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Sprache

Korbinian Frenzel: Wie streiten wir richtig?

von Marilena 5. November 2024

Reden wir noch miteinander – oder längst aneinander vorbei? Korbinian Frenzel, Journalist und Moderator, sieht unsere Gesellschaft in zunehmend polarisierten Debatten gefangen. In seinem Buch Defekte Debatten fordert er eine neue Streitkultur. Mit Marilena Berends spricht er über Cancel Culture, Filterblasen und Wege zu einem besseren Miteinander.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel: Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen, Suhrkamp 9/24
► Korbinian Frenzel auf X und Instagram

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast! Ich bin Marilena Berends und freue mich, dass ihr heute wieder dabei seid.

Heute geht es um ein Thema, das uns allen irgendwie täglich begegnet. Ob im Privaten, der Politik oder in der Gesellschaft – wir scheinen oft aneinander vorbeizureden, statt uns wirklich zuzuhören. Und am Ende bleiben wir oft auf unseren eigenen Standpunkten sitzen, ohne dass jemand so richtig etwas gewonnen hat.

Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen in Deutschland das Gefühl haben, nicht mehr ihre Meinung sagen zu können, ohne einen Shitstorm befürchten zu müssen. Stichwort: Cancel Culture.

Aber ist da was Wahres dran? Und, wie kann es uns gelingen, auch bei schwierigen Themen, wie Migration oder Klimawandel, wieder wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen?

Genau darüber habe ich mit meinem heutigen Gast und Lieblingsmoderator gesprochen: Korbinian Frenzel. Ihr kennt ihn vielleicht aus der Deutschlandfunk-Sendung “Studio 9, der Tag mit…”. Korbinian hat vor kurzem, zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach das Buch Defekte Debatten – Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen, geschrieben.

Also die perfekte Grundlage, um mit ihm darüber zu sprechen, wie wir uns aus dem festgefahrenen Schlagabtausch lösen und wieder einen echten Austausch schaffen können.

Alle, die Sinneswandel auf Steady supporten, haben übrigens die Chance, ein Exemplar von “Defekte Debatten” zu gewinnen. Alle Infos dazu findet ihr wie immer in den Shownotes.

So, und jetzt würde ich sagen steigen wir direkt ein in die Debatte!

[Gespräch]

Outro


Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch diese Folge mit Korbinian gefallen hat, teilt sie gerne mit euren Freundinnen und Freunden. Und falls ihr meine Arbeit finanziell supporten wollt, könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr mir einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. In den Shownotes findet ihr wie immer alle Infos und Links zur Folge. Das war’s von mir! Bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

 

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch diese Folge mit Korbinian Frenzel gefallen hat, teilt sie gerne mit euren Freundinnen und Freunden. Und falls ihr meine Arbeit finanziell supporten wollt, könnt ihr das ganz einfach via Steady oder, indem ihr mir einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. In den Shownotes findet ihr wie immer alle Infos und Links zur Folge. Das war’s von mir! Bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

5. November 2024

Stevie Schmiedel: Warum brauchen wir [k]einen “Genderwahn”?

von Marilena 7. November 2023

Der Feminismus ist gespalten, so Stevie Schmiedel. Das sei vor allem ein Generationenproblem, sagt die Genderforscherin und Gründerin von Pinkstinks Germany. Zwischen jungen, “radikalen” und alten, “gemäßigteren” Feminist*innen versucht sie eine Brücke zu schlagen. Wie und ob ihr das gelingt, darüber hat Marilena Berends mit Stevie Schmiedel gesprochen.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Mehr Infos zu Stevie Schmiedel auf ihrer Website
► Stevie Schmiedel: Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne. Warum uns ein bisschen Genderwahn guttut; Kösel 05/23
► Pinkstinks Germany
► re:publica x Reeperbahn Festival 2023: Stevie Schmiedel & Marilena Berends – Neue Strategien für den Feminismus
► Mehr zum “Selbstbestimmungsgesetz” erfahrt ihr auch in der Podcast Folge mit Trans Autor Linus Giese

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in dieser Episode zu begrüßen.

“Liebe Frau Berends, seitdem Sie im Sinneswandel Podcast gendern, oder wie diese Beleidigung der deutschen Sprache heißt, kann oder vielmehr will ich Ihnen nicht mehr folgen. Diese Genderwahn-Ideologie gebe ich mir nicht mehr! Schade, ich habe den Podcast wirklich gerne gehört.”

Es ist schon eine Weile her, dass mich diese E-Mail eines erzürnten Hörers, oder vielmehr ehemaligen Hörers, erreicht hat. Und ich möchte mich an dieser Stelle aufrichtig für diesen “Genderwahn” entschuldigen. Nein, Quatsch, das tue ich natürlich nicht. Auch, wenn es mir tatsächlich Leid tut, dass der Podcast für einige Menschen dadurch scheinbar unhörbar geworden ist.

Generell – und das ist wohl kaum ein Geheimnis – scheinen sich viele Menschen an dem Angebot, eine inklusivere Sprache zu etablieren, ob mit Sternchen, Doppelpunkt oder wie auch immer, ganz schön aufzureiben. Und damit meine ich nicht nur BILD- und Welt-Abonnenten. Selbst innerhalb des Feminismus scheiden sich hier die Geister. 

Nicht nur im Bezug auf das Gendern, generell sei die Stimmung unter Feminist*innen gerade sehr angespannt, sagt Stevie Schmiedel. Stevie ist promovierte Genderforscherin und Gründerin von “Pinkstinks Germany”, einer Bildungsorganisation gegen Sexismus, deren Vorsitzende sie bis 2020 war. Stevie ist schon eine ganze Weile im Feminismus aktiv und hat den Eindruck, dass die Bewegung sich immer weiter spaltet – in “Woke” und “Boomer”, in “Jung” und “Alt”, in “Radikale” und “Gemäßigte”… Und dieses Auseinanderdriften sorgt dafür, so Stevie, dass wir nicht weiter vorankommen. Dass wir Menschen, die wir eigentlich mitnehmen müssten, auf dem Weg verlieren.

Aber wie lässt sich das Dilemma auflösen und wie die Wogen glätten? Darüber hat Stevie laut in ihrem Buch „Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne. Warum uns ein bisschen Genderwahn guttut”, nachgedacht. Wir brauchen eine neue Debattenkultur, sagt Stevie, eine, die es uns erlaubt, Differenzen, die es wohl immer geben wird, auszuhalten. Und sie schlägt vor, dass wir die Bezeichnungen “Mann” und “Frau” – also Geschlecht – einfach über Bord werfen sollten. Klingt ziemlich radikal. Ob es das auch ist, das erfahrt ihr im Gespräch, das ich mit Stevie geführt habe.

Noch ganz kurz vorweg: Wenn ihr meinen Podcast – trotz Gendern – gerne hört, dann freue ich mich, wenn ihr meine Arbeit unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder indem ihr mir an Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Unter allen Unterstützer*innen verlose ich dieses Mal ein Exemplar von Stevies Buch „Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne”. Mehr dazu in den Shownotes. Vielen Dank!

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Saralisa gefallen hat, dann freue ich mich, wenn ihr den Podcast mit anderen Menschen teilt. Und falls ihr meine Arbeit via Steady oder Paypal supporten wollt, findet ihr alle Links und Infos dazu in den Shownotes. Das war’s von mir! Bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

7. November 2023

Samira El Ouassil: Können Geschichten die Welt verändern?

von Henrietta Clasen 16. November 2021

Eine Geschichte kann die Welt retten, ebenso, wie sie zerstören. Eine Geschichte kann Wahlen entscheiden, Kriege auslösen, aber auch Menschen miteinander verbinden. Das behaupten zumindest Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Die zwei Autor*innen haben ein Buch geschrieben: „Erzählende Affen“. Es handelt von Mythen, Lügen, Utopien – eben Geschichten, die unser Leben bestimmen. Früher, als wir noch um das Lagerfeuer herum saßen und unsere Erlebnisse teilten, wie auch heute, wenn wir twittern oder Zeitung lesen. Der Mensch sei nun mal ein “homo narrans”, so lautet Samiras und Friedemanns These. Mit ihrem neuen Buch wollen sie aufzeigen, welche kollektiven Erzählungen uns heute gefährden und weshalb es an der Zeit ist für neue Narrative. 

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Der Sponsor der heutigen Episode ist FLSK. Unter dem Motto „Made for movement“ produziert FLSK innovative und designorientierte Trinkflaschen und seit kurzem auch den CUP Coffee to go-Becher. Mit dem könnt ihr euren Kaffee unterwegs nachhaltiger genießen. Mit „sinneswandel15“ erhaltet ihr bis Ende diesen Jahres 15 Prozent auf alle FLSK-Produkte, ohne Mindestbestellwert.

► Samira El Ouassil, Friedemann Karig: “Erzählende Affen – Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen”, Ullstein (2021).
►Samira und Friedemann findet ihr auch auf Twitter.
►Hörenswert: Piratensender Powerplay, der wöchentlich am Samstag erscheinende Podcast von Samira und Friedemann.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

16. November 2021

Michael Brüggemann: Wie neutral kann Journalismus wirklich sein?

von Henrietta Clasen 19. Oktober 2021

Bereits in der letzten Episode haben wir über den sogenannten “Transformativen Journalismus” gesprochen. Also Journalismus, der neben der Problembeschreibung auch Lösungsansätze präsentiert und versucht, Akteure die eine nachhaltige Transformation begünstigen, durch Sichtbarkeit zu stärken. Da wir das Thema für sehr spannend halten und euch die Möglichkeit geben wollen etwas mehr in die Tiefe zu gehen, präsentieren wir euch heute das Gespräch mit dem Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann in ganzer Länge. Thema ist nicht nur, wie der Klimawandel bisher in der Medienlandschaft repräsentiert wird, sondern auch, welcher Umgang in Medien mit Klimaskeptikern und -leugnern sinnvoll ist.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Die heutige Episode wird präsentiert von der ZDF-Dokureihe plan b. Darin geht es um Menschen, die einfach mal machen: ob Licht aus Brot, Lachs aus Möhren oder Leder aus Kaktus. Klingt schräg – wenn Ihr wissen wollt, wie’s funktioniert, dann schaut in der ZDF-Mediathek auf planb.zdf.de vorbei.

► Episode 98 zum Thema “Transformativer Journalismus” könnt ihr hier nachhören.
►Hier erfahrt ihr mehr über Prof. Michael Brüggemann und seine Forschungsarbeit.
► Michael Brüggemann, Sven Engesser: Falsche Ausgewogenheit? Eine journalistische Berufsnorm auf dem Prüfstand in: “Verantwortung – Gerechtigkeit – Öffentlichkeit: Normative Perspektiven auf Kommunikation”, S. 51-63 (2016).
► the consensus project of skeptical science.
► S4F: Handbuch zum Klimakonsens – kostenlos als PDF.
► IPCC: Sixth Assessment Report (08/2021).
► Artikel des WELT-Wissenschaftsjournalisten Axel Bojanowski sind hier nachzulesen.

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
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Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als Pionier*innen mit 10€ im Monat unterstützen: Bastian Groß, Pascale Röllin, Wolfgang Brucker, Petra Berends, Holger Bunz, Dirk Kleinschmidt, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Andreas Tenhagen, eeden Hamburg Co-creation Space for visionary women*, David Hopp, Jessica Fischer (Universität Paderborn), Ioannis Giagkos, Matthias Niggehoff, Nina Lyne Gangl, Johanna Bernkopf, Holger Berends, Sebastian Hofmann, Do rian, Anita Wilke, Razvan Pufuleti, Daniele Lauriola und Samira Felber.

19. Oktober 2021

“Klimajournalismus” – ist das schon Aktivismus?

von Henrietta Clasen 12. Oktober 2021

Ist der Begriff “Klimawandel” zu schwach? Sollten Journalist*innen lieber Begriffe, wie “Klimakrise” oder “Klimanotstand” verwenden – oder ist das vielleicht sogar eher kontraproduktiv? Immer häufiger wird über die Frage diskutiert, wie neutral oder objektiv Journalist*innen und Medienschaffende in der Berichterstattung von Klimafakten sein sollten. Darf man sich wirklich unter keinen Umständen mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer Guten? In dieser Episode betrachten wir unterschiedliche Perspektiven auf den “Transformativen Journalismus” – u.a. mit Kommunikationsforscher Prof. Michael Brüggemann.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Die heutige Episode wird präsentiert von der ZDF-Dokureihe plan b. Darin geht es um Menschen, die einfach mal machen: ob Licht aus Brot, Lachs aus Möhren oder Leder aus Kaktus. Klingt schräg – wenn Ihr wissen wollt, wie’s funktioniert, dann schaut in der ZDF-Mediathek auf planb.zdf.de vorbei.

► The Club of Rome: Die Grenzen des Wachstums (1972), bpb.
► Sechster IPCC-Sachstandsbericht (AR6) – Teil 1 (08/2021).
► Studie von Sven Engesser und Michael Brüggemann: Falsche Ausgewogenheit? Eine journalistische Berufsnorm auf dem Prüfstand, (02/20).
► IOP Science-Studie: Quantifying the consensus on anthropogenic global warming in the scientific literature, (2013).
► Studie der World Weather Attribution: Heavy rainfall which led to severe flooding in Western Europe made more likely by climate change, (08/21). 
► the consensus project by Skeptical Science.
► Wissenschaft im Dialog: Leitlinien zur guten Wissenschafts-PR.
► Blog Postwachstum: Konstruktiven Journalismus neu denken von Uwe Kröger.  
► Übermedien: Journalist:innen, nehmt die Klimakrise ernst!, offener Brief von Sara Schurmann (09/20).
► taz: Zur Sprache des Klimajournalismus – Vorschläge für die Verwendung alter und neuer Schlüsselbegriffe von Torsten Schäfer.
► Initiative Covering Climate Now.
► Netzwerk Klimajournalismus Deutschland.
► Online-Plattform Grüner Journalismus.
► Initiative KLIMA vor acht.
► RTL: Klima Update.
► Tweet Bernd Ulrich (7.9.2020).
► Tweet Teresa Bücker (7.9.2020).
► WELT: Der unappetitliche Klima-Bluff von Axel Bojanowski (09/21).
► WELT: Die unterschätzte Macht der grünen Lobby von Axel Bojanowski (04/21).

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
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Transkript: “Klimajournalismus” – ist das schon Aktivismus?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

*Werbung* Unser Podcast wird heute präsentiert von der ZDF-Dokureihe „plan b“. plan b ist Fernsehen mal anders: nämlich mit positivem Ansatz, nach dem Motto: Wo ist eigentlich die Lösung? Die Dokureihe handelt von Menschen, die einfach mal machen: ob in Sachen Klimaschutz, Technik oder Gesellschaft. Licht aus Brot, Lachs aus Möhren oder Leder aus Kaktus. Klingt schräg – wenn Ihr wissen wollt, wie’s funktioniert, dann schaut  in der ZDF-Mediathek auf planb.zdf.de vorbei. Da gibt es jede Menge Geschichten von Andersmacher*innen und Stories die zeigen, was alles möglich ist. *Werbung Ende*

Nein, das war nicht die Tagesschau von gestern Abend – hätte es aber durchaus sein können. Das war eine Ausstrahlung von 1995. Bereits 1972 allerdings, veröffentlichte der Club of Rome die “Grenzen des Wachstums”. Darin heißt es: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“ Noch sind zwar keine hundert Jahre seitdem vergangen, doch hat die Bedrohlichkeit dieser Warnung keinesfalls an Dringlichkeit verloren – ganz im Gegenteil. Erst kürzlich stellte das Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC, Teil eins des Sechsten Weltklimaberichts vor. 1990 erschien der Erste, der als Basis für die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen diente. Seitdem fassen die Berichte regelmäßig den aktuellen wissenschaftlichen Stand über die Beeinflussung des Erdsystems durch uns Menschen zusammen und, welche Konsequenzen daraus möglicherweise folgen. Es ist nicht irgendeine Studie, sondern der Bericht, auf dessen Erscheinen weltweit – hingefiebert wäre vermutlich zu viel gesagt – ihn aber doch mit Spannung erwartet hat. Nicht umsonst wird er auch als “Realitätscheck” gehandelt. Und der fällt gar nicht mal allzu gut aus, betrachtet man eine der zentralen Kernaussagen der Leitautor*innen, die lautet: “Die Menschheit wird die Pariser Klimaziele verfehlen, wenn die Treibhausgasemissionen nicht schnell und drastisch reduziert werden.” Konkret bedeutet das: Wenn nicht alle Länder der Welt ihre Emissionen reduzieren, wird es schon bald unmöglich sein, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Und das wiederum würde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dramatische Folgen für künftige Generationen haben. Der Bericht zeigt aber zugleich: Noch liegt es in unserer und vor allem politischer Hand, den fahrenden Zug aufzuhalten, bevor es zu spät ist und die Realität uns in Form drohender Kipppunkte, einholen wird. Es sind alarmierende aber durchaus auch ermutigende Ergebnisse, wenn man den Handlungsspielraum betrachtet, der offensichtlich noch vorhanden ist. Wäre das allein nicht Grund genug, weltweit und mit Nachdruck medial davon zu berichten? Zumal sich diese Krise, laut Wissenschaft, auch nur in globaler Zusammenarbeit lösen lässt.

Kurz nach Erscheinen des Sechsten IPCC-Berichts am 9. August diesen Jahres, hätte man den Eindruck gewinnen können, dass genau das geschieht. Vielerorts, auf öffentlich-rechtlichen als auch privaten Sendern, Zeitungen und Plattformen wurden die Ergebnisse Weltklimarats geteilt. Doch bereits nach wenigen Tagen ebbte die Aufmerksamkeitsflut wieder ab und andere Themen rückten in den Vordergrund. Lag es an der Komplexität der Sachzusammenhänge, waren die Ergebnisse des Berichts nicht “catchy” genug, oder liegt der Grund vielmehr in der Beschaffenheit unserer heutigen Medienlandschaft? Es ist gewissermaßen eine Kombination aus beidem, sagt Kommunikationswissenschaftler Prof. Michael Brüggemann, der an der Universität Hamburg erforscht, wie der Klimawandel in Medien und Wissenschaft thematisiert und rezipiert wird: “Dem Journalismus gerät der Klimawandel immer wieder aus dem Blick, weil er nicht den  Aufmerksamkeitskriterien genügt, die Journalist*innen anlegen. Der Journalismus ist fokussiert auf kurze Ereignisse. Und der Klimawandel ist ein langsamer, über Jahrzehnte oder sogar über Jahrhunderte laufender Prozess. Und das ist praktisch die Brille, die Journalisten auf haben, die sehen die strukturellen Probleme dann nur sehr schlecht und vergessen dann kontinuierlich darüber zu berichten.”  Das könnte sich natürlich ändern, wenn die Naturkatastrophen, die durch den Klimawandel mit großer Wahrcheinlichkeit vermehrt auftreten werden, sich künftig häufen – aber will man es darauf ankommen lassen? Hinzu kommt, dass es nicht nur an Frequenz hinsichtlich der Berichterstattung zum Klimawandel und seinen Auswirkungen bisher mangelt, auch inhaltlich wird dem Thema, zumindest, wenn es nach einer ganzen Reihe an Medienschaffenden wie auch Wissenschaftler*innen geht, nicht Genüge getragen. 

Aus diesem Anlass veröffentlichte die Journalistin Sara Schurmann im September letzten Jahres einen offenen Brief, in dem sie ihre Kolleg*innen dazu aufforderte, die Klimakrise endlich ernst zu nehmen – ergo sich in der Verantwortung zu sehen, häufiger und mit mehr Nachdruck über sie zu berichten. In diesem Brief heißt es: “Nicht nur die Klimaleugner:innen sind das Problem, auch wir sind es. Solange eine kritische Masse an Journalist:innen das nicht verstanden hat und ihre Arbeit nicht danach ausrichtet, solange werden auch Politiker:innen nicht entsprechend handeln.” In Schurmann’s Worten schwingt eine gewisse Verzweiflung, zugleich aber auch Hoffnung mit. Was sie mit ihrem Appell keineswegs bezwecken will, ist eine pauschale Kritik an allen Journalist*innen, derzufolge sie ihrer Verantwortung nicht gerecht würden. Es gibt viele exzellente Berichte über die Klimakrise und Journalist*innen, die seit Jahren unermüdlich vor den Auswirkungen warnen. Allerdings, so Schurmann, sei die Klimakrise “weit mehr als ein Fall für Fachjournalist:innen”. Sie betreffe alle Bereiche unseres Lebens und damit auch des Journalismus: “Mit ist selbst erst vor über einem Jahr bewusst geworden wie akut die Klimakrise eigentlich ist. Einer der Anlässe damals war, dass die Berichterstattung über dieses EU Corona Finanzpaket, das die Wirtschaft ankurbeln soll nach der Corona-Krise, das die Klimakrise nicht mitgedacht hat. […] Mir war zu dem Zeitpunkt relativ klar, das sind genau die 7 Jahre, in dem wir das Geld für klassische Wirtschaftsförderung ausgeben wollen, sind genau der Zeitraum in dem wir noch Zeit haben unsere Emissionen drastisch zu reduzieren und das geht nicht zusammen. Klassische Wirtschaftsförderung und Emissionen reduzieren ist im moment noch nicht kompatibel, da Emissionen und Wirtschaftswachstum nicht völlig voneinander entkoppelt sind. Als das so wenig mitgedacht wurde in den Artikeln, ging mir auf “wow, vermutlich wird Klima auch bei anderen Sachen vernachlässigt”. Das war der Punkt, in dem mir aufging, dass wir die Klimakrise im Gesamtbild, im medialen, nicht adäquat darstellen. Das war der Anlass, dass ich diesen offenen Brief geschrieben und publiziert habe.” 50 Journalist*innen unterstützen den Aufruf initial, rund 250 Menschen weltweit haben ihn mittlerweile unterzeichnet. Ganz allein steht Sara Schurmann keinesfalls mit ihrer These da. Auch Kommunikationswissenschaftler Brüggemann ist der Auffassung, der Klimawandel dürfe kein Nischenthema für Fachexpert*innen bleiben und damit in Umweltressorts – sofern diese überhaupt existieren – verbleiben. Vielmehr sei die Klimaberichterstattung ein “Querschnittsthema”. Konkret bedeutet das: Wird über das neue Iphone berichtet, so sei es wünschenswert, würde darin auch die Rohstoffgewinnung oder die Recyclingfähigkeit eine Rolle spielen. Gleiches gilt für Themen, wie das Reisen, Architektur, Film, Verkehr oder Mode. Natürlich ist es nicht immer möglich, in jedem einzelnen Artikel oder jeder Sendung differenziert auf die klimatischen Aspekte im Zusammenhang einzugehen, aber zumindest sollte es grundsätzlich mitgedacht und nicht an die Redakteur*innen der Wissenschaftsressorts ausgelagert werden. Aus diesem Grund gründete Sara Schurmann auch gemeinsam mit Kolleg*innen ein ressort- und  medien-übergreifendes Netzwerk: “Wir haben das “Netzwerk Klimajournalismus Deutschland” gegründet, um Kolleg*innen zusammenzubringen, die sich entweder schon mit Klimajournalismus beschäftigen oder die sich mehr damit beschäftigen wollen, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Wir wollen sowohl Inputs und einen fachlichen Austausch bieten, als auch einen redaktionellen Austausch. Gerade auch für Kolleg*innen, die frei arbeiten und nicht so viel Gelegenheit haben sich mit anderen auszutauschen oder auch Kolleg*innen, die in ihrer Redaktion Klima- oder Biodiversität alleine beackern als Thema. Wir haben das Netzwerk sehr bewusst Netzwerk Klimajournalismus Deutschland genannt und nicht “Journalists For Future”, weil uns schon klar ist, dass diese aktivistische Vermischung und sich in die FF-Bewegung einzureihen journalistisch so nicht geht. Man muss, auch zu dieser Bewegung, eine Distanz waren. Auch wenn ich grundsätzlich ihre Forderungen, dass wir unsere Lebensgrundlage erhalten, unterstütze. Aber natürlich müssen wir als Journalist*innen auch über diese Bewegung kritisch berichten können und ich finde insgesamt sich mit Bewegungen gemein zu machen, von denen man nicht weiß, wie sie sich entwickeln und welche Wendungen die noch nehmen, journalistisch schwierig. Von daher gibts dafür auch nicht die Notwendigkeit. Es geht, wie gesagt, erstmal um den Austausch, darum, Leute zusammenzubringen und sie dadurch vielleicht auch zu motivieren weiter zu machen, weil es auch ganz schön deprimierend sein kann, sich die ganze Zeit mit Klima und den Krisen alleine zu beschäftigen. Schon allein auch ein emotionaler Austausch unter Kolleg*innen kann da wahnsinnig viel wert sein.” 

Teil des Gründungsteams ist auch der Umweltjournalist und Hochschulprofessor Torsten Schäfer. Bis heute leitet er das Online-Portal “Grüner Journalismus” und erstellte im September vergangenen Jahres für die taz ein Konzept für eine “klimagerechte Sprache” – denn auch die forme, wie die taz schreibt, unser Denken und damit auch unser Klimabewusst-Sein. Die Empfehlungen Schäfer’s beziehen sich dabei insbesondere auf das Framing, also den Rahmen in dem der Inhalt medial eingebettet wird. Ist der Begriff “Klimawandel” zu schwach? Sollten Journalist*innen lieber Begriffe, wie “Klimakrise” oder gar “Klimanotstand” verwenden – oder ist das vielleicht sogar eher kontraproduktiv? Ziel der Empfehlungen einer “klimagerechten Sprache” sei es nicht, Sprachverbote oder Regeln aufzustellen. Vielmehr sei sie “Ausdruck von Vielfalt und sollte daher auch journalistisch offen bleiben, dies freilich in einem Rahmen, den normative Kontexte wie Demokratie und planetare Grenzen setzen”, so Schäfer. Der Diskurs um die mediale Berichterstattung der Klimakrise, der in Deutschland gefühlt erst jetzt Fahrt aufnimmt, hat international bereits vor einigen Jahren begonnen. Resultat daraus ist unter anderen die Initiative  “Covering Climate Now”, initiiert von dem renommierten Fachmagazin Columbia Journalism Review. Im Sommer 2019 riefen diese Medien in aller Welt dazu auf, sich an einer Klima-Themenwoche zu beteiligen. Vom 16. bis 23. September, also bis zum Auftakt des UN-Klimagipfels, der 2019 in New York stattfand, beteiligten sich rund 200 Medien weltweit an der Aktion. Der Guardian, die Nachrichtenagentur Bloomberg, die Huffington Post, ebenso, wie die taz, verpflichteten sich, “in dieser Woche mit Wucht über dieses doch eigentlich journalistisch so undankbare Thema zu berichten”, wie es der SPIEGEL formulierte. Ziel der Initiative “Covering Climate Now”, die aufgrund der großen Resonanz bis heute weitergeführt wird, ist es, neben der Prominenz und Sichtbarkeit, die dem Klimathema dadurch gewidmet wird, die Geschichten auch so zu erzählen, dass die Menschen sie auch begreifen. Es ginge nicht darum, den Leuten vorzuschreiben, was sie publizieren oder senden, wie die Initiatoren immer wieder betonen. Vielmehr ginge es darum, die Öffentlichkeit zu informieren und Debatten zu ermöglichen, da das Thema uns alle anginge. 

Für einige Medienschaffende geht das allerdings zu weit. Ganz im Sinne des deutschen Journalisten und ehemaligen Tagesthemen Moderators Hans Joachim Friedrichs, von dem die Worte stammen: „Ein Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten“, sehen sie eine Gefahr in diesem Verständnis von Journalismus. Dieser habe den Grundsatz der Objektivität zu erfüllen – wer Überzeugungsarbeit leisten will, der soll sich den Aktivist*innen anschließen, so der Tonus einige Kritiker*innen. Worauf sich diese beziehen, ist der Anspruch des Journalismus auf Ausgewogenheit. Sprich, der Pluralismus in den Medien soll durch die Präsentation verschiedener Meinungen und Perspektiven erhalten bleiben. Klingt sinnvoll, ist es auch! Aber was bedeutet das eigentlich im Hinblick auf die Berichterstattung zum Klimawandel? Ist die Konsequenz daraus, dass Journalist*innen ihre Leser- oder Hörerschaft nicht vom menschengemachten Klimawandel überzeugen dürfen? Wenn man überhaupt von überzeugen sprechen kann, wenn sich mehr als 97 Prozent der führenden Wissenschaft längst darin einig sind, dass dieser menschengemacht ist und wir etwas gegen sein Voranschreiten tun müssen. Oder ist mit Ausgewogenheit gemeint, dass, wenn über den Klimawandel berichtet wird, unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt werden müssen? Wer eine Umweltwissenschaftlerin in eine Talkshow einlädt, muss er ihr gegenüber dan einen Klimaskeptiker oder gar -leugner platzieren? Gerade das sollte tunlichst vermieden werden, sagt Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann. Er hat gemeinsam mit Kolleg*innen zur sogenannten “Falschen Ausgewogenheit” geforscht und kam zu folgenden Erkenntnissen: “Zu Recht wollen Journalist*innen die Vielfalt der Meinungen darstellen und ausgewogen berichten. Und ‘falsche Ausgewogenheit’ ist dann, wenn man über eine wissenschaftliche Faktenfrage, über die Konsens herrscht, wie, dass es den anthropogenen Klimawandel gibt oder, dass Impfungen bei bestimmten Erkrankungen eine sehr wichtige und unschädliche Sache sind, da, wo es also gar keine Debatte, sondern einen Konsens gibt unter denen, die sich da auskennen, dass dann manche Journalisten denken: “Ich muss da jetzt meine Ausgewogenheit machen. Deshalb brauche ich immer jemanden, der bestreitet, dass der Klimawandel ein ernstzunehmendes Problem ist oder der bestreitet, dass die Menschen den Klimawandel verursachen.” Was dann wie eine 50:50-Balance aussieht, ist aber eigentlich eher ein 97:3-Verhältnis, zumindest, wenn wir vom Klimawandel sprechen. Das bedeutet nicht, dass keine Kritik an diesem Thema geäußert werden könne, nur müsse das Verhältnis zwischen solchen, die extreme und meist in der Minderheit vorhandene Meinungen vertreten und jenen die den wissenschaftlichen Konsens vertreten, entsprechend dargestellt werden. “Und so müsste es dann eigentlich sein, dass man sagt: ‘Okay, ich lade mir jetzt die 97 Experten ein, die sagen, dass es den Klimawandel gibt und die drei, sogenannten Experten, die das bestreiten’.”  Wichtig sei es vor allem die Thesen in den Kontext einzuordnen, insbesondere, wenn sogenannte “Klimaskeptiker” zu Wort kämen. Dies werde auch bereits von vielen Journalist*innen so gehandhabt, wie Brüggemann und sein Forschungsteam herausfanden: “Was wir in unserer Studie gesehen haben, in verschiedenen Ländern in der Qualitätspresse und in führenden Online-Angeboten, dass das zum Glück ein bisschen nachgelassen hat, dass der Journalismus was gelernt hat und die Leute, die das wirklich wider jeglicher Vernunft abstreiten, dass es den Klimawandel gibt, dass die weniger neutral zu Wort kommen, sondern, dass in der Regel Journalist*innen das kontextualisieren und sagen: “Hier gibt es den Bericht des Weltklimarats, wo der Forschungsstand gut zusammengefasst wird. Und dann gibt es aber auch Leute, die das bezweifeln.” Empfehlen würde Brüggemann grundsätzlich jedoch, Extrempositionen zu vermeiden, auch, wenn diese oft zu höheren Klickraten führen.

Ganz beantwortet ist die Frage, ob sich der Journalismus wirklich angreifbar macht, indem er der Klimaberichterstattung eine gewisse Priorisierung einräumt und damit vermeintlich weniger objektiv dasteht, allerdings noch nicht. Die Journalistin Sara Schurmann schreibt in ihrem besagtem offenen Brief, viele Medienschaffende würden zu Recht den Unterschied von Aktivismus und Journalismus betonen. Aber “die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels als vierte Gewalt zu kontrollieren”, sei kein Aktivismus, als vielmehr “wissenschaftlich, menschlich und journalistisch geboten”, so Schurmann. Für Umweltjournalist Torsten Schäfer hat Nachhaltigkeit sogar die gleiche Bedeutung wie etwa Meinungsvielfalt und Bürgerrecht, für deren Erhalt sich innerhalb von Demokratien Journalist*innen auch problemlos einsetzen können. Warum dann nicht auch für die Bekämpfung des Klimawandels? Weshalb macht man sich hier als Journalist*in schnell des Aktivismus verdächtig? Ist es so abwegig, dass einem das Thema und damit der Erhalt von Mensch und Erde, am Herzen liegt? Wie objektiv können Journalist*innen im Hinblick auf die Klimakrise überhaupt sein, wenn sie doch uns alle betrifft? Sara Schurmann hat darauf für sich eine recht klare Antwort gefunden: “Hier ist natürlich die Frage was man unter Neutralität oder Objektivität versteht. Ich würde darunter erstmal verstehen, dass man sich an wissenschaftliche Fakten hält. Ich glaube nicht, dass man sich als Journalist neutral zwischen die Option Klimaschutz oder kein Klimaschutz stellen kann. Denn, dass es Klimaschutz unbedingt braucht, ist wissenschaftlich absolut eindeutig, wenn wir den nicht machen, gefährden wir die Menschheit. Von daher ist das glaube ich nicht die Position der Neutralität, die man einnehmen kann. Neutral wäre es eher, sich an einen wissenschaftlichen Konsens zu halten und diesen hochzuhalten – und der fordert auf jeden Fall Klimaschutz.”

Wissenschaft braucht guten Journalismus, der in der Lage ist die Ergebnisse für ein Publikum aufzubereiten, das in der Regel nicht so tief in den Themen steckt. Dafür müssen Journalist*innen häufig, einerseits aus Platzmangel und, um Komplexität zu reduzieren, Abstriche machen. Ansonsten könnten sie ja auch einfach die wissenschaftlichen Paper bei sich eins zu eins abdrucken lassen. Aber wer hat schon Zeit und Muße die oft hunderte Seiten füllenden Berichte zu studieren? Die wenigsten von uns vermutlich. Daher vereinfachen Journalist*innen in der Regel in der Klimaberichterstattung die Modelle, die Wissenschaftler*innen verwenden, um Zusammenhänge und Wahrscheinlichkeiten zu erklären. 

Genau dieses Vorgehen allerdings kritisiert der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski von der WELT immer wieder, dass angeblich in Berichten über Klimaprognosen deren Unsicherheiten verschwiegen würden. Erst kürzlich übte er Kritik an der medialen Berichterstattung einiger Journalist*innen, welche die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen auf die Folgen des Klimawandels zurückführten. Für Bojanowski bestätigt sich darin seine These, derzufolge ein gewisser Anteil an Journalist*innen, wie auch Wissenchaftler*innen sich der sogenannten “noble cause corruption”, also der Korruption für den guten Zweck verdächtig machten. In seinen Augen würden diese zugunsten der Risiken, die Unsicherheiten die der Klimaforschung zugrunde liegen, verschweigen: “Viele haben einfach noch nie davon gehört, dass die Klimawissenschaft komplex ist und immer mit erheblichen Unsicherheiten arbeiten muss. Wenn ich dann einen Artikel schreibe, indem ich schreibe, dass Vieles nicht so klar ist in Sachen Klimawandel, wirkt das für manche wie Provokation. Dabei ist die Vermittlung von Unsicherheiten ganz entscheidend, um sich verantwortungsvoll vorbereiten zu können auf die Folgen der globalen Erwärmung.” Bojanowski meint dabei zwei Gruppen beobachten zu können, welche sich im Hinblick auf die Berichterstattung von Klimafakten gegenüberstünden und die er für problematisch hält: “Die “Risikenverschweiger” gehen gerne über die erheblichen Risiken der globalen Erwärmung hinweg. Diese Leute werden gerne oft auch als “Klimaskeptiker” bezeichnet. Die “Unsicherheitenverschweiger”, wie ich sie nennen, ignorieren die gewaltigen Unsicherheiten im Klimasystem, häufig um die Risiken zu unterstreichen. Sie werden gemeinhin auch gerne als “Alarmisten” bezeichnet. Beide Gruppen verschweigen also jeweils eine wesentliche Realität – entweder die Risiken des Klimawandels oder die Unsicherheiten des Klimawissens.” Nun lässt sich keineswegs leugnen, dass Wissenschaft immer Unsicherheiten mit sich bringt. Sonst wäre sie keine Wissenschaft, sondern Ideologie. Selbst die Wettervorhersage für übermorgen ist mit Unsicherheiten verbunden. Sich jedoch auf die Komplexität der Klimawissenschaft zu berufen, um dadurch zu begründen, weshalb diese angeblich keine Ergebnisse hervorbringe, auf die man sich mit einer gewissen Sicherheit stützen könne, sei schlichtweg irreführend und falsch, wie mir Prof. Dr. Pao-Yu Oei,  Klimawissenschaftler an der Europa-Universität Flensburg erzählt. Unsicher sei lediglich die Tragweite der Katastrophe, nicht aber, dass es durch den Menschen zu extremen irreversiblen Veränderungen kommen wird. Mindestens 97 Prozent aller veröffentlichten wissenschaftlichen Paper, die den  Klimawandel behandeln, stimmen darin überein, dass dieser menschengemacht ist. Die Anzahl der veröffentlichten Paper, die dem widersprechen, ist im Vergleich dazu verschwindend gering, wie auch das sogenannte “consensus project” offenlegt. Es ist richtig, dass die Intensität einiger Szenarien, wenn es beispielsweise um irreversible Kipppunkten geht, nicht exakt prognostiziert werden kann – was der IPCC-Bericht allerdings auch transparent offenlegt – jedoch muss man sich doch fragen, ob diese zum Teil marginalen Unsicherheiten, Grund genug darstellen, sie gegenüber den Risiken hervorzuheben, die in vielen Fällen dramatische Auswirkungen haben können. Ist es wirklich ratsam, bis zum letzten Moment zu warten, bis man sich zu 100 Prozent sicher sein kann – was allerdings der Wissenschaft widerspräche – um Menschen adäquat zu informieren oder, wenn nötig, zu warnen? Im Fall der Hochwasserkatastrophe in Mitteldeutschland in diesem Sommer wäre es, wie eine Studie der „World Weather Attribution“-Initiative (WWA) herausfand, ratsam gewesen, früher auf die Gefahren hinzuweisen, die auch im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung stehen. Transparenz gehört zu guter Kommunikation dazu, auch oder ganz besonders bei der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das hebt auch der Meteorologe Franz Ossing, der Teil des Koordinationsteams der Scientists for Future ist, hervor. Guter Wissenschaftsjournalismus “stärkt das Bewusstsein und den Respekt für die Positionen aller Beteiligten […], fördert den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft […] und arbeitet faktentreu.” Das heißt, er “übertreibt nicht in der Darstellung der Forschungserfolge und verharmlost oder verschweigt keine Risiken. [… Er] unterstützt und organisiert den Dialog über Chancen und Risiken von wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen”, wie sich in den “Leitlinien zur guten Wissenschafts-PR” der Initiative “Wissenschaft im Dialog” (WiD) nachlesen lässt. Das scheint prinzipiell auch mit den Forderungen von Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski übereinzustimmen, dieser sieht jedoch nach wie vor eine besondere Gefahr in jenen Journalist*innen, die seiner Meinung nach “Überzeugungsarbeit” leisten würden: “Prinzipiell finde ich es gut, wenn Journalisten unterschiedliche Perspektiven aufzeigen – das ist ja der Pluralismus, der die Sache vorantreibt. Gute Sache, würde ich sagen. Ich halte es aber für höchst problematisch, wenn Medien Überzeugungsarbeit leisten wollen. Medienforschung hat gezeigt, dass sich die Leser abwenden, wenn sie mit Überzeugungsarbeit konfrontiert werden – nur Sympathisanten macht man glücklich mit “Wach-rüttel-Journalismus”. Fraglich ist jedoch, was seine eigene Form der Kommunikation auszeichnet. Wer, wie Bojanowski, Artikel veröffentlicht, in denen er vor einer “unterschätzen Macht der grünen Lobby” warnt oder die Idee einer täglichen Klimasendung im Fernsehen als “ideologisch” bezeichnet, ist der wirklich so neutral, wie er vorgibt zu sein? 

“Der am weitesten verbreitete Aktivismus unter Journalisten ist wohl die Parteinahme für eine Normalität, die es nicht mehr gibt, also der #Normalismus als Ideologie. Womit dann eine begrenzte Wahrnehmung und verfälschende Gewichtung von Realität einher geht” twitterte  der deutsche Journalist und stellvertretende Chefredakteur der ZEIT, Bernd Ulrich, Anfang September letzten Jahres: Eine Antwort oder vielleicht eher Ergänzung auf den Tweet der Journalistin und Autorin Teresa Bücker, die mit einem Zwinkern schrieb: “Vielleicht sollte man mal anfangen, gewisse Menschen als […] ‘Aktivist für Umweltzerstörung’ […] zu betiteln.” Vertreten wir nicht immer irgendwie unsere Interessen? Und ist der Einsatz für den Erhalt des Status-quo nicht auch in gewisser Weise “Aktivismus”? Zumindest steckt dahinter eine Überzeugung, eine Haltung und Werte. Diese transparent zu machen, ganz gleich, wofür man auch stehe, darin liege die Krux, so Medienwissenschaftler Brüggemann: “Es gibt einfach ein klassisches verständnis des Journalismus das sagt: Der Journalist ist ein neutraler, distanzierter Beobachter, der ganz objektiv davon berichtet, wie die Welt ist. Dann gibt es die Vorstellung, die eher in den Sozialwissenschaften vorherrscht, dass eigentlich niemand in der Lage ist neutral und ohne Meinung zu berichten. Dass also alle Menschen bestimmte Meinungen und Werte, Vorstellungen und Weltsichten haben. Und diese Weltsichten prägen immer alles was sie sagen. Wenn man von dieser Position ausgeht, dann fällt die künstliche Gegenüberstellung von Aktivisten und Journalisten in sich zusammen. Weil es dann nur noch ein Mehr oder Weniger gibt, beziehungsweise einen Unterschied zwischen denen, die ihre Werte und Meinungen transparent machen und die so tun, als ob sie neutral sind, es aber nicht sind. Das machen die ja gar nicht unbedingt absichtlich. […] Also, wenn ich jetzt alle möglichen Journalist*innen fragen würde, ist Pressefreiheit ein Wert für den sie streiten, auch in ihrer Arbeit – Meinungsfreiheit, Demokratie – dann würden die meisten vermutlich ja sagen. Es gibt so bestimmte Werte, die eben doch viele Journalisten in unserer Gesellschaft teilen und da ist ja auch kein grundsätzliches Problem dabei. Solange man sich dessen bewusst ist. Es ist eigentlich schlauer, wenn man sich selber hinterfragt, was sind denn eigentlich meine Werte? Warum mache ich denn eigentlich Klimajournalismus? Doch nicht, weil im Wirtschaftsjournalismus kein Job frei war? […] Und ein Autojournalist interessiert sich doch vielleicht auch für Autos und fährt gerne Auto. Und diese eigene bias, die Menschen nun mal haben, transparent zu machen, das finde ich besser, als das einfach abzustreiten und zu tun: “Ich bin der, der neutral ist und sag wie die Fakten sind und die anderen sind praktisch die Aktivisten.”

Grundsätzlich können wir wohl erstmal festhalten, dass den meisten Journalist*innen, die ihren Beruf ernst nehmen, Meinungsvielfalt und Pluralismus am Herzen liegt. Wieso sollte es daher schaden, wenn auch der Journalismus selbst eine neue, nennen wir es “Strömung” erhält? Könnte ihm das nicht sogar gut tun? Als sogenannter “Transformativer” oder “Konstruktiver Journalismus” wird diese Art der Berichterstattung auch bezeichnet. Also Journalismus, der neben der Problembeschreibung auch Lösungsansätze präsentiert und versucht, Akteure die eine nachhaltige Transformation begünstigen, durch Sichtbarkeit zu stärken. Eine Reihe von spezialisierten Medien, wie das enorm-Magazin, Perspective Daily oder die klimareporter pflegen diesen journalistischen Ansatz bereits. Von strategischer Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit grenze sich der Transformative Journalismus jedoch dadurch ab, dass er institutionell und mental unabhängig von den Akteur*innen des Wandels agiere, so Dr. Uwe Kröger, Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Leipzig. Neutral ist Transformativer Journalismus demnach zwar nicht, aber objektiv kann und soll er durchaus sein. Wichtig für die Legitimation einer solchen Berichterstattung sei ein allgemeines Bewusstsein, dass das Herstellen von Öffentlichkeit für jegliche Themen oder Akteur*innen immer ein politischer Akt und nie wertfrei sei, meint Kröger. Dies gilt auch, wenn die ARD vor der Tagesschau die „Börse vor acht“ sendet oder ein konstruktiv-transformatives Format namens „KLIMA vor acht“. So nennt sich eine Initiative die eine “Primetime fürs Klima” fordert, in der regelmäßig und wissenschaftlich fundiert über die Klimakrise berichtet werden soll. Bisher wurde die Sendezeit von den öffentlich-rechtlichen Sendern jedoch nicht zur Verfügung gestellt. Pressesprecherin von KLIMA vor acht, Friederike Mayer, sagt zu dieser Entscheidung: “Man könnte spekulieren, ob es daran liegt, dass diese Idee von außen an den Sender herangetragen wurde oder ob es daran liegt, das Klimaberichterstattung oft noch, fälschlicherweise, als “grünes” Thema gesehen wird bzw. parteipolitisch verknüpft wird und sich die Sender deswegen scheuen so ein Format umzusetzen. Ich persönlich denke, dass die Dimension der Krise, mit der wir es hier zu tun haben, von den öffentlich-rechtlichen bis heute noch nicht richtig verstanden wurde. Denn hätten sie das verstanden, wäre es eigentlich gar keine Frage, dass so ein Format entwickelt wird und auch auf einem prominenten Sendeplatz läuft.” Einen kleinen Erfolg konnte die Initiative jedoch kürzlich verzeichnen, als der TV-Sender RTL bekannt gab, dass immer donnerstags und samstags auf die Hauptausgabe von „RTL Aktuell“ ein „Klima Update“ folgen werde. In den 90 Sekunden informieren die Meteorologen Christian Häckl und Bernd Fuchs über Hintergrundwissen und Fakten zum Klimawandel sowie aktuellen Forschungsergebnissen. Bei der Premiere am 8. Juli sahen immerhin fast drei Millionen Menschen zu, erzählt Friederike Mayer: “Die Reaktionen auf das Klima-Update waren eigentlich durchwegs positiv. Wir haben uns sehr gefreut, das mit RTL ein privater Sender unsere Idee aufgegriffen hat und wir freuen uns natürlich auch über die Reichweite, die ein solches Format über einen prominenten Sendeplatz bekommen hat. Grundsätzlich würden wir uns natürlich ein etwas längeres Format wünschen und auch Eins, das täglich ausgestrahlt wird, aber es ist auf jeden Fall ein guter Anfang.” 

Der Mehrheit der Journalist*innen, die sich dem Transformativen Journalismus zugehörig fühlen, liegt es wohl fern, ihr Publikum lediglich mit Horrorgeschichten zu alarmieren. Ganz im Gegenteil, geht es vielen, neben dem Anspruch der umfassenden Information, besonders um die Offenlegung von Handlungskorridoren. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit soll gestärkt werden – nicht nur auf individueller Basis, sondern auch hinsichtlich kollektiver Wirkmächte, die wir als Bürgerinnen und Bürger besitzen. Was viele der Publikationen in diesem Feld auszeichnet, ist, dass sie darauf hinweisen, dass auch Alternativen zum Status-quo existieren, dass es, je nach Perspektive, auch anders aussehen könnte. Von “Überzeugungsarbeit” oder gar einer Infantilisierung der Leser- oder Hörerschaft lässt sich in diesen Fällen wohl kaum sprechen. Vielmehr ist es ein Angebot – unter vielen. Denn das zeichnet auch eine plurale Medienlandschaft aus, dass sie Widersprüche und Ambiguitäten toleriert. Auch hinsichtlich der Art und Weise, wie Journalismus interpretiert wird. Darüber diskutiert und gestritten werden, darf gerne – im besten Fall bewirkt das nur, dass Journalist*innen und Medienschaffende am Ende ein noch besseres Verständnis von ihrer Arbeit erlangen – gesetzt den Fall, wir ziehen uns nicht in unsere sicheren “Blasen” zurück, sondern suchen den Austausch: “Also ich finde es gut, wenn es im Journalismus eine gewisse Vielfalt gibt, auch in den Rollenverständnissen. Es ist ja ok, dass es den Nachrichtenjournalisten gibt, der versucht keinerlei Subjektivität einfließen zu lassen. Aber diejenigen, die Journalismus anders machen, solange sie damit transparent umgehen, sind für mich genauso gute Journalisten.” 

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12. Oktober 2021

Şeyda Kurt: Was macht (die) Liebe politisch?

von Henrietta Clasen 6. Mai 2021

“Viel zu selten sprechen wir darüber, wie unser Miteinander anders sein könnte”, schreibt  Şeyda Kurt in ihrem Buch “Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist.” Liebe geschieht nicht im luftleeren Raum, sonder ist eingebunden in ein komplexes Geflecht aus Macht und Ansprüchen und wird seit jeher im Kapitalismus absichtlich als Mythos konstruiert. Indem wir jedoch erkennen, dass Liebe eine höchst politische Angelegenheit ist, erklären wir sie zugleich als veränderbar, als von uns gestaltbar. Wie ein neue Narrativ der Liebe, jenseits patriarchaler, rassistischer und kapitalistischer Tradierungen aussehen könnte, darüber hat sich Marilena Berends ausführlich mit Autorin und Journalistin Şeyda Kurt unterhalten.

Shownotes:

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► Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. Erschienen bei Harper Collins (04/21).
► Mehr von und über Şeyda Kurt auf ihrer Website .
► Şeyda auf Twitter und Instagram.

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6. Mai 2021

Hollywood und der Male Gaze – wo bleibt die Vielfalt auf der Leinwand?

von Henrietta Clasen 9. März 2021

Warum spielen Männer eigentlich so oft die Hauptrolle in Filmen, während Frauen meist deutlich weniger Redeanteil haben, dafür aber viermal so oft nackt dargestellt werden, wie ihre männlichen Kollegen? Mal ganz zu schweigen von der (Un-)Sichtbarkeit nicht-binärer Personen. Der sogenannte Male Gaze dominiert noch immer Hollywood. Ein aktiv-männlicher, kontrollierender und neugieriger Blick, der nicht nur die Filmindustrie bestimmt, sondern damit auch unser Leben, unseren Blick auf die Welt. Was daran problematisch ist und, wie ein Gegenentwurf aussehen könnte, der Vielfalt statt die ewige selben Rollenklischees produziert, davon erzählt Elisabeth Krainer in ihrem Gastbeitrag.

SHOWNOTES:

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► The Guardian: „Male Glance: How we fail to take women’s stories seriously“
► Jean-Paul Sartre: „Das Sein und das Nichts“
► Eva Illouz: „Der Konsum der Romantik“
► Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“
► Plan International: „Welt-Mädchenbericht 2019 zu Frauenrollen in Kinofilmen“
► Stacy L. Smith: „Annenberg Inclusion Initiative“
► Nina Menkes: „Sex and Power: The visual Language of Oppression“
► Alison Bechdel: „The Bechdel-Test“
► Joey Soloway: „The Female Gaze“

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Transkript: Hollywood und der Male Gaze – wo bleibt die Vielfalt auf der Leinwand?

Nach einem langen Arbeitstag oder am Wochenende sich gemütlich einen Film oder eine Serie auf dem Sofa anschauen? Na klar. Filme und Serien gehören zum Alltag der meisten von uns. Gerade in Zeiten von Corona sind sie für viele eine Art Rettungsanker, um sich die Zeit im Lockdown zu vertreiben. Allein im ersten halben Jahr von 2020 konnte Netflix sage und schreibe 26 Millionen neue Abonnenten gewinnen. Wir verbringen also mehr Zeit denn je vor dem Fernseher oder Laptop, streamen, lassen uns berieseln, unterhalten – mal mehr, mal weniger bewusst. Doch selbst, wenn wir meinen, nur einen Film zu schauen, um zu entspannen, der Realität ein wenig zu entflüchten, so vergessen wir oft, dass eben dieser sehr wohl auch unsere Realität bestimmt. Insofern, als dass Geschichten, Bilder und vor allem die Sichtweise aus der diese erzählt werden, unsere Welt beeinflussen. Oft ohne, dass wir es merken. Dass Filme und Serien unweigerlich politisch sind, war mir lange Zeit nicht bewusst. Ist ja bloß Unterhaltung, dachte ich. Erst, als ich begann mich zu fragen, weshalb eigentlich in fast jedem Film, den ich sah, der Mann die Hauptrolle spielte, während Frauen meist dazu verdammt waren, ansehnliche Dekorationsfiguren darzustellen – stumm, aber nett anzuschauen, begann ich zu realisieren, dass da etwas nicht stimmen konnte. Warum zu Teufel waren Frauen eigentlich so oft nackt in Filmen zu sehen? Ganz einfach: Es ist der “Male Gaze”, ein aktiv-männlicher, kontrollierender und neugieriger Blick, der noch immer die Filmindustrie bestimmt und damit auch unser Leben, unseren Blick auf die Welt. Was daran problematisch ist und, wie ein Gegenentwurf aussehen könnte, der Vielfalt anstelle der ewig selben Rollenklischees produziert, davon erzählt Elisabeth Krainer, die als freie Journalistin und Autorin über die großen und kleine Fragen in der Popkultur schreibt,  in ihrem Gastbeitrag. 

Bevor wir beginnen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht auch schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Vielen Dank.


Perfekte Frauen, gestählte Körper, Hetero-Beziehungen und Helden, die am Ende die Welt mit ihrer unbesiegbaren Männlichkeit retten – kommt euch bekannt vor? Kein Wunder, diese klassische Heldenreise lässt sich vor allem in vielen Filmen und Serien der Popkultur finden. James Bond ist nur ein Beispiel dafür. Sie erzählt die immer gleiche Geschichte aus der immer gleichen Perspektive. Seit mehreren Jahrzehnten. Klingt langweilig? Ist es auch. Die Bond-Filme reproduzieren im Grunde eines: den Male Gaze, eine heteronormative, cis-männliche, weiße Sichtweise auf eine Geschichte und deren Protagonist*innen. Der Begriff ist vor allem in der Filmtheorie bekannt, lässt sich aber auch auf andere Bereiche unseres Alltags übersetzen: auf Werbung zum Beispiel, die die immer gleichen Stereotype mit der fadenscheinigen Erklärung „Sex sells“ reproduziert, oder auch unsere Sprache. Begriffe wie „Mutti“ oder „Powerfrau“, sprechen aus der cis-männlichen Perspektive und dienen vor allem dazu, das Weibliche abzuwerten und zum Objekt zu stilisieren. 

In der Unterhaltungsindustrie findet jetzt scheinbar ein Umdenken statt: Die Macher*innen hinter James Bond haben den Schuss (endlich!) gehört, denn die nächste Protagonistin ist schwarz und weiblich. Das ist ein guter Schritt, aber auch ein längst überfälliger. Zum Glück gibt es da draußen noch mehr als Bond: Spätestens seit Produzentinnen, wie Phoebe Waller-Bridge oder Shonda Rhimes aufgetaucht sind und „Killing Eve“ oder „Fleabag“ auf unsere Bildschirme gebracht haben, öffnet sich der kollektive Blickwinkel. Das ist wichtig – weil Filme und Serien die meist konsumierte Form von Storytelling unserer Zeit darstellen und damit Einfluss auf unsere Art, Menschen und Situationen zu beurteilen haben. Und, weil vieles, wovon wir uns täglich unterhalten lassen, unterbewusst nachwirkt. Das lässt sich auch auf die Art, wie wir Kunst von Männern und Frauen bewerten, übertragen: Filme, Serien, Bücher oder Kunst von Männern gilt als universal, die von Frauen dagegen häufig als trivial, emotional oder häuslich, ungeachtet des Inhalts. Dadurch entstehen leere Kategorien wie „Frauen-Literatur“, die nichts über Qualität oder Inhalt aussagen. Das britische Medium The Guardian nennt diese Kategorisierung zwischen männlicher und weiblicher Kunst Male Glance und beschreibt, wie wir verlernt haben, weibliche Kunst ernst zu nehmen und unabhängig der Geschlechtsidentität des*der Künstler*in zu bewerten. Beim Male Gaze oder Male Glance wird der Blickwinkel also von einer möglichen Vielzahl an Perspektiven, wie durch Scheuklappen begrenzt – auf hetero, cis-männlich und meistens weiß.  Wer sein Leben lang mit Scheuklappen durch die Welt rennt, merkt allerdings erst dann, dass das Blickfeld eingeschränkt ist, wenn die Scheuklappen verschwunden sind. Höchste Zeit also, die Aussicht zu erweitern.

Woher kommt diese männliche Perspektive und deren Dynamik, durch die wir Geschichten bisher betrachtet haben? Die Grundform des Begriffs wird auf die Gaze Theory zurückgeführt, die von dem Philosophen Jean-Paul Sartre beschrieben wurde – als „Der Blick“ in seinem Werk „Das Sein und das Nichts“ von 1943. Er erklärt darin, dass die Interaktion zwischen zwei Individuen immer zwei Ebenen hat – die, des*der Blickenden und die, auf den*die geblickt wird. Dadurch entstehe, so Sartre, ein Machtgefälle, da der*die Blickende zum Subjekt, und der*die jeweils gegenüberstehende Person zum Objekt werde. Die Soziologin Eva Illouz nennt diesen Vorgang „Verdinglichung“: Die Frau, das Objekt, werde dabei rein nach ästhetischen und sexuellen Attributen bewertet.

Der Begriff Male Gaze wurde dann in der feministischen Filmtheorie bekannt, als Filmkritikerin Laura Mulvey den Essay „Visuelle Lust und narratives Kino“ 1975 veröffentlichte – mit der These, dass Frauen im Film durch den heteronormativen Blick des Cis-Mannes abgewertet und sexualisiert würden. Dabei bezieht sich Mulvey auf Aspekte der Psychoanalyse: Der Male Gaze bediene eine Art Voyeurismus, der sexuell erregt, auch als „The Pleasure of Looking“ bezeichnet. Das mache die Film-Narrative zu einer sozial-gesellschaftlichen Kraft, die Frauen immer wieder in die Rolle des Objekts drängen und als Folge der patriarchalen Machtstellung zu deuten seien. Dem Publikum werde der maskuline Blick aufgedrängt, ungeachtet von deren Geschlechtsidentität. Zudem bezieht sich Mulvey auf die psychoanalytische These von Jacques Lacan, der den sogenannten „narzisstischen Blick“ definiert hat – als einen Moment der Identifikation, der laut Mulvey auch im Film gegeben sei: in Form von überstilisierten, mächtigen Männern, mit denen sich das männliche Publikum identifizieren könne.

Jetzt ist der Male Gaze aber nicht bloß eine Theorie für eine kleine Gemeinschaft von „Film-Nerds“, die sich mit Feminismus auseinandersetzt, sondern popkultureller Alltag für uns alle. Wir konsumieren Filme, Serien, Bücher oder Kunst aus einer ganz bestimmten Perspektive – die uns aus Mangel an Alternativen häufig total normal vorkommt. Dieser bestimmte Blickwinkel steckt tief im westlichen Kultur-Verständnis und beginnt bereits in der antiken Dichtung, etwa mit Homers Odyssee, die bereits die klassische Heldenreise skizziert, in der der männliche Blick dominiert. Bis heute strahlt der Einfluss in alle Milieus aus und ist auch in der Literatur und Kunst präsent.

In der gegenwärtigen Popkultur beginnt das Problem allerdings weit vor dem Moment, in dem wir auf Play drücken: Es beginnt dort, wo die Unterhaltung produziert wird – in Hollywood zum Beispiel, das auch im 21. Jahrhundert immer noch Dreh- und Angelpunkt der westlichen Unterhaltungs-Industrie darstellt. In den letzten hundert Jahren wurden dort in erster Linie Filme von Männern für Männer produziert. Vom Drehbuchautor bis zum Kamera-Assistenten waren Film-Sets vor allem weiß, männlich, hetero.  Bis heute hat sich daran nur bedingt etwas geändert: Die Professorin Stacy L. Smith befasst sich seit etwa 15 Jahren mit der Rollenverteilung in Hollywood, vor und hinter der Kamera. Auf der Leinwand scheint sich zumindest in Sachen Repräsentation etwas zu tun: In ihrer Studie wurden rund 53.000 Charaktere aus 1200 Filmen zwischen 2007 und 2018 analysiert, also 100 Filme pro Jahr. 2007 waren darin 20 weibliche Hauptrollen zu finden, 2018 dagegen 39. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass diese Rollen nicht auch sexualisiert werden. Die, die sie umsetzen, sind nämlich auch 2018 noch weitestgehend Männer – der Anteil weiblicher Regisseurinnen liegt bei gerade einmal vier Prozent.

Genauso stereotyp, wie der Male Gaze, wäre es allerdings zu behaupten, dass jeder cis Mann, der Filme oder Serien produziert, dies automatisch nur anhand vorgefertigter Rollenbildern tut. Es gibt sie, die Produzenten und Regisseure, die es schaffen, nicht bloß Klischees zu bedienen – Noah Baumbach mit seinem letzten Film „Marriage Story“ etwa, der die Schauspielerin Scarlett Johansson in einer rauen, unperfekten und authentischen Rolle zeigt, ohne sie darin auf ihren Körper zu reduzieren, der in der Vergangenheit öfter Thema der Medien war als ihre schauspielerische Leistung. Oder Director Ryan Murphy, der mit seiner Netflix-Serie „Pose“ trans Schauspieler*innen eine Bühne bietet und sie weit weg von gängigen Klischees auftreten lässt. Wäre es aber nicht einfach fair, die Menschen auch hinter der Kamera mitreden zu lassen, die täglich erleben, wovon andere nur theoretisieren können? Also cis, queer oder trans Frauen zum Beispiel? 

Durch die Mehrheit von cis Männern hinter der Kamera ist der Male Gaze so alltäglich, dass er sich an manchen Stellen schwer aufdecken lässt. Ein guter Hinweis sind sogenannte „Tropes“, also Charaktere, die ausschließlich platte Klischees bedienen – und häufig Frauen betreffen, denen keine eigenen Bedürfnisse zugeschrieben werden und die nur dazu dienen, den männlichen Blick zu befriedigen. Dazu zählt das eiskalte, aber sehr attraktive Biest wie etwa Rachel McAdams in „Girls Club“, die vor allem andere Frauen verabscheut, das Mauerblümchen in prekärer Lage, das von einem Mann entdeckt werden muss, um zu voller Blüte zu gelangen, wie Julia Roberts in „Pretty Woman“ oder das weit verbreitete Phänomen des dicken, lustigen Sidekicks, wie Rebel Wilson in „Pitch Perfect“, die zwar zum Brüllen komisch ist, aber vor allem dann, wenn sie Witze auf Kosten ihres Körpers macht. Der sogenannte „Bechdel-Test“ dient dazu, diese einfältigen Plots und Charaktere zu entlarven. Er wurde in den 80ern von Autorin und Comic-Zeichnerin Alison Bechdel in einem Comic verwendet und besteht aus drei einfachen Fragen: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Und: Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Klingt lapidar, ist es auch – und trotzdem gibt es bis heute Filme, die trotz eines nicht bestandenen „Bechdel-Tests“ für einen Oscar nominiert waren. Der Test ist nicht wissenschaftlich und kein aussagekräftiges Barometer dafür, ob ein Film wirklich sexistisch ist, den Male Gaze reproduziert oder nicht – aber er kann als erster Check hilfreich sein, bevor man auf Play drückt.

Regisseurin Nina Menkes beschreibt in ihrem Artikel „Sex and Power: The Visual Language Of Oppression“ einfache Hinweise, die den Male Gaze entlarven können. Zum Beispiel: Wie häufig sieht man einzelne Körperteile von Frauen, während man ihren Kopf (und damit Gesichtsausdruck, Emotionen, etc.) nicht sieht? Wie ist die Person ausgeleuchtet? Darf sie z.B. ihre Stirn in Falten legen oder wird sie wie ein glatt gebügeltes, übermenschliches Wesen, das allen Schönheitsidealen entspricht, dargestellt? Bringt es den Inhalt irgendwie weiter, dass die Person in bestimmten Szenen nackt oder leicht bekleidet ist? Wird bloß über sie gesprochen oder kommt sie auch zu Wort? Die Organisation Plan International hat 2018 gemeinsam mit dem Geena Davis Institut die 56 umsatzstärksten Filme und deren Hauptrollen analysiert. Das Ergebnis: Männer reden doppelt so viel und haben doppelt so viele Rollen, Frauen dagegen sind viermal öfter nackt als männliche Rollen. Das hinterlässt Eindruck beim Publikum. Allerdings soll das nicht heißen, dass alle filmischen Sexszenen oder Ähnliches komplett aus der Filmwelt verbannt werden sollten. Sondern lediglich, dass man darin auch andere Perspektiven als die, des männlichen Subjekts sehen sollte.

Wie kann ein Gegenentwurf dazu aussehen? Hier kommt der Female Gaze ins Spiel: Bedeutet er bloß die Umkehrung von Objekt und Subjekt? Also sollen Männer jetzt von cis Frauen sexualisiert werden? Der Begriff wurde bisher noch nicht wissenschaftlich definiert – über die Bezeichnung lässt sich also durchaus streiten. Fraglich ist, ob es im 21. Jahrhundert Sinn der Sache sein kann, die Perspektive von Menschen rein auf deren Geschlecht und Sexualität zu reduzieren, und davon auszugehen, es gäbe nur zwei Geschlechter. Es geht nicht um die Umkehrung von Objekt und Subjekt im binären Gender-Konstrukt, sondern um die vielschichtigen Möglichkeiten außerhalb der heteronormativen, männlichen Normen, die seit Jahrhunderten verdrängt werden. Da dann aber ein Begriff basierend auf dem binären Geschlechter-Konstrukt problematisch ist, gibt es Alternativen dazu, wie den Feminine Gaze, der sich nicht auf das biologische Geschlecht bezieht, sondern auf Eigenschaften, die weiblich gelesen werden, oder der Individuals’ Gaze, der sich völlig vom Geschlecht abkoppelt. 

Der nicht binäre Produzent Joey Soloway hat 2016 auf dem Toronto Film Festival, den Female oder Feminine Gaze als eine diverse, vor allem auf emotionaler Ebene authentische Perspektive beschrieben. Eine Perspektive, die Protagonist*innen ungeachtet deren Geschlechtsidentität Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Ängste zugesteht. Die ambivalent handeln und denken, ja sogar zum Objekt werden können – sofern sie es selbst wollen. Das funktioniert aber nur, wenn unterschiedliche Perspektiven an der Entstehung beteiligt sind. Das beweist etwa Soloway selbst, mit der Serie „Transparent“, in der sich ein Familienvater nach vielen Jahren als trans outet. Oder mit Phoebe Waller-Bridge, die mit „Fleabag“ den Gegenentwurf zu all den misogynen „Frauen-Serien“ geschrieben und produziert hat. In Fleabag sind Frauen ambivalent, derb, unausstehlich und zum Brüllen komisch. All das ist möglich, spannend und sehr unterhaltsam – sofern man nicht versucht, zwanghaft ein cis-männliches Machtkonstrukt aufrechtzuerhalten. Wie schade um die vielen guten, unterhaltsamen und innovativen Ideen, die es nicht auf unsere Bildschirme geschafft haben, weil der*die Urheber*in nicht cis-männlich ist.

Die gute Nachricht: Der Zeitgeist verändert sich, und damit auch die Popkultur. Die Diversität von Filmen und Serien und die weniger platten Charaktere, die auf der Leinwand stattfinden, sind Beweis dafür. Regisseur*innen wie Greta Gerwig, Ava DuVernay, Joey Soloway oder Chloé Zhao, die vielschichtige Rollen erschaffen und zeigen, verändern die Branche. Allerdings stehen nicht nur Produzent*innen in der Verantwortung: Auch Konsument*innen können dafür sorgen, dass diverse Stoffe mehr Aufmerksamkeit erhalten, indem sie u.a. Filme und Serien bewusst auswählen. Hollywood, Streamingdienste, Verlage und Co. reagieren vor allem auf Geld und View-Zahlen. Wer also “plattes Zeug” streamt, liest, konsumiert, unterstützt letztlich die Produktion von mehr “plattem Zeug”. Es lohnt sich langfristig, genau hinzuschauen: Wessen Perspektive unterstütze ich? Damit kann man vielleicht nicht die gesamte Unterhaltungsindustrie auf den Kopf stellen, aber zumindest einen ersten Schritt in Richtung Vielseitigkeit tun.


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9. März 2021

Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

von Ricarda Manth 18. Februar 2021

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. In ihrem Essay plädiert Gastautorin Katharina Walser für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen.

SHOWNOTES:

Diese Episode wurde gesponsort durch Naturata, welche biologisch erzeugte und fair gehandelte Lebensmittel vertreiben. Auf naturata-shop.de erhaltet ihr bis zum 15.03.2021 mit dem Code „mehralsbio“ 20% Nachlass auf euren Einkauf, ab einem Bestellwert von 40€.

► „Aufschwung des utopischen Denkens“ Sighard Neckel, Deutschlandfunk.
► „Narrative für eine Nachhaltige Entwicklung“ Sascha Meinert, bpb.
► Betty Sue Flowers: „The American Dream and the Economic Myth“.
► „Erzähl!“ Thomas Kniebe, Süddeutsche Zeitung.
► „Was das Modewort ‘Narrativ’ verrät“ Kolumne von Dorothee Krings, Rheinische Post.
► Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“.
► „Deutschland spricht“ Projekt der ZEIT.
► „Utopiastadt“ Wuppertal.

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Transkript: Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Der sogenannte “Trickle-Down-Effekt” bleibt aus. Die Armen werden ärmer. Die Reichen unerreichbar. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. Doch wo sind sie, die “neuen Narrative”? Nur selten ließt oder hört man von Geschichten des Gelingens, von Vorstellungen wünschenswerter Zukünfte, geschweige denn von Utopien. Stattdessen dominieren Untergangszenarien, Apokalypsen und Dystopien den Diskurs. Horrorzahlen verkaufen sich besser. Doch damit muss Schluss sein, argumentiert Gastautorin Katharina Walser. In ihrem Essay plädiert sie für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen. 

Am 28. November 2019 ruft  das EU-Parlament den Klimanotstand aus. Ein Beschluss den man heute, 2,5 Jahre später, vor allem als symbolischen Akt deuten kann, denn fundamentale und einheitliche Gesetzgebungen zum Schutze des Klimas lassen nach wie vor auf sich warten. Drei  Wochen nach dem Ausruf des Parlaments ist der Soziologe Sighard Neckel im Deutschlandfunk zu hören. Die Klimakrise beschreibt er  als apokalyptisches Szenario, das im Zentrum einer modernen Wirklichkeitserfahrung steht. Im Zentrum steht sie deshalb, da durch sie „die elementaren Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, jedenfalls wie wir es bisher gekannt haben, zur Disposition gestellt sind.“ Gerade diese Erfahrung, in der wir erkennen müssen, dass die Art unseres westlichen Lebens ein Ablaufdatum hat, hinterlässt ein umfassendes Gefühl der Verunsicherung – eine Verunsicherung, die wir vielleicht als die moderne Erfahrung schlechthin bezeichnen können.

Ja, es stimmt. Viele Prinzipien unserer Lebensverhältnisse stehen zur Disposition. Wie wir wirtschaften und uns vernetzen wird sich in einer ernst zunehmenden Klimapolitik verändern müssen. Allerdings sind dystopische Zugänge zur Zukunft, die den Fokus auf ein Versagen des Systems richten und ständig eine neue Apokalypse ausrufen, gerade deshalb so verheerend, weil sie nicht anschlussfähig sind. Die Rede von der Endzeit steht ihrem Zweck, nämlich neue und nachhaltige Handlungen hervorzubringen möglicherweise sogar gänzlich entgegen. Weil sie den Blick von Wegen in eine nachhaltige und wünschenswerte Zukunft ablenkt und im schlimmsten Fall Ängste verbreitet, die weiter zu einer Lähmung von Handlungsfähigkeit führen. 

Diese Ängste haben nämlich ganz real-politische Folgen und sind unter anderem, wie Neckel schreibt, auch Auslöser für eine “Sündenbock-Logik”, wie sie innerhalb von identitärer Politik seit Jahren zu beobachten ist. Statt Konzerne und politische Entscheidungsträger:innen in die Verantwortung zu ziehen, werden Vertreter:innen des Klimaschutzes dafür kritisiert, dass sie einem, die vermeintlich so unproblematische Normalität wegnehmen wollen. Ein solches Misstrauen gegenüber Maßnahmen zum Zweck des Klimaschutzes speist sich nach dem Politikwissenschaftler Sascha Meinert aus einer Zukunftsvision von Nachhaltigkeit in deren Zentrum vor allem eines steht: Mangel. Es fehlt an einer Vorstellung von klimagerechtem Handeln, das eine Zukunft des positiven Fortschritts darstellt und nicht im Zeichen des kollektiven Verzichts steht. Die bisherigen europäischen Klimaschutz-Maßnahmen, wie die Bemühungen um einen Green Deal, reichen Neckel zufolge längst nicht aus, um einer solchen Umcodierung einer nachhaltigen Zukunft beizukommen. Er merkt deshalb zurecht an, dass solchen Klimaschutz-Konzepten starke sozialpolitische Entwürfe fehlen und stattdessen ausschließlich auf Marktregulierungen und technologische Innovation gesetzt werde. Die notwendige Reaktion auf ein Zeitalter der Verunsicherung, wie wir es aktuell erleben und das allerhand soziale Spaltungen fördere, sieht er deshalb in einem „Aufschwung des utopischen Denkens“. Im Angesicht der vielfältigen Krisen unserer Gegenwart brauche es daher eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen! Man muss  anerkennen, so Meinert, dass wir es mit einer allumfassenden „Krise unserer narrativen Umwelt“ zu tun haben. Also mit einer Problemlage, der wir nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen begegnen können.

Ein neues, gemeinsames Narrativ durch das wir Krisen der Moderne überwinden können klingt verlockend, aber: Wie genau sieht sie denn aus, die moderne Krise und was soll eigentlich so ein “soziales Narrativ” sein?

Wer von vielfältigen Krisen der Gegenwart spricht, betrachtet diese Phänomene als voneinander unabhängige Konflikte. Eine solche Vorstellung geht davon aus, dass Klimakrise, die sogenannte Migrationskrise und die pandemische Krise, alle separate Ereignisse wären. Letztlich lassen sich diese Krisenherde jedoch gerade im Hinblick auf die Krise unserer Umwelt unter einem Phänomen subsumieren, das die Literaturprofessorin Betty Sue Flowers als „Mythos des Ökonomischen“ bezeichnet. Dieser Mythos unserer Lebenswelt funktioniert nach den Dogmen der monetären und dinglichen Maximierung, „wobei Mehr stets besser ist als Weniger“. Innerhalb dieses Systems, das nur nach den Prinzipien von „Vorteilsmaximierung und Aufwandsminimierung“ funktioniert, bedeutet gelungene, menschliche Identität vor allem eines: Expansion. Und da sich diese Erzählung des Wachstums insbesondere in international zugänglicher Sprache – nämlich in Zahlen ausbuchstabiert, von Umsatzzahlen bis Aktienkursen, wurde die ökonomische Sinnstiftung zum ersten globalen Narrativ. Dieser globale Mythos bröckelt nun, da zunehmend sichtbarer wird, dass er davon lebt „möglichst effizient auf vorhandene Bestände zuzugreifen, und wenn notwendig – und das ist es oft – von anderen zu nehmen oder von der Zukunft zu borgen, um die eigenen Ansprüche der Gegenwart zu bedienen“. Wenn wir also die Krisen der Gegenwart unter ein Problem, nennen wir es “Ursprungskrise”, zurückdenken wollen, so muss die Begründung unserer Krisenerfahrungen in der fehlerhaften Vorstellung von unbegrenztem Wachstum selbst liegen – in der Krise kapitalistischer Normen. 

Vor diesem Hintergrund plädiert Meinert für einen „Mythos der nachhaltigen Entwicklung“. Gelingen könne ein solches Vorhaben, indem man sich die narrativen Elemente unser Lebenswirklichkeit vor Augen führt und bewusst ein neues Narrativ von Zukunft schreibt. Eine neue Erzählung, in der sich nachhaltige Entwicklung nicht mehr durch ein „Zu Wenig“ oder durch einen „Verzicht“ auszeichnet, sondern mit wünschenswerten Lebensmodellen verknüpft wird und damit als Bereicherung empfunden werden kann. Es müsste gelingen eine solche Zukunft vorstellbar zu machen und Gestalt annehmen zu lassen, um den Weg der regressiven Wiederherstellung von einem veralteten Ideal von ungebremster wirtschaftlicher Expansion eine Alternative zur Seite zu stellen. Was wir also brauchen ist eine neue Rahmenerzählung, in der wir unser Handeln nach wünschenswerten Zukünften neu ausrichten können!

Was heißt es nun aber, ein neues Narrativ zu schaffen?

In den vergangenen Jahren hat der Begriff des “Narrativs” einen geradezu explosionsartigen modischen Aufschwung erfahren. Von politischer Imagepflege der EU bis zu Marketing Kampagnen für große Wirtschaftsunternehmen, alle sprachen sie davon “neue Narrative” schaffen zu wollen. Gerade bei einer solchen Überstrapazierung des Wortes, lohnt sich ein Schritt zurück und der Versuch einer Verhältnisbestimmung dessen, was ein Narrativ überhaupt ist. Ein Begriff, der noch vor einigen Jahren den meisten einfach als schicker, akademischer Ausdruck für Erzählung bekannt war. Tobias Kniebe versucht in der Süddeutschen Zeitung diesen Trend besser zu verstehen und sucht die Antwort in einer negativen Bestimmung des Begriffs. Er fragt erst einmal danach was denn eigentlich nicht narrativ funktioniere und kommt sowohl im Falle der bildenden Künste, als auch der Musik an seine Grenzen. Er stellt fest: “Wo immer Worte, Bilder oder Töne aufeinanderfolgen […] formen unsere inneren Narrationsmaschinen Erzählungen, Geschichten, Entwicklungen, Lebenslinien.“ Der Mensch ist also nicht umgeben von Narrativen, er bringt sie selbst hervor. Bereits die assoziativen Denkmuster unserer  Wahrnehmung betreiben tagtäglich narrative Prozesse. Neue Sinneseindrücke ordnen wir immer wieder aufs neue in unseren eigenen Wissenskanon ein und schreiben so eine Geschichte der Umwelt und unserer Position darin. Der Mensch erzeugt in seiner Suche nach Sinnzusammenhängen seine eigenen Erzählungen von der Welt. Ein Narrativ ist also eine Form der übergeordneten Metaerzählung. Es wird weniger erfunden, als vielmehr geschaffen. Im sozialpolitischen Kontext ist ein Narrativ dann eine große Rahmenerzählung, in der sich das Individuum in sein gesellschaftliches Umfeld einordnen kann. Eine Rahmenerzählung, die als gemeinsames sinnstiftendes Referenzsystem einer Gesellschaft funktioniert. 

Wieso also die Rufe nach Narrativen wenn wir sie doch selbst hervorbringen? Die Germanistin Dorothee Krings betont, dass Modewörter mehr sind als nur nachgemachte schöne Sprache. Ihr Auftreten verrate oft einen Sinneswandel, “der plötzlich Ausdruck findet”. Wenn sich also die öffentlichen Rufe um Narrative verstärken, so ließe das einen direkten Rückschluss auf eine Orientierungslosigkeit der Gesellschaft zu, auf einen Hunger nach Sinn. Eine solche Orientierungslosigkeit oder Verunsicherung, wie ich es zuvor genannt habe, lässt sich im Angesicht des verfallenen Narrativs von grenzenlosem Wachstum zweifelsohne diagnostizieren. 

Wie ist nun mit dem Plädoyer, diesem Aufruf zu neuen Zukunftsnarrativen, umzugehen? Was tun mit der Idee einer Metaerzählung, die sich nicht nur aktiv gegen das Narrativ des Verzichts stellt, sondern sich jenseits des Dogmas von grenzenlosem Wachstum positioniert?  

Ein Konzept, das vielleicht zum nachdenken anregen kann, stellt Bruno Latour in seinem Terrestrischem Manifest vor. Latour plädiert darin für ein neues Selbstverständnis des Menschen auf unserem Planeten, das sich auch in einer neuen Politik niederschlagen müsse. Die zentrale Empfindung, welche auch er der Gegenwart zuschreibt, ist die einer fehlenden „Bodenhaftung“. Ausgelöst sei sie durch die unheimliche Erfahrung, dass der Mensch konfrontiert wird mit einer Welt, in der die Folgen seines Fortschrittstrebens immer deutlicher zutage treten und schlussendlich seine ganze Existenz bedrohen. Das Ziel der Globalisierung zeige immer deutlicher seinen Preis und habe so die große Metaerzählung der vergangenen 50 Jahre erschüttert. Latour kategorisiert im Zuge dieser elementaren Erfahrung der Moderne alle relevanten Fragen der Zukunft als „geopolitische Fragen“ und argumentiert, dass die vermeintlich einzelnen Krisen der Gegenwart unter der Krise des Klimas einen gemeinsamen Nenner finden. So heißt es in seinem Manifest man verstünde nichts „von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind, kann man weder die Explosion der Ungleichheiten [verstehen], noch das Ausmaß der Deregulierungen, weder die Kritik an der Globalisierung noch, [und] vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats“.

Zwischen der Gewissheit, dass es nicht weitergehen kann, wie bisher und auch kein Rückzug in Vergangenes möglich ist, gerät der Mensch auf seinem Kurs ins Straucheln. In die Vorstellung linearen Fortschritts bricht so eine Bedrohung herein, die auf einen früh getroffenen Fehlschluss menschlicher Entwicklung zurückweist. Dieser Fehlschluss begründet sich für Latour in der Trennung von Kultur und Natur bzw. in einer grundsätzlichen Haltung des Menschen außerhalb der Natur zu stehen und unabhängig von Folgen in ihr operieren zu können. Unter dem Begriff des “Terrestrischen” versucht sich Latour also an einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Ökonomie, Mensch und Ökologie, in welcher die Erde selbst nicht nur als die Objekthafte, sondern als eigene Akteurin gedacht werden muss.

Eine solche problematische Grundhaltung, in der sich der Mensch als von der Welt unabhängig versteht, diskutieren auch einige Naturwissenschaftler:innen und Anthropolog:innen unter dem Begriff des “Anthropozäns”. Ihre These lautet, dass wir  Menschen so prägend in den Lauf der Natur eingegriffen haben, dass wir sogar von einem neuen Erdzeitalter sprechen müssen. Dieses Zeitalter der Anthropozäns, sei dasjenige, welches das Holozän ablöse – jene Jahre, während denen sich die Kultur der Menschen entfaltet hat ohne irreversible Schäden in seiner Umwelt zu hinterlassen!  

Anders jedoch als die Vertreter:innen des Anthropozäns, sieht Latour keine zureichenden Lösungsansätze in einer technischen Gegenbewegung zu den Problemen des Klimawandels, wie sie in den Bereichen des sogenannten “Geoingeneerings” erprobt werden. Es ginge nicht ohne eine radikale Überwindung der Denkmuster, in denen sich der Mensch als  von der Natur abgesondert wahrnimmt. Latour geht es dabei weniger um Innovationen oder schnelle Lösungen unseres Umwelt Problems, als vielmehr um eine Suchbewegung nach einer neuen Sinnhaftigkeit menschlichen Strebens, das sich nicht in der Überwindung einer Krise bestärkt sieht, sondern darin, sich auch über die Krise hinaus neu zu seiner Umwelt zu positionieren.  

Diese Suche nach neuer Sinnhaftigkeit müsste mit  einer neuen Rahmenerzählung menschlichen Strebens, einem Narrativ fern von dem bisherigen, hohlen Wachstumsdogma verbunden sein. Das bedeutet neue Ziele vorstellbarer und mögliche Umsetzungen greifbarer zu machen. Das umfassende Potenzial in einer solchen Neuerfindung des Menschen wird in Latours Argumentation in der Betrachtung deutlich, in welcher er die verschiedenen Krisen, die wir aktuell erfahren, als miteinander verwoben beschreibt. Man muss nicht unbedingt mitgehen, wenn er die pauschalisierende Aussage trifft, dass alle Probleme der Neuzeit von identitärer Politik, bis zu allen Formen von Fluchtbewegungen, ihren Ursprung in der Klimakrise finden. Wenig bestreitbar ist jedoch, dass die Klimakrise mit Besitz- und Verteilungsfragen der Zukunft unauflöslich verstrickt ist. Gerade wenn immer mehr Landstriche der Erde nicht bewirtschaftbar oder unbewohnbar werden.  In diesem unüberschaubaren Geflecht von Problemen müssen wir in Zukunft politisch und sozial am richtigen Faden ziehen, wenn wir auf eine Entwirrung und schließlich Auflösung der Krisen hoffen. Dieser Faden, so Latour, muss seinen Ursprung in der vorherrschenden Vorstellung von  Mensch und Natur finden. Gerade weil die Klimakrise Auslöser für die zentrale Verunsicherung unserer Zeit ist, ließen nachhaltige soziale Zukunftsentwürfe Lösungen für die verschiedensten Krisen der Moderne zu. Es gilt nach dem terrestrischen Manifest nicht eine feste Lösung für Erderwärmung, Migrationsprozesse und identitäre Politik zugleich zu finden, sondern sich auf die Suche nach einem festen Boden zu begeben. Und vor allem anzufangen, in Zukunftsvisionen Strukturen der Sicherheit zu schaffen. 

Strukturen, die sich, wenn sie auf nachhaltigen Erfolg setzen, zunächst in einem gedanklichen Widerstand formulieren müssen. In einem Widerstand, der die gängigen Narrative menschlichen Strebens überdenkt und neue Entwürfe greifbar macht.

Aber wie kann so ein Widerstand in Gedanken Formen annehmen, ein Widerstand, der sich in den Formen der menschlichen Selbstnarration begründet? Wie integrieren wir einen so abstrakten Anspruch  wie den von Latour in unsere Lebenswelt? Dafür müssten die Forderungen nach neuen Narrativen konkrete Gestalt annehmen. Also fragen wir nochmal: Wie schreibt man denn nun ein neues Narrativ?

Zunächst macht es Sinn den Status quo, in dem Verunsicherungen und Ängste verspürt werden kritisch zu hinterfragen. Also die Narrative, in die wir bisher eingeschrieben waren oder es noch sind, zur Diskussion zu stellen. Das kann aussehen wie in Texten, die Dogmen des Wachstums bewusst auf ihre Verbindungen zu unserem alltäglichen Leben hinterfragen, wie es unter anderen Eva Illouz zeigt, wenn sie sich in “Der Konsum der Romantik“ der Frage widmet, wie Paradigmen des Kapitalismus beeinflusst haben wie wir heute lieben. Solche Auseinandersetzungen können konkret fordern, die Verbundenheit von unserer Umwelt und unserem Leben sichtbar zu machen. In diesem Fall hebt die Autorin die Verbindungsstellen zwischen Ökonomischem und Privatem hervor. Aber es reicht nicht Texte zu lesen, die problematische Narrative aufdecken, um einen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu bringen. Um den Blick von veralteten Erzählungen hin zu neuen und wünschenswerten Zukünften zu richten, braucht es als zweiten Schritt der Orientierung, gemeinsame Gespräche. Denn wie der Politologe Meinert anmerkt:  Zukunft  „kann nie alleine geschrieben werden“, zumindest dann nicht, wenn sie eine transformative und transregionale Kraft entfalten soll. Das bedeutet auch, dass ein Dialog Format, das bewusst dazu anregen will Zukunft neu zu denken, über soziale Blasen hinaus funktionieren muss. Wie so etwas aussehen kann zeigt zum Beispiel das Deutschland spricht Projekt der Zeit, das seit Sommer 2017 regelmäßig stattfindet. Die Idee dahinter ist, Menschen mit möglichst diversen politischen Interessen und Ansichten zusammenzubringen und zum Dialog zu inspirieren. Die Durchführung dabei ist so simpel, wie überzeugend: Die Teilnehmer:innen beantworten online, ähnlich wie beim Wahlomat, ein paar Fragen zu tagesaktuellen Themen und werden dann einer Person vorgestellