. Sie sahen sich gezwungen sich eine Heimat fern der Heimat zu schaffen, sind also in vielfältigen Geschichten zu Hause.
„Ich bin zu Hause, aber ich bin nicht zu Hause“, sagte einst der britische, aus Jamaika stammende Soziologe Stuart Hall. Damit legt er nicht nur einen prägenden Zwiespalt (s)einer migrantischen Biographie frei, sondern stellt eine enge Verbindung zwischen Identität und dem Gefühl kollektiver Zugehörigkeit oder eben Nicht-Zugehörigkeit heraus. Eine Erfahrung, die Hall wohl mit Millionen von Menschen teilt, die in der Epoche der Entkolonialisierung aus den ehemaligen Kolonien in ihr altes, sogenanntes “Mutterland” migrierten, als Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen oder im Zuge der globalen Fluchtmigration ihre einstige Heimat verlassen mussten. Migration prägt unsere Gesellschaften. Als Prozess hat sie sich zu einem selbstverständlichen Zeichen unserer globalisierten Gegenwart manifestiert. Leider bedeutet das nicht, dass sie gemeinhin gesellschaftlich akzeptiert ist, wie sich etwa am Entstehen und Erstarken rassistischer Organisationen und Parteien wie der AfD oder der Identitären Bewegung in den letzten Jahren sehen lässt.
Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff “Migration” im weitesten Sinne als einen Wanderungsprozess von Personengruppen im geographischen Raum, als eine langfristige Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes. Verbunden mit dem Begriff der Identität bedeutet Migration folglich: Identitäten in Bewegung. Identitäten, die wandern. Wenn wir uns dieser Begriffsübersetzung aus semantischer Perspektive nähern, gibt sie Aufschluss über ihren Doppelsinn: Denn, wenn Identitäten wandern, sind sie nicht statisch, nicht rein auf ihren ethnischen Ursprung, ihre Wurzeln, reduzierbar. Und Migration meint in diesem Sinne mehr, als einen rein geographischen Wanderungsprozess; der Begriff trägt gleichzeitig einen Neuaustausch und eine Neupositionierung in der Welt mit sich. Räumlich, wie emotional. Identität ist demnach keine feste Gegebenheit. Stuart Hall beschreibt sie als eine „stets unbeendete Unterhaltung“ – „Identität im Singular, wird niemals abschließend erlangt. Identitäten, im Plural, sind die Mittel des Werdens.“ Hiermit unterstreicht er die Prozesshaftigkeit des Identitätsbegriffes. Es wird also problematisch, wenn Identität mit rein essentialistischen Begriffen beschrieben wird, also als feststehend und unveränderlich gilt. Diese Argumentation ist zum Beispiel im Neorassismus prominent: Demnach werden Menschen oder Bevölkerungsgruppen, ihre Lebens- und Verhaltensweisen, ihre Traditionen und religiösen Praktiken unabänderlich durch ihren Ursprung, also ihre “Wurzeln”, bestimmt. Identität wird damit als ein permanentes zuhause, eine unveränderbare Existenzweise in der Welt, aufgefasst. Genau dieser Aspekt macht es so einfach, Migration im Kontrast hierzu als unaufhörlichen Zustand der Heimatlosigkeit zu begreifen. Und gleichzeitig wird Menschen in diesem Kontext ihre Individualität abgesprochen; sie werden gemeinhin als “Fremde”, als die “Anderen” homogenisiert. 2019 veröffentlichte der Tagesspiegel ein Rätsel, in dem es heißt: “Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin! Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets, Erdogan und seine Demokratie, Putin und seine Politik. Ich war der Hauptgrund für […] die Erstarkung der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, […] Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erzieher. Ich bin derjenige, der sich immer schuldig fühlt für die Fehler anderer Menschen. Menschen, die er gar nicht kennt. Ich bin derjenige, der sich immer schämt, Nachbarn zu begrüßen, wenn wieder irgendwo etwas passiert. Ich hafte für die Fehler jedes einzelnen und fühle mich bedroht von jedem Bericht in den Medien. Habt ihr mich erkannt? Ich bin ‘die Flüchtlinge’!” Verfasst wurde der Beitrag von der aus Syrien geflohenen Juristin Vinda Gouma. “Der Migrant” wird gesellschaftlich als anarchische Figur konstruiert, der die gesellschaftliche Ordnung aus den Fugen bringt. Die Wandernden gegen die Sesshaften.
Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha antwortet auf die Frage danach, was geschieht, wenn Kulturen in Kontakt treten, mit der Idee eines migratorischen „Dritten Raums“. Es ist ein metaphorischer Zwischenraum, in dem sich Kulturen nicht nur treffen, sondern gleichzeitig miteinander in Berührung kommen. Sie geraten ineinander, statt aneinander und beeinflussen sich gegenseitig. Ein Raum also, in dem die Geschichten, aus denen er besteht, verdrängt und neue Strukturen aufgebaut werden. Er bricht die homogenisierende, vereinheitlichende Kraft der historischen Identität der Kultur(en) auf. Migration bringt demnach einen symbolischen Prozess der Auflösung mit sich, in dem sich Gemeinschaften und Kulturen durch die Imagination ihrer Mitglieder erneuern; also einen identitären und ideellen Wandel im Laufe der Zeit, im Laufe der Generationen. Identität in diesem Sinne, ist also mehr als die Summe ihrer Teile; sie ist mehr als ein Gemenge gegebener Elemente, ihrer Nationalitäten, die sich einfach addieren oder multiplizieren lassen. Philip Cohen beschreibt Identität in diesem Zusammenhang sehr treffend als die bewegliche Linienführung einer Geschichte, die sich zwar als zusammenhängende Erzählstruktur entfaltet, trotzdem aber offen bleibt für wiederkehrende Neuverhandlungen, die das Ergebnis innerer Konflikte und sozialer Widersprüche sind und fortlaufend bearbeitet werden müssen. Geprägt durch seine eigene Einwanderungsgeschichte, seine “wandernde Identität”, sieht auch Stuart Hall Gesellschaften und Kulturen nicht durch Wurzeln, sondern vielmehr durch Wege bestimmt. Das, was sich derzeit noch sehr stark auf Herkunft oder die „Wurzeln“ konzentriert, vernachlässigt, dass Menschen ebenso aus vielen Imaginationen bestehen; von dem, was noch nicht ist, was noch sein könnte. Anstelle der Frage nach der Herkunft – der “Wurzeln” – der Menschen, sollte nach den Wegen gefragt werden, die sie zu dem gemacht haben, wer sie sind. Und mehr noch – auch Gesellschaften sind durch Wege gezeichnet. Sie haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Die Journalistin und Autorin Kübra Gümüsay unterstrich im Rahmen eines Vortrags den Stellenwert von Pluralität und pluralem Denken: Wenn wir demnach Pluralität in der Gesellschaft kommunizieren möchten, wenn sie einen selbstverständlichen Platz, oder vielmehr “Raum” in ihr einnehmen soll, dann darf sich diese plurale Hoffnung nicht nur auf die Zukunft beziehen; ein pluraler Blick in die Vergangenheit ist ebenso wichtig: Auf die vielen Menschen, die unsere Gesellschaft mitentwickelt, mitgestaltet haben. Ihre Geschichte ist Teil dessen. Auch Deutschland ist seit Jahrhunderten durch Einwanderung geprägt. Migration und Bewegung sind seit Jeher Teil unserer Erde. Sie ist durch „wandernde Identitäten“ geprägt.