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Philosophie

Ist Smalltalk unterschätzt?

von Marilena 22. Juli 2025

Ein kurzer Blick, ein flüchtiges Lächeln – und trotzdem bleibt etwas hängen. In dieser Folge geht es um all die Mikrobegegnungen im Alltag: der Plausch mit der alten Dame im Zug, der Kioskverkäufer der einem nett zulächelt oder der Nachbar mit Hund im Park, der einen immer grüßt. Warum berühren uns ausgerechnet solche Momente manchmal mehr als lange Gespräche mit Freund*innen? Und was passiert, wenn solche losen Bekanntschaften seltener werden?

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Mark Granovetter (1973): The Strength of Weak Ties
► Gillian Sandstrom (2014): Social Interactions and Well-Being: The Surprising Power of Weak Ties
► Business Insider (2024): Eine Generation besonders betroffen: Immer mehr Menschen finden es schwer, lockere Freundschaften zu führen
► BMFSFJ: Einsamkeitsbarometer 2024

► Hallo: Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. in Hamburg

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hallo im Sinneswandel-Podcast, ich bin Marilena und ich freue mich sehr, dass ihr heute wieder dabei seid. 

Zuallererst möchte ich mich ganz herzlich bedanken – für die vielen schönen Rückmeldungen zu den letzten Folgen, die ich allein aufgenommen habe. Und dann auch noch beim letzten Mal ohne Skript. Weil das so gut angekommen ist, auch wenn es sich für mich noch richtig seltsam anfühlt, mache ich damit weiter. Auch diese Folge ist wieder ohne Skript – ein weiteres kleines Experiment, vielleicht werde ich besser im Chaotisch Sein.

Wie bin ich zu dem Thema der heutigen Folge gekommen? Es ist schon ein paar Wochen her – ich wollte nach Kiel fahren, beruflich, weil ich dort in den letzten Wochen gearbeitet habe. Und – wie so häufig – ist die Deutsche Bahn mal wieder nicht gefahren. Kein Zug in Sicht, also musste ich spontan eine Mitfahrgelegenheit nehmen. Ich war – wie vermutlich viele – erst mal total genervt. Gestresst bin ich ins Auto gestiegen. Und am Ende war es richtig schön. Eine lustige Fahrt mit drei anderen Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten. Wir alle waren ein bisschen abgefuckt, weil die Bahn nicht gefahren ist – das hat uns vermutlich verbunden.

Es war vor allem eine Begegnung, die besonders war. Wir kannten uns vorher nicht, und heute haben wir auch keinen Kontakt mehr. Trotzdem war diese Fahrt irgendwie wertvoll – ich habe Einblicke in Lebensweisen bekommen, die ganz anders sind als meine.

Ich habe mich danach gefragt: Welche Rolle spielen eigentlich solche kleinen, flüchtigen Begegnungen im Alltag? Unterschätzen wir die vielleicht? Ich musste sofort an mein Stammcafé denken. Ich gehe da schon seit über sieben Jahren hin – sie wissen genau, was ich bestelle. Okay, ich bestelle auch meistens das Gleiche. Aber trotzdem berührt es mich. Sie freuen sich, wenn ich komme. Lächeln. Sagen: „Ziegenkäsesalat?“ – ich nicke. Diese Menschen gehören nicht zu meinem engen Freundeskreis, aber sie sind wichtig für mich.

Oder der Kiosk um die Ecke auf St. Pauli. Auch dort gehe ich regelmäßig hin. Jedes Mal, wenn ich ein Paket abhole oder etwas kaufe, lerne ich den Kioskbesitzer ein bisschen besser kennen. Neulich fragte er, was ich beruflich mache – ob ich studiere. Ich habe ihm erzählt, dass ich beim NDR arbeite, als Journalistin. Es war ein schönes Gefühl – sich besser kennenzulernen, obwohl das ja eigentlich eine flüchtige Bekanntschaft ist, die auf einem Austausch von Geld beruht. Und doch ist es mehr als das.

Wir sprechen oft über enge Freundschaften. Aber was ist mit solchen lockeren, flüchtigen Bekanntschaften? Vielleicht erfüllen die etwas, was unsere engen Beziehungen nicht können.

Im Studium in Lüneburg hatte ich mal ein Seminar über „The Strength of Weak Ties“ von Mark Granovetter. Granovetter hat untersucht, wie Menschen zu ihren Jobs kommen – und herausgefunden, dass schwache Verbindungen eine wichtige Rolle spielen. Sie dienen als Brücken zu anderen Informationen, Perspektiven und Gelegenheiten – weil der enge Freundeskreis oft zu homogen ist. Ich musste da direkt an meinen Volleyballverein denken – ein Ort mit ganz unterschiedlichen Menschen.

Aber es geht nicht nur um den praktischen Nutzen. Sondern auch um das Gefühl, das solche Bekanntschaften auslösen. Die Psychologin Gillian Sandstrom von der Universität Sussex hat sich genau damit beschäftigt. Auslöser war ihre eigene Erfahrung mit einer Würstchenbude, an der sie oft war. Sie entwickelte eine Beziehung zum Verkäufer – und fragte sich, wie sehr solche losen Begegnungen unser Wohlbefinden beeinflussen. Ihre Forschung zeigt: Diese scheinbar belanglosen Mikrobegegnungen – ein kurzer Plausch, ein freundliches Grüßen, Smalltalk im Büro – geben uns ein Gefühl von Zugehörigkeit. Sie helfen gegen Einsamkeit. Gerade auch bei älteren Menschen.

Und: Sie haben weniger Konfliktpotenzial. Weniger emotionale Erwartungen. Man kann sich ausprobieren, spontan sein, neue Seiten zeigen.

Ich selbst mag Smalltalk eigentlich gar nicht. Ich finde ihn oft anstrengend. Vielleicht, weil ich dazu neige, schnell über tiefere Dinge zu sprechen. Aber solche Begegnungen lohnen sich – sie sind wie ein sozialer Klebstoff. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie weniger werden.

Und das ist nicht nur ein Gefühl. Studien zeigen, dass flüchtige Begegnungen und lockere Freundschaften tatsächlich abnehmen. Gründe gibt es viele: Digitalisierung – wir kaufen online ein, daten digital, verbringen mehr Zeit allein vor dem Bildschirm. Individualisierung – mehr Wert auf persönliche Freiheit, Unabhängigkeit. Menschen ziehen häufiger um – viele kennen ihre Nachbar*innen kaum. Und: mehr Homeoffice.

Gerade während der Corona-Zeit habe ich das gemerkt. Ich habe damals in einer eher dunklen Wohnung allein gewohnt. Und plötzlich fehlte mir dieser beiläufige Kontakt zu Fremden. Spazieren gehen, jemandem zulächeln. Ich hatte Glück – ich habe damals meinen Nachbarn kennengelernt. Heute nehme ich bei ihm den Podcast auf. Aus einer flüchtigen Bekanntschaft wurde eine Freundschaft.

Wenn solche Begegnungen weniger werden, dann hat das Folgen: Einsamkeit nimmt zu. Jeder dritte Mensch zwischen 18 und 53 fühlt sich zumindest manchmal einsam – besonders viele Jugendliche. Vorurteile nehmen zu. Studien zeigen: Menschen, die sich einsam fühlen, engagieren sich seltener politisch oder ehrenamtlich – und verlieren schneller das Vertrauen in demokratische Institutionen.

Wie also schaffen wir wieder mehr Raum für Begegnungen?

Ich musste an einen TikTok-Trend denken: „Blessing Strangers“. Über 300 Millionen Videos gibt es dazu auf TikTok. Menschen sprechen Fremde an und überraschen sie mit einer kleinen Geste. Viele dieser Videos sind gestaged, performativ, manchmal problematisch – vor allem, wenn es um Geld oder Obdachlose geht. Aber der Grundgedanke ist schön: Kleine Gesten können große Freude auslösen.

Mein Freund, der vor kurzem in den USA war, hat mir letztens erzählt, dass sich die Leute dort häufiger einfach so Komplimente machen. Ganz locker: „Cooles Shirt“ – und dann gehen sie weiter. In Deutschland passiert das irgendwie seltener.

Aber wie schaffen wir mehr Begegnungen? Nicht nur durch unsere Haltung – also achtsamer durch den Alltag gehen, nicht immer aufs Handy schauen – sondern auch durch Stadtplanung.

Immer mehr Orte werden kommerzialisiert. Es braucht Räume jenseits von Konsum. Plätze, Parks, Fußgängerzonen. Ich musste an Italien denken – an diese Piazzas, wo sich Menschen begegnen. Vielleicht romantisiere ich das auch. Aber ich wünsche mir mehr davon. Und: Barrierefreiheit. Begegnungsorte für alle – unabhängig von Herkunft, Alter oder Einkommen.

Auch mehr Sitzgelegenheiten – wie die sogenannten “Zuhörbänke” – als erweitertes Wohnzimmer gedacht. Oder Straßenfeste, Märkte, Nachbarschaftstreffen.

In Hamburg gibt es den Verein HALLO. Sie fördern offene Räume für nachbarschaftliche, kulturelle Aktivitäten. Es gibt dort z. B. einen Kiosk, wo gemeinsam gekocht, gespielt, geredet wird. Ich habe mir seit Ewigkeiten vorgenommen, mal hinzugehen. Vielleicht mache ich das jetzt wirklich, wo ich es ausgesprochen habe. Vielleicht nimmt mich ja jemand mit?

Ich glaube jedenfalls: Solche flüchtigen Begegnungen sind wertvoll. Natürlich sind enge Beziehungen wichtig. Aber es ist auch gut, offen zu bleiben – für all das, was beiläufig passiert. Vielleicht steckt darin mehr, als wir denken.

Outro

Was war eure letzte flüchtige Begegnung, die euch berührt hat? Gibt es bei euch Alltagsbekanntschaften – Kioskbesitzerinnen, Nachbarinnen – die euch näher sind, als ihr dachtet? 

Schreibt mir gerne an redaktion@sinneswandel.art oder über Social Media. In den Shownotes findet ihr wie immer weiterführende Links und Infos. Und wenn ihr meine Arbeit unterstützen wollt, dann könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Danke fürs Zuhören. Bis bald im Sinneswandel Podcast.

22. Juli 2025

Ist Chaos in Ordnung?

von Marilena 2. Juli 2025

Chaos stresst mich – und fasziniert mich. In dieser Folge geht es um das Bedürfnis nach Ordnung, die Angst vor Kontrollverlust und die Frage, warum viele in unsicheren Zeiten einfache Antworten suchen. Ich spreche über philosophische, gesellschaftliche und ganz praktische Perspektiven auf das Chaos – und darüber, was passiert, wenn wir lernen, es auszuhalten. Ist Chaos wirklich so schlecht, wie sein Ruf? Oder hat es vielleicht sogar seine eigene Ordnung?

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Arte Twist: Aufräumen – Macht Ordnung uns glücklich?, 2025
► Agora42: Ausgabe zu Chaos, 2025
► bpb: Rechtspopulismus: Erscheinungsformen, Ursachen und Gegenstrategien, 2017
► Studie: Understanding Societal Resilience—Cross-Sectional Study in Eight Countries, 2022
► Studie: Home and the extended-self: Exploring associations between clutter and wellbeing, 2021
►SXSW: Marie Kondo: Organize the World: Design Your Life to Spark Joy, 2017
►Spiegel: Aufräumexpertin Marie Kondo »Mein Zuhause ist unordentlich«, 2023
►Philosophie.ch: Chaos und Ordnung in Schellings Geschichtsphilosophie
► Philosophisches Experiment: Ist Chaos in Ordnung?
► SRF3: Chaos ist überlebenswichtig, 2022
► SWR: Was ist die Chaostheorie?, 2020

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hi und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Ich bin Marielena und ich freue mich, dass ihr heute dabei seid.

Ich bin ehrlich gesagt ziemlich aufgeregt vor dieser Folge, während ich hier gerade vor dem Mikrofon sitze – was absurd ist, weil ich alleine bin. Aber ich möchte heute etwas ausprobieren, was ich schon sehr lange nicht mehr gemacht habe: komplett ohne Skript sprechen. Das klingt jetzt erst mal einfacher, als es ist. Aber ich habe den Podcast damals, vor acht Jahren, auch so begonnen – ohne Skript. Und irgendwann bin ich dazu übergegangen, alle meine Folgen zu skripten und aufzuschreiben.

Ich höre selber total gerne Podcasts, die nicht geskriptet sind. Also, beides hat sicherlich seine Vor- und Nachteile. Aber ich möchte das heute gerne mal wieder versuchen und schauen, was passiert, wenn ich es ausprobiere. Und ich dachte mir: Was gibt es für einen besseren Anlass, das auszuprobieren, als bei einer Folge, in der es um das Thema Chaos geht?

Da wären wir eigentlich schon beim Thema dieser Folge: Chaos.

Warum möchte ich eine Folge dazu aufnehmen? Chaos ist etwas, das mich – ja eigentlich mein Leben lang – begleitet, würde ich sagen. Oder vielleicht eher das Gegenteil von Chaos: nämlich Ordnung. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein sehr ordnungsliebender Mensch bin – um es mal milde auszudrücken. Ich habe schon als Kind total gerne Dinge sortiert und geordnet – nicht zwanghaft, aber irgendwie hatte ich Freude daran. Das erzählen meine Eltern mir immer wieder. Und auch heute ist es so: Wenn Menschen in meine Wohnung kommen, dann höre ich oft: „Wow, mein Gott, ist das hier ordentlich und aufgeräumt und so minimalistisch.“ Und das ist total nett gemeint, aber mittlerweile ist mir das auch manchmal ein bisschen unangenehm. Ich weiß, dass ich sehr ordentlich bin. Ordnung gibt mir irgendwie Ruhe, beruhigt mich – und gibt mir natürlich auch ein Gefühl von Sicherheit. Im Außen zumindest, was sich dann irgendwie auf mein Inneres überträgt. Chaos im Außen macht mich eher unruhig und nervös. Gleichzeitig merke ich aber auch: Zu viel Ordnung kann einschränken. Es ist ja nicht nur die äußere Ordnung – sondern auch eine gewisse Strukturiertheit, ein Gefühl von Kontrolle. Und vermutlich habe ich eine Art Angst vor Kontrollverlust. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, das wäre zwanghaft – aber ich mag es einfach, wenn eine gewisse Ordnung herrscht. Mein Computer ist zum Beispiel sehr aufgeräumt – auf meinem Desktop gibt es zwei, drei Ordner, die auch sortiert sind. Ich glaube, da gibt es einfach unterschiedliche Typen. Und ich bin eben einer dieser sehr geordneten Menschen. Damit habe ich mich mittlerweile abgefunden.

Trotzdem merke ich, dass mich das Thema begleitet – und dass ich mir manchmal wünsche, ein bisschen chaotischer und flexibler zu sein. Das ging so weit, dass ich vor ein paar Jahren mal darüber nachgedacht habe, mir das Wort „Chaos“ ganz klein irgendwo auf den Körper tätowieren zu lassen – als Erinnerung, es wieder mehr in mein Leben einzuladen. Ich habe es dann doch nicht gemacht. Aber das Thema hat mich nicht losgelassen. Ich verbringe auch gerne Zeit mit Menschen, die etwas „chaotischer“ sind als ich. Zum Beispiel bin ich gerade bei einem Freund, einem Künstler und Musiker. Er lebt in einem kreativen Chaos. Ich empfinde das gar nicht als unruhig – im Gegenteil: Ich verbringe sehr gerne Zeit hier. Ich könnte wahrscheinlich nicht dauerhaft so leben, aber wenn ich hier bin, empfinde ich sein Chaos als angenehm. Ich glaube, ich suche unterbewusst Menschen, die nicht so strukturiert sind wie ich – und das erinnert mich daran, das Chaos öfter in mein eigenes Leben einzuladen. Denn es bedeutet auch eine Form von Freiheit und Flexibilität.

So entstand auch die Idee zu dieser Folge – mit der Frage: Wie viel Ordnung brauchen wir eigentlich? Und ist Chaos wirklich so schlecht wie sein Ruf? Oder hat es vielleicht sogar seine eigene Ordnung?

Jetzt kann man sich natürlich fragen: Warum gerade jetzt dieses Thema? Wenn ich darüber nachdenke, womit ich Chaos und Ordnung verbinde, dann wird mir klar: Es ist nicht nur ein persönliches Thema. Es ist auch hochaktuell – hochpolitisch sogar. Denn wir leben in einer Welt, in der viele Krisen gleichzeitig stattfinden: Kriege, politische Unsicherheiten, wirtschaftliche Probleme, die Klimakrise… Viele Menschen erleben dadurch eine Art Kontrollverlust – eine große Unsicherheit, die in unser aller Leben tritt. Und das löst bei vielen Menschen Angst aus – vor der Zukunft, vor Veränderungen. Dinge, die früher als gesichert galten, bröckeln plötzlich. Und dieser Kontrollverlust führt bei vielen zu einem Wunsch nach Ordnung und Sicherheit. Ich habe letztens eine Doku auf Arte geschaut – „Twist“ heißt das Format, vielleicht kennt ihr das. Dort kam eine Aufräumexpertin und Influencerin zu Wort, Sabine Nietmann. Sie sagte: „Je chaotischer die Welt draußen ist, desto mehr habe ich den Drang, meine eigene Welt, meine vier Wände zu ordnen.“

Ich weiß nicht, ob ich das selbst schon mal so empfunden habe. Ich habe ja schon gesagt, dass ich grundsätzlich ein Bedürfnis nach Ordnung habe – aber ob das direkt mit der Weltlage zusammenhängt, kann ich schwer sagen. Aber es gibt viele Menschen, die reagieren auf äußeres Chaos mit einem verstärkten Wunsch nach Kontrolle. Sie wollen nicht nur ihre Wohnung ordnen, sondern auch die Welt – oder zumindest das Gefühl zurück, dass die Welt wieder berechenbar ist.

Viele populistische oder rechtsextreme Gruppen nutzen genau dieses Bedürfnis aus. Sie versprechen einfache Lösungen, wollen vermeintlich „wieder Ordnung schaffen“. Das sehen wir aktuell etwa bei Donald Trump in den USA, oder auch in Deutschland, wo rechtsextreme Kräfte mit Begriffen wie „Law and Order“ arbeiten. In unsicheren Zeiten wächst das Bedürfnis nach klaren Regeln und starker Führung – weil das Sicherheit verspricht. Diese Gruppen stellen sich als Retter der Ordnung dar und schieben gleichzeitig anderen – zum Beispiel Minderheiten oder Migrant*innen – die Schuld für das angebliche Chaos zu. Das ist gefährlich. Denn es entsteht der Eindruck: Wenn wir nur stark genug durchgreifen, wird alles wieder gut. Aber das ist eine Illusion. Und es blendet aus, dass Gesellschaften, die offen und vielfältig sind, langfristig krisenfester sind.

Ein Zitat, das ich in dem Zusammenhang sehr spannend finde, stammt von Frank Augustin, dem Herausgeber der Philosophiezeitschrift Agora42. Die letzte Ausgabe hatte passenderweise das Schwerpunktthema „Chaos“. Darin schreibt er:

„Der Mensch will Ordnung – aber keine Ordnung kann bleiben. Was man in Ordnung investiert, wird man früher oder später verlieren, weil nichts bleibt. Das Leben ist also sinnvoll und sinnlos zugleich. Damit gilt es, sich zu arrangieren. Manche – viele wohl – möchten sich damit aber nicht abfinden. Sie wollen nicht viele Ordnungen, die nebeneinander existieren, sondern eine Ordnung. Aber wer bleibenden Sinn will, bekommt maximalen Sinnverlust.“

Ich finde, das bringt es sehr gut auf den Punkt. Wir sehnen uns nach festen Bedeutungen, nach Ordnung – das ist zutiefst menschlich. Aber: Die Realität ist oft chaotisch. Und je mehr wir versuchen, alles unter Kontrolle zu bringen, desto eher erleben wir Überforderung oder Frustration.

Was ich mich frage: Warum hat Chaos eigentlich so einen schlechten Ruf? Warum gilt Ordnung als gesellschaftliches Ideal – als Norm – während Chaos eher als etwas gilt, das vermieden werden muss?

Es gibt ja diesen Spruch: „Ordnung ist das halbe Leben“. Ich weiß nicht, ob es das auch in anderen Kulturen gibt – aber es klingt für mich ziemlich „kartoffelig deutsch“. Trotzdem trifft es in Teilen auch auf mein Leben zu. Vielleicht, weil ich so sozialisiert wurde. Tatsächlich zeigen Studien, dass sich viele Menschen wohler fühlen, wenn ihre Umgebung ordentlich ist. Sie sind entspannter, produktiver. Ein aufgeräumter Arbeitsplatz oder ein minimalistisches Zuhause kann den Kopf freier machen – hilft beim Fokussieren. In der gleichen Arte-Doku sagt Sabine Nietmann: “Wenn man Dinge ordnet in seinem Leben, fängt man auch häufig an, zu hinterfragen: Welche Entscheidungen waren richtig? Da fließen manchmal auch Tränen. Also dieses Ordnen und Aufräumen im eigenen Leben hat etwas Therapeutisches.”

Ich glaube, viele von uns haben das schon erlebt: Beim Ausmisten von alten Gegenständen oder Erinnerungsstücken tauchen plötzlich Gefühle auf, Fragen, Erinnerungen. Es ist also mehr als nur eine saubere Wohnung – es ist eine Auseinandersetzung mit uns selbst. Aber Ordnung kann auch Druck machen. Gerade in sozialen Medien, zum Beispiel im Trend der „Clean Girl Aesthetic“ – wo vor allem junge Frauen sich selbst und ihre Wohnungen besonders clean, aufgeräumt, ästhetisch zeigen. Immer alles in Beige, mit frischen Blumen, Yogamatte und glattem Haar. Was auf den ersten Blick beruhigend wirkt, kann schnell ins Normative kippen. Denn Unordnung wird dort kaum gezeigt – und wenn doch, dann maximal inszeniert. Und das kann dazu führen, dass Menschen sich schämen, wenn ihre Wohnung nicht so aussieht. Ich kenne auch Freund*innen, die sagen: „Ich bin so ein chaotischer Mensch, ich wäre gerne ordentlicher.“ Das zeigt, wie tief Ordnung mit unserer Sozialisation und unseren gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft ist. Vor allem an Frauen werden oft noch immer andere Maßstäbe gelegt: schon als Mädchen wird ihnen beigebracht, für Sauberkeit und Ordnung zuständig zu sein. Das ist wichtig zu erkennen: Ordnung ist nicht neutral. Sie ist auch ein kulturelles und soziales Konstrukt – geprägt von Erziehung, Rollenbildern, gesellschaftlichem Druck. Und sie kann ein Ausdruck von Privilegien sein: Wer hat überhaupt Zeit und Raum, um aufzuräumen? Und selbst Ordnungsgurus wie Marie Kondo haben mittlerweile ihre Haltung überdacht. Sie sagte kürzlich in einem Interview, dass sie mit drei Kindern nun deutlich weniger aufräumt – und das ganz bewusst. Weil sie erkannt hat, dass ein bisschen Chaos auch zum Leben dazugehört.

Und damit kommen wir eigentlich zur Kernfrage dieser Folge: Damit Ordnung entstehen kann – braucht es dafür nicht vielleicht sogar erst einmal Chaos?

Ich habe mir dazu angeschaut, woher das Wort „Chaos“ eigentlich kommt. Wie so viele Begriffe stammt es aus dem Altgriechischen – und bedeutet ursprünglich so etwas wie „gähnende Leere“. Aber diese Leere war kein Nichts. In der Antike wurde Chaos vielmehr als Urzustand verstanden, aus dem alles hervorgeht. Also: Chaos als Ursprung von Ordnung, Leben, Welt. Der Philosoph Friedrich Schelling hat das ebenfalls so beschrieben. Er schreibt, dass zu Beginn das Chaos stand – alles war durcheinander – und erst danach kam Ordnung, auch die gesellschaftliche. Doch selbst wenn Ordnung geschaffen wird: Ein Rest Chaos bleibt immer bestehen. Und das ist vielleicht sogar gut so. Noch weiter gehen Philosophen wie Nietzsche oder Heidegger. Für sie ist Chaos nicht das Gegenteil von Ordnung. Nicht dieses bipolare Denken: gut oder schlecht. Sondern: Chaos hat eine eigene Kraft. Es ist die Voraussetzung für Erkenntnis, für Freiheit. Ohne Chaos keine neuen Gedanken. Keine Ideen.

Ich finde das total einleuchtend. Wenn ich an meinen Künstlerfreund denke, in dessen Wohnung ich die Folge aufgenommen habe – dann habe ich das Gefühl, dass sein kreatives Chaos ihn inspiriert. Dass es Raum schafft für das Unerwartete. Und auch wenn wir selbst Ideen entwickeln, brainstormen oder schreiben – dann geht das oft nur, wenn wir uns zunächst dem Ungeordneten aussetzen. Später kommt dann Struktur dazu. Aber am Anfang braucht es Offenheit. Und genau das kann Chaos ermöglichen.

Tatsächlich gibt es auch Studien, die zeigen, dass unordentliche Räume originellere Ideen fördern. Sie regen an, Konventionen zu hinterfragen, weil das gewohnte Umfeld durchbrochen wird. Natürlich steht das im Widerspruch zu den Studien, die Ordnung mit Produktivität und Wohlbefinden in Verbindung bringen. Aber genau das ist ja das Spannende: Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung. Ordnung und Chaos schließen sich nicht aus. Sie sind zwei Pole, zwischen denen wir uns bewegen – vielleicht sogar bewegen müssen. Und: Wer lernt, sich in unsicheren Situationen zurechtzufinden – also Chaos auszuhalten – trainiert seine eigene Resilienz. In einer Welt, die sich ständig wandelt, ist das Gold wert.

Wenn man in die Natur blickt, kann man das gut beobachten. Kein Ökosystem ist dauerhaft „in Ordnung“ – im Sinne von statisch. Alles ist im Fluss: Pflanzen, Tiere, Wetter, Klima. Alles reagiert auf Veränderungen, passt sich an, verändert sich. Die sogenannte Chaostheorie beschäftigt sich genau damit: dass Systeme, die auf den ersten Blick unberechenbar wirken, dennoch eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Und dass selbst kleinste Veränderungen – wie der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings – riesige Auswirkungen haben können. Das Chaos hat also eine eigene innere Ordnung – auch wenn wir sie nicht immer sofort erkennen.

Ich hoffe, ihr konntet meinen Gedanken bis hierher folgen. Ich bin selbst ein bisschen überrascht, dass das freie Sprechen doch ganz gut funktioniert hat. Zum Abschluss möchte ich noch teilen, was mir persönlich hilft, mehr Chaos in meinem Leben zuzulassen – und dadurch innerlich gelassener und flexibler zu werden.

Erstens: Akzeptanz. Das klingt banal, ist aber zentral. Immer wieder bewusst zu machen, dass nicht alles planbar ist. Dass Leben auch bedeutet, mit Unvorhergesehenem umzugehen. Dass ich nicht alles kontrollieren kann – und auch nicht muss. Zweitens: Selbstvertrauen. Wenn ich zurückschaue, merke ich, dass viele gute Dinge in meinem Leben passiert sind, obwohl – oder gerade weil – sie nicht geplant waren. Das hilft mir, dem Leben mehr zu vertrauen. Drittens – und das ist fast ein bisschen absurd, aber sehr wirksam: Ich übe, Dinge nicht wegzuräumen. Das klingt jetzt albern, aber wenn man so ordnungsliebend ist wie ich, dann ist das echt eine Übung. Ich lasse bewusst mal was stehen. Nicht immer, aber immer öfter. Und das hilft. Auch im Zusammenleben mit anderen. Am Ende glaube ich: Chaos und Ordnung sind individuell. Meine Ordnung ist nicht deine Ordnung. Und das ist okay. Ordnung ist auch eine Stärke – 

Outro

Ich bin sehr gespannt, wie ihr diese Folge erlebt habt. War sie für euch zu chaotisch – oder eher befreiend? Fehlt euch das Skript? Oder denkt ihr: Da geht noch mehr Chaos?

Schreibt mir gerne an redaktion@sinneswandel.art oder über Social Media. In den Shownotes findet ihr wie immer weiterführende Links und Infos. Und wenn ihr meine Arbeit unterstützen wollt, dann könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Danke fürs Zuhören. Ich wünsche euch einen schönen – vielleicht sogar leicht chaotischen – Tag.

2. Juli 2025

Wozu das alles? Über kreative Krisen und Sinnfragen

von Marilena 2. Juni 2025

In dieser Folge reflektiere ich über meine aktuelle kreative Krise und frage, wie Kreativität und Sinn zusammenhängen. Zwischen Zweifel und dem Wunsch nach echtem Ausdruck suche ich nach einem freieren Umgang mit Kreativität – und danach, was unsere Gesellschaft und das System mit dieser Suche zu tun haben.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein, Droemer Knaur*, 2023
► SWR kultur: Kreativ werden Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid, 2022
► Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, Suhrkamp, 2012
► Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug, Hrsg. von Ralf Kellermann, Reclam
► Institut für Ludologie

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hi und herzlich willkommen bei Sinneswandel! Ich bin Marilena und ich freue mich, dass ihr heute dabei seid.

Diese Folge hat mich ehrlich gesagt einiges gekostet. Und ich meine damit vor allem Überwindung. Gefühlte hundert Anläufe hat es gebraucht, bis ich überhaupt wusste, wie ich beginne. Weil ich über etwas sprechen möchte, das mir fehlt.

Über Kreativität. Und über das Gefühl, wenn sie einem plötzlich abhanden kommt.

Ich habe in den letzten Monaten viel gezweifelt. Nicht nur an meiner Arbeit, sondern vor allem an mir selbst. Ich funktioniere, produziere, liefere – aber in letzter Zeit oft ohne inneren Antrieb. Als hätte sich das Warum langsam aus dem Wie verflüchtigt.

Und ehrlich gesagt war das war mal anders. Als ich Sinneswandel vor bald acht Jahren gestartet habe, war da vor allem Neugier. Ich bin losgelaufen mit einer Idee im Kopf. Habe Gespräche geführt, gefragt, geschrieben, gestaltet. Ohne großen Plan und festes Ziel.

Aber mit der Zeit habe ich mich immer mehr aus dem Projekt herausgezogen. Nicht mal bewusst – aber spürbar. Ich habe weniger persönliche Gedanken geteilt. Mich nicht mehr gefragt: Was bewegt mich eigentlich gerade wirklich? Sondern eher: Was ist relevant? Welche Themen performen? Und genau das hat die Verbindung zu meinem eigenen Projekt leise gekappt. Es wurde mehr Pflicht als Freude. Mehr Aufgabe als Ausdruck.

Ich glaube, wenn man sich selbst aus etwas herausnimmt, verliert man auch ein Stück Resonanz – mit dem, was man tut, aber auch mit sich selbst. Denn Kreativität ist für mich mehr als ein Werkzeug – sie ist eine Art, mich mit der Welt zu verbinden. Wenn dieser Zugang blockiert ist, dann fehlt nicht nur der Ausdruck. Dann fehlt etwas Grundlegendes.

Wie hängen Kreativität und Sinn zusammen? 

Der Philosoph Wilhelm Schmid sagt: Kreativität schafft Sinn. Weil wir durch das Kreativsein neue Verbindungen schaffen. Indem wir Dinge, die bisher getrennt waren, in eine neue Beziehung setzen. Wenn wir kreativ sind, bringen wir Ordnung ins Chaos – oder stellen gewohnte Ordnungen in Frage. Wir schaffen etwas, das vorher nicht da war. Und wir tun das, weil wir uns selbst und die Welt besser verstehen wollen. 

Für Wilhelm Schmidt ist Kreativität eine Lebenskunst. Eine Art, mit dem Leben umzugehen, es tiefer zu durchdringen. Kreativität stillt einen inneren Hunger – nach Bedeutung, nach Ausdruck, nach Verbindung. Und wenn uns das gelingt, dann erleben wir manchmal diesen besonderen Zustand, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi „Flow“ genannt hat: Wir gehen ganz in einer Tätigkeit auf, verlieren das Zeitgefühl, vergessen alles um uns herum. Und genau da entsteht oft Sinn.

Aber was passiert, wenn dieser Zugang plötzlich nicht mehr da ist? Wenn der kreative Strom versickert – oder blockiert ist? 

Ich habe gemerkt, wie sehr mich dieser subtile, aber ständige Druck hemmt, etwas liefern zu müssen. Sichtbar zu bleiben. Relevanz zu beweisen. Dazu kommt der ständige Vergleich. Ich scrolle mich durch Social Media und denke: Das gibt es alles schon. Nur in krasser. Was soll ich dem noch hinzuzufügen? Und je mehr ich mich vergleiche, desto stiller wird mein eigener Impuls. Die Lust, überhaupt noch anzufangen, weicht einer zähen Schwere. Statt innerem Drang nur noch Zweifel. Und das frustriert nicht nur – es verunsichert tief. Weil es an meinem Selbstbild rüttelt, das lange Halt gegeben hat: Ich bin eine, die schreibt. Die gestaltet. Die etwas schafft. Und wenn das plötzlich nicht mehr geht, frage ich mich: Wer bin ich dann?

Viele Kreative kennen diesen Zustand – Schreibblockaden sind nur die offensichtliche Form davon. Aber dahinter steckt oft etwas Tieferes: das Gefühl, den Zugang zu sich selbst verloren zu haben. Denn Kreativität ist für viele nicht nur Ausdruck. Sie ist Selbstvergewisserung. Eine Art, sich im Tun zu spüren, sich zu verorten. Und wenn das nicht mehr funktioniert, wenn der Schaffensprozess stockt oder sinnlos erscheint, dann gerät mehr ins Wanken als nur das nächste Projekt.

Was ist Kreativität überhaupt? 

Oft wird Kreativität mit Kunst verwechselt. Mit großen Ideen, genialen Werken, außergewöhnlichen Menschen. Dabei sind wir alle kreativ. Täglich. Wenn wir Probleme lösen, improvisieren, neue Wege finden, etwas ausprobieren.

Kreativität bedeutet, etwas anders zu machen – nicht um des Neuen willen, sondern um etwas Ausdruck zu verleihen. Und zwar durch die ganz eigene Sicht. Und genau darin entsteht Verbindung: Weil wir aus unserem Inneren etwas nach außen bringen – und sichtbar machen, was sonst vielleicht ungesagt geblieben wäre. Im kreativen Ausdruck zeigt sich, was uns bewegt. Und wenn andere sich darin wiederfinden, entsteht Resonanz. Nicht, weil es perfekt ist – sondern weil es ehrlich ist.

Kreativität ist nicht das große Werk. Es ist oft das Kleine. Das Gewöhnliche neu gesehen.

Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein 

Ich habe kürzlich ein Buch gelesen, das schon länger in meinem Regal stand: kreativ. Die Kunst zu sein von Rick Rubin, einem US-amerikanischen Musikproduzenten.

Rubin beschreibt Kreativität nicht als Talent oder Technik, sondern als einen Zustand des Seins. Kreativ ist nicht, wer besonders viel produziert – sondern wer sich selbst offen begegnet. Wer bereit ist, nicht zu wissen. Nicht zu kontrollieren. Wer sich dem Prozess anvertraut, statt nur auf das Ergebnis zu schielen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine seiner Thesen: Rubin spricht viel über das Spiel. Über Neugier. Über den Mut, Dinge auszuprobieren, ohne zu wissen, wohin sie führen. Kreativität beginnt für ihn dort, wo wir statt zu performen beginnen, zu entdecken. Und das gelingt nur, wenn wir uns selbst nicht zu ernst nehmen – aber ernst genug, um hinzuhören, wenn etwas in uns leise anklopft.

Kreativität als Spielraum: Improvisation & Ludologie 

Ich selbst spiele gelegentlich Improtheater – leider zu selten. Aber wenn ich es schaffe, bin immer wieder erstaunt, wie viel Kreativität in mir steckt, wenn ich einfach “Ja” sage. Zu einer Idee. Einer Situation. Einer absurden Wendung. 

Das Spiel schafft einen Freiraum. Einen Raum des Als-ob. In dem nichts festgelegt ist, aber alles möglich. 

Johan Huizinga, ein niederländischer Kulturhistoriker, sah im Spiel sogar die Grundlage aller Kunst und Kultur. Weil das Spiel ein Raum ist, in dem wir Regeln testen, neue Bedeutungen schaffen und bestehende Ordnungen in Frage stellen.

Auch Kreativität braucht diese Räume. In denen nicht alles sofort bewertet wird.  Die Zweckfreiheit. Und den Mut, zu scheitern.

Kreativität und Kapitalismus: Adorno, Reckwitz & Co. 

Aber genau diese Freiräume werden heute kleiner.  Immer häufiger steht nicht mehr der Prozess im Mittelpunkt, sondern das Ergebnis. Nicht mehr die Suche, sondern die Sichtbarkeit. Kreativität wird messbar: in Reichweite, Klickzahlen, Verkäufen. Und so verschiebt sich der Fokus – von der inneren Bewegung hin zur äußeren Wirkung.

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat diese Entwicklung schon analysiert – lange bevor es TikTok oder YouTube gab. In den 1940ern in seiner Kritik an der „Kulturindustrie“ kritisiert er, wie Kunst und Kultur zur massentauglichen Ware wird – berechenbar, glatt, konsumierbar. Was verstört, was sich entzieht, so Adorno, verliert an Wert. Dabei liegt gerade in der Irritation oft die eigentliche Kraft von Kunst: Sie soll nicht nur gefallen, sondern aufrütteln. Neue Perspektiven zu öffnen.

Heute ist oft von den „Creative Industries“ die Rede. Und das klingt erst einmal gut. Kreativität gilt als Zukunftskompetenz. Als Lösung für alles – von Produktdesign bis Politik. Nicht mehr nur Künstler*innen sollen kreativ sein, sondern auch Start-ups, Unternehmen, ganze Städte. Kreativität wird zur Ressource – für Innovation, für Wachstum, für gesellschaftlichen Fortschritt.

Aber genau da beginnt das Problem. Denn wenn Kreativität zur Leistung wird, zur Erwartung, zur Pflicht – verliert sie ihre Offenheit. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt das als „ästhetischen Kapitalismus“: eine Gesellschaft, in der nicht nur Produkte, sondern auch Lebensstile, Erfahrungen und Identitäten ständig gestaltet und bewertet werden. Alles soll besonders sein. Einzigartig. Authentisch. Wer das nicht liefert, fällt durchs Raster. Und so entsteht ein Widerspruch: Kreativität wird gefeiert – und gleichzeitig normiert.

Wir sehen das besonders deutlich auf Plattformen wie TikTok, Instagram oder Spotify. Sie machen es möglich, kreativ zu sein – und gleichzeitig schwer, es zu bleiben. Denn was sichtbar wird, entscheidet nicht mehr nur die Qualität oder Tiefe, sondern der Algorithmus. Und viele Kreative verlieren dabei irgendwann das Gefühl für den eigenen Impuls: Mache ich das, weil es mir entspricht – oder weil ich weiß, dass es gut ankommen wird?

Systemische Gedanken: Was braucht Kreativität? 

Vielleicht liegt das Problem also nicht nur in uns. Sondern im System. Kreativität braucht Zeit. Raum. Sicherheit. Und sie braucht Menschen, die sich nicht ständig beweisen müssen.

Wenn wirtschaftlicher Druck existenzielle Ängste auslöst, bleibt kaum Spielraum für kreatives Denken. Rick Rubin schreibt: Der kreative Zustand entsteht in Freiheit – nicht im Überlebensmodus.

Was also müsste sich gesellschaftlich ändern? Vielleicht bräuchte es mehr Anerkennung für kreative Prozesse, die nicht sofort „verwertbar“ sind. Eine Wertschätzung von Prozessen, nicht nur von Ergebnissen. Und eine Bildung, die Neugier belohnt – nicht Anpassung. Vielleicht sogar: ein Recht auf Langeweile.

Fazit: Was mir hilft (und vielleicht auch euch) 

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Folge überhaupt machen soll. Ob das reicht, was ich zu sagen habe. Ob es originell genug ist. Ob es irgendwen interessiert.

Aber dann habe ich mich erinnert, warum ich Sinneswandel eigentlich angefangen habe: Weil ich gerne laut denke. Weil das Fragen manchmal mehr verbindet als das Wissen.

Was bedeutet das alles jetzt für den Podcast, fragt ihr euch vielleicht?! 

Ich möchte mir wieder mehr erlauben, einfach loszugehen – auch wenn noch nicht alles fertig durchdacht ist. Aber genau das möchte ich mir zugestehen: dass dieser Podcast ein Ort bleibt, an dem ich suchen darf. Und zweifeln. Und spielen.

Mich interessiert sehr, wie es euch damit geht: Was hilft euch, kreativ zu bleiben – oder wieder ins Tun zu kommen? Schreibt mir gern, wenn ihr mögt. Ich freue mich, von euch zu hören.

Outro

Aber erstmal vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch diese Folge gefallen hat, dann teilt sie gerne mit euren Freunden. Und falls ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

2. Juni 2025

Thomas Galli: Strafe ohne Knast – geht das?

von Marilena 1. April 2025

Gefängnisse machen unsere Gesellschaft sicherer“ – oder? Ex-Gefängnisdirektor und Jurist Thomas Galli sieht das anders. Er sagt: Der Strafvollzug ist teuer, ineffektiv und trifft oft die Falschen. Warum Haftstrafen besonders arme Menschen treffen, Resozialisierung kaum funktioniert und welche Alternativen es geben könnte, darüber spricht Marilena Berends mit Thomas Galli.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Website von Thomas Galli
► Instagram
► Wie wir das Verbrechen besiegen können – Ideen für eine Überwindung der Strafe, Thomas Galli. edition einwurf 2024
► Schuld.Strafe.Recht? – Der Podcast von Thomas Galli

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► sinneswandel.art



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast! Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, dass ihr heute dabei seid.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich an Gefängnisse denke, habe ich sofort Bilder aus Filmen im Kopf: gefährliche Kriminelle, lange Haftstrafen, Hochsicherheitszellen. Aber entspricht das wirklich der Realität?

Ich war wirklich überrascht, als ich mich intensiver mit dem Thema beschäftigt habe. Wusstet ihr, dass in Deutschland jedes Jahr Tausende Menschen ins Gefängnis kommen, nur weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen können? Schon mehrfaches Schwarzfahren kann einen hinter Gitter bringen. Und das kostet uns als Gesellschaft viel mehr, als die meisten ahnen: Rund 200 Euro am Tag – pro Häftling – das sind über 70.000 Euro – jedes Jahr.

Aber fast noch absurder: Wir haben kaum belastbare Daten darüber, ob Gefängnisse überhaupt dabei helfen, Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ex-Gefängnisdirektor Thomas Galli geht sogar noch weiter – er sagt: „Gefängnisse gefährden unsere Sicherheit.“

Aber wie kann das sein? Sollten wir Gefängnisse vielleicht ganz abschaffen? Und welche Alternativen gäbe es? Genau darüber habe ich mit Thomas Galli gesprochen.

Übrigens: Falls ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, könnt ihr das ganz einfach über Steady oder PayPal tun. Eure Unterstützung hilft mir, den Sinneswandel Podcast unabhängigen weiterzuführen. Alle Infos dazu findet ihr in den Shownotes.

Jetzt viel Spaß mit der Folge!

Outro

Vielen Dank fürs Zuhören! Wenn euch die Folge mit Thomas Galli gefallen hat, teilt sie gerne mit euren Freundinnen und Freunden. Und unter allen, die meinen Podcast via Steady supporten, verlose ich dieses Mal ein Exemplar von Thomas Buch, “Wie wir das Verbrechen besiegen können- Ideen für eine Überwindung der Strafe”. Wie ihr an der Verlosung teilnehmen könnt, steht in den Shownotes. Das war’s von mir – bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast!

1. April 2025

Markus Gabriel: [Why] are we animals? [live]

von Marilena 3. November 2022

„What is to be human?“, this question Kant already asked himself hundreds of years ago. And exactly this question, the philosopher Markus Gabriel raises again in his new book, “Der Mensch als Tier” (“The Human animal – Why we still do not fit into nature”). Because it is on this question, or rather its answer, that our life depends on. Why, the author explains in this podcast episode, which was recorded  on the 26th of October 2022 during a live event at THE NEW INSTITUTE in Hamburg.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Markus Gabriel: “Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen”. Ullstein 10.22.
► THE NEW INSTITUTE Hamburg.

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Transkript:

Hello and welcome to the Sinneswandel Podcast. My name is Marilena Berends and I’m happy that you decided to listen to today’s episode.

Some of you are probably already wondering: Why all of a sudden in English? First of all, this is an exception. The reason is that today’s episode was recorded during an event with international guests – a live podcast sort of thing. And my guest at this event was none other than the philosopher Markus Gabriel. Since he just recently published his new book, „The Human Animal. Why we still do not fit into nature,“ there was a public book launch at THE NEW INSTITUTE in Hamburg. And I had the pleasure of hosting it. After the talk, a vivid discussion followed, which we however are not allowed to publish due to data protection rights. But I’m sure, the conversation with Markus Gabriel already offers a lot. We will get to that in a moment. First of all, I would like to apologize for the sound quality. Due to the location, there is a bit more noise than usual. But I hope you will excuse that and you can nevertheless or maybe because of that dive deeper into the atmosphere of the conversation.

If you want to delve deeper into the topic: We are giving away a personally signed copy of „The Human Animal“ among all those who support Sinneswandel and thus also me and my work, as Steady members. For more information and how you can participate, please check out the show notes. And now let’s begin!

Outro:

Thank you very much for listening. I hope you could take something away from the conversation with Markus Gabriel and get a small impression of what he is talking about in his book. If so, I would be happy if you support my work by sharing this podcast and/or by supporting it financially. You can do that easily via Steady or Paypal. More info on that is found in the show notes. That’s it for today. See you next time at the Sinneswandel Podcast.

3. November 2022

Christian Uhle: (Lebens-)Sinn, eine Beziehungssache?

von Marilena 3. Mai 2022

Sinn ist also eine Beziehungssache. Er ist nicht in uns versteckt, liegt nicht irgendwo außerhalb in der Welt verborgen, sondern mitten drin – in den Zwischenräumen. Aber gerade die übersehen wir schnell mal. In der Hektik des Alltags, im Streben, Stratzen und Straucheln, unter all den Anforderungen, die das Leben an uns stellt. Welchen Sinneswandel bedarf es, damit wir heute (wieder) Sinn empfinden können? Mit dieser Frage befasst sich der zweite Teil des Gesprächs mit Philosoph Christian Uhle.

Shownotes:

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► Teil 1 des Gesprächs mit Christian Uhle.
► Mehr von und mit Christian Uhle gibt es hier.
► Christian Uhle: “Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens”. S. Fischer Verlage (04/22).

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3. Mai 2022

Christian Uhle: Wie finden wir (unseren) Sinn?

von Marilena 28. April 2022

Wozu das alles? Wie entsteht eigentlich Sinn? Ist er in uns versteckt, außerhalb von uns, in der Welt – oder wohlmöglich dazwischen? In einer Zeit, in der vielen Menschen der Sinn (im Leben) abhanden zu kommen scheint, erlangt auch die Philosophie plötzlich mehr Aufmerksamkeit. Aber kann sie Antworten auf die Frage nach dem Sinn liefern? Wirft sie nicht eher noch mehr Fragen auf? Um das herauszufinden, hat sich Marilena Berends mit Philosoph Christian Uhle auf eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens begeben. Dies ist der erste Teil der Reise.

Shownotes:

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Anzeige: Auf athleticgreens.com/sinneswandel erhaltet ihr bei eurer AG1 Abo-Erstbestellung einen kostenlosen Jahresvorrat an Vitamin D3+K2 sowie fünf Travel Packs kostenlos dazu.

► Mehr von und mit Christian Uhle gibt es hier.
► Christian Uhle: “Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens”. S. Fischer Verlage (04/22).<br>

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28. April 2022

Workism – warum arbeiten wir (heute) so viel?

von Marilena 22. Februar 2022

Beschäftigt zu sein, sei zu einem modernen Narrativ geworden, meint Hans Rusinek. Der kreative Kapitalismus mache Arbeit zu einer neuen Ersatzreligion – und wir machen mit – so Hans These, der seit einigen Jahren unter anderem im Rahmen seines Promotionsstudiums an der Uni St. Gallen zu Sinnfragen in einer sich wandelnden Wirtschafts- und Arbeitswelt forscht und publiziert. Warum arbeiten wir heute noch immer so viel? Welchen Stellenwert hat Lohnarbeit in unserer Gesellschaft? Muss Arbeit Sinn machen? Das sind nur einige der Fragen, über die ich gemeinsam mit Hans Rusinek in dieser Episode gesprochen habe.

Shownotes:

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► Mehr von und mit Hans Rusinek hier.
► ZEIT: “Wenn die Arbeit das Leben ist”, Hans Rusinek (2022). ► ifo-Studie: “Homeoffice im Verlauf der Corona-Pandemie” (2021).
► WSI Report No. 65: “Homeoffice: Was wir aus der Zeit der Pandemie für die zukünftige Gestaltung von Homeoffice lernen können”; Hans-Böckler-Stiftung (2021).
► Cal Newport: “The Stone Carver in an Age of Computer Screens” (2020).
► Quarks: ”Sollten wir alle weniger arbeiten?” (2021).
► Nina Kunz: “Ich denk, ich denk zu viel”. Kein & Aber (2021).  
► David Graeber: “Bullshit Jobs, a Theory” (2019).
► Andreas Reckwitz: “Die Gesellschaft der Singularitäten”. Suhrkamp (2017).
► Oscar Wilde: “Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ (1891).

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22. Februar 2022

I’ll be your mirror

von Henrietta Clasen 30. November 2021

Spiegelneuronen – ohne die Nervenzellen in unseren Gehirnen wären wir vielleicht nicht in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen. Reflexion, sich spiegeln – im Außen, wie im Innen. Dafür braucht es Substanz – etwas, auf dem sich Projizieren lässt, sonst sehen wir nicht. Wie ein Diaprojektor, den man in die Leere richtet. Nichts. Betrachten wir Kunst, werden wir einerseits mit uns selbst konfrontiert, wie auch mit der Künstlerin – eine Synthese zweier Blicke. Inspiriert durch den Besuch der Ausstellung “Klasse Gesellschaft” in der Hamburger Kunsthalle mit den Künstlern Lars Eidinger und Stefan Marx, ist dieser kurze Impuls entstanden.  

Shownotes:

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► Ausstellung [“Klasse Gesellschaft – Alltag im Blick niederländischer Meister” mit Lars Eidinger und Stefan Marx – in der Hamburger Kunsthalle bis 27. März 2022.
► Die Zitate von Lars Eidinger stammen aus der Aufzeichnung der Ausstellungseröffnung am 25. November 2021 in der Hamburger Kunsthalle.
► Lars Eidinger auf Instagram.
► Stefan Marx auf Instagram.

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Transkript: I’ll be your mirror – Der Blick der Anderen, ein Spiegel?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“I’ll be your mirror” – weiß auf schwarz, in dicken Lettern leuchtet es mir von der Wand entgegen. Es ist ein Donnerstagabend im November, an dem ich in der Hamburger Kunsthalle stehe. Herbei gelockt von der Einladung zweier Künstler zu ihrer Vernissage. “I’ll be your mirror” – der Schriftzug, der auf der Leinwand vor mir prangt, stammt von dem Zeichner Stefan Marx. Zusammen mit Schauspieler und Künstler Lars Eidinger sind seine Werke Teil der Ausstellung “Klasse Gesellschaft”. Ich stehe gut einen Meter von dem besagten Bild entfernt. Es hat in etwa die Größe eines Badezimmerspiegels. Vielleicht ein bisschen größer. Ich könnte mich zumindest bis zum Bauchnabel darin sehen. Aber das möchte mir das Kunstwerk wohl kaum vermitteln. Obwohl – wieso nicht? Selbst, wenn diese Assoziation nahe liegt, bei dem Wort “mirror” an einen Spiegel zu denken, so ist der Gedanke, das Bild zumindest in mir, bei der Betrachtung des Kunstwerks entstanden. Ob der Künstler nun genau das bezwecken wollte, ist erst einmal zweitrangig. Denn vielleicht hat es ja auch gar nicht den einen Zweck zu erfüllen. Nicht die eine message, die es den Kunstschauenden vermitteln möchte – vielleicht geht es um etwas ganz anderes. Ich denke an die Worte zurück, die Lars Eidinger ein paar Minuten zuvor in der Eröffnungsrede an das Publikum gerichtet hat: “‘I’ll be your mirror’ ist in gewisser Weise missverständlich, weil Sie sind natürlich auch mein Spiegel. Ich brauche Sie ja unbedingt sozusagen, um mich zu begreifen. […] Und ich unterstelle Ihnen mal, oder anders gesagt, es wäre schön, wenn Sie gar nicht wegen mir hier sind, sondern wegen sich. Und, dass es um Sie geht heute Abend und, dass Sie was über sich verstehen wollen.”

I’ll be your mirror. Spiegelneuronen – ohne die Nervenzellen in unseren Gehirnen wären wir im Zweifel nicht in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen. Reflexion. Sich spiegeln – im Außen, wie im Innen. Dafür braucht es Fläche, Substanz. Etwas, auf dem sich Projizieren lässt. Sonst sehen wir nicht. Wie ein Diaprojektor, den man in die Leere richtet. Nichts. Betrachte ich also die Bilder in der Ausstellung, werde ich einerseits mit mir selbst konfrontiert, wie auch mit dem Künstler. In gewisser Weise eine Synthese zweier Blicke: “Ich würde immer beschreiben, dass ich die Bilder benutze, um mich zu sehen, um mich darin wiederzuerkennen. Ich will die Bilder nicht zeigen, sondern mich selbst erkennen. Und ich möchte das Gegenüber dazu bringen, sich in diesen Bilder wiederzufinden und zu erkennen. Und das klingt vielleicht banal, aber es ist immer wieder interessant, was die Leute in den Bildern sehen und was das über sie erzählt. […] Wenn Sie da nach unten in den Raum gehen und meine Bilder sehen, dann zeige ich Ihnen wie es in mir aussieht.”

Absurd. Verstörend. Rührend. Mir fallen viele Wörter ein, mit denen sich die Fotografien von Lars Eidinger beschreiben ließen. Einige kenne ich bereits von seinem Instagram Kanal. Es sind Alltags Eindrücke, im weitesten Sinne – ready mades, wie Eidinger sie selbst bezeichnet. Früher hätte man wohl “Schnappschüsse” gesagt – aber im Zeitalter der Digitalität und Smartphone Fotos, klingt das zu antiquiert. Ready mades also. Ich stehe vor einem solchen. Die Fotografie zeigt ein älteres Paar, wie es sich gebannt Schmuck im Schaufenster ansieht, zu ihren Füßen liegt ein vermutlich Wohnungsloser, dessen Kopf zum Nickerchen auf einer Plastiktüte ruht. Ein anderes Bild zeigt zwei Männer. Der Größere von beiden hält einen Pappkarton über den Kleineren, um ihn vor dem Regen zu schützen. Er selbst trägt eine Papiertüte über dem Kopf. Die vollkommene Absurdität des menschlichen Seins und Tuns zeigt sich aber vermutlich in den Abbildungen, in denen nicht einmal Menschen anwesend sind – ihre Gegenwärtigkeit aber unübersehbar ist. So auf der Fotografie, die den Ast eines Baumes zeigt, der sich über die Errichtung eines Gartenzauns hinwegsetzt, indem er sich seine Wege sucht. Oder eine Treppe, die ins Nichts führt. “Vollendete Gegenwart”, nennt Eidinger diese Reihe. Nicht weil der Mensch in seinen Augen die Realität vervollkommnet – eher im Gegenteil: “…die Erkenntnis, dass der vermeintliche Zufall oder das Uninszenierte sich in einer Perfektion präsentiert, wie sie unnachahmlich ist. Ich kann diese Bilder nicht inszenieren. Und der Versuch ist immer erbärmlich. Und das interessiert mich auch an den Bildern, wo keine Menschen zu sehen sind. Weil man sieht, wie der Mensch versucht, etwas Natürliches, Kreatürliches zu imitieren und dabei so grandios scheitert. Und auch in der Abwesenheit des Menschen begreife ich den Menschen. Also die Bilder auf denen niemand zu sehen ist, sagen teilweise für mich mehr über die Menschheit aus, als Bilder auf denen Leute abgebildet sind.”

Und da wären wir wieder, bei der Konfrontation, dem Sehen und Gesehenwerden. „Der Blick des Anderen formt meinen Leib in seiner Nacktheit, läßt ihn entstehen, modelliert ihn, bringt ihn hervor, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werde“, schreibt Philosoph Jean-Paul Sartre in seinem Werk Das Sein und das Nichts. Weniger meinte er damit die Fotografie, als vielmehr den tatsächlichen Blick des Anderen, der mich spaltet: in Subjekt und Objekt zugleich. Weil ich mich erst in jenem Moment der Betrachtung eines Andern selbst erkenne und im selben Augenblick zum Gegenstand der Betrachtung werde, der sich meiner eigenen Beurteilung entzieht. Aber auch hier zeigt sich das, wovon Eidinger spricht, wenn er von Menschen erzählt, die Kunst betrachten. Was sie darin sehen, sagt oft mehr über sie selbst aus, als über das Objekt ihrer Betrachtung. Und gilt selbiges nicht auch, wenn wir Menschen beobachten? Sagt nicht unser Urteil, die Bewertung, die wir abgeben, mehr über uns aus, als über die Person, die in unser Blickfeld geraten ist? Es kann schmerzlich sein von anderen gesehen zu werden. Vor allem, wenn das Urteil anders ausfällt als unser eigenes oder, als wir es uns wünschen würden. Und doch liegt darin ein Potential verborgen. Natürlich nicht insofern, als dass wir jedes Bild, das uns widergespiegelt wird, ungefiltert und unhinterfragt in uns aufnehmen. Aber angeregt durch den Blickwinkel des Anderen, die eigene Perspektive zu hinterfragen, sich selbst oder die Welt und die Dinge in ihr in einem anderen Licht sehen zu können, das sind Erfahrungen, die uns als Einzelne nur schwer zugänglich sind: “Und dieses Verstehen und Begreifen, sich Erkennen, ist tatsächlich glaube ich die einzige Möglichkeit für den Menschen sich weiterzuentwickeln. Und wie oft schaffen wir es eigentlich gar nicht, in den Spiegel zu schauen. Vor allem nicht so zu schauen, oder sich so zu betrachten, wie wir eigentlich sind. Also wie oft schützen wir uns durch eine Maskerade oder spielen uns selbst was vor. Und das führt letztendlich immer zu einem großen Missverständnis und wahrscheinlich in letzter Konsequenz zu einer Form von Selbsthass oder Verachtung. Und dieses sich selbst Annehmen, das merke ich für mich, das ist der eigentliche Antrieb. Das ist das Ziel.”

Es liegt also auch etwas Versöhnliches, im Erkennen und Erkanntwerden. Wenn wir begreifen, dass wir nicht die einzigen sind, die an Banalitäten scheitern, deren Probleme weltlich sind und deren Leben überhaupt ziemlich trivial ist. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb wir uns so sehr nach Authentizität sehnen. Weshalb wir gebannt Reality Shows verfolgen und uns auf Instagram durch die Stories von Fremden und Freunden klicken. Immer auf der Suche nach dem Ungefilterten, dem Alltäglichen – was dort in Wirklichkeit natürlich nicht zu finden ist. Und doch ziehen sie uns an, die sozialen Netzwerke. Weil sie bedienen, wonach wir suchen: Bestätigung. Weil wir sehen und gesehen werden. Plötzlich Einblicke in die Leben anderer Menschen erhalten, die uns eigentlich so fern scheinen. Wir ziehen Vergleiche – was natürlich nicht immer dienlich ist Vor allem, wenn wir, außer dem teils inszenierten und kuratierten Alltag der Menschen dort, kaum etwas über sie wissen. Aber eben in jener Ambivalenz erkennt Eidinger die Schönheit für sich: “Ich schöpfe immer aus dem Widerspruch. Der Satz von Brecht: “Die Widersprüche sind unsere Hoffnung”, das ist mein Credo. Und ich merke, dass im Widerspruch alles an Potential steckt, was man mit Talent für sich nutzbar machen kann. Und ein Begriff, wie “Soziale Netzwerke”, ist ein klassisches Oxymoron. Es gibt keinen Ort, der asozialer ist, als diese Netzwerke. Und trotzdem bin ich davon alles andere als fasziniert. Ich bin davon fasziniert angewidert. Und wahrscheinlich in letzter Konsequenz einfach nur hochgradig abhängig.”
Insofern lasst uns lieber den Blick vom Bildschirm lösen. Manchmal muss man auch nicht alles sehen und gesehen haben. Außer die Ausstellung “Klasse Gesellschaft”, die möchte ich an dieser Stelle doch noch kurz empfehlen. Ein kurzer Blick in die Shownotes genügt, da findet ihr mehr Infos. Wenn euch die Episode gefallen hat, freuen auch wir uns natürlich über Bestätigung jeder Art. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast!

30. November 2021

Florian Illies: (Braucht es mehr) Liebe in Zeiten des Hasses?

von Henrietta Clasen 23. November 2021

Es sei nicht möglich, eindeutige Lehrsätze aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu ziehen, aber jede Generation solle versuchen Fragen an die Geschichte zu stellen – weil das Überraschende sei, so Florian Illies, dass die Geschichte uns dann ganz neue Antworten gebe. In seinem neuen Buch “Liebe in Zeiten des Hasses” erkundet der Autor und Kunsthistoriker die “Goldenen Zwanziger” anhand ihrer Beziehungskonstellationen. Denn die Liebe, so Illies, eröffne uns neue Perspektiven auf die Zeit. Was wir aus der Geschichte und durch die Gefühlseindrücke der Protagonisten aus der Berliner und Pariser Boheme lernen können, darüber hat Marilena Berends mit dem Autor selbst gesprochen.

Shownotes:

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► Florian Illies: “Liebe in Zeiten des Hasses – Chronik eines Gefühls 1929 – 1939”, S. Fischer 2021.
► Helmuth Lethen: “Verhaltenslehre der Kälte”, Suhrkamp 2014.
► Hörenswert: “Augen zu” – der Kunstpodcast der ZEIT mit Florian Illies und Giovanni di Lorenzo.

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23. November 2021
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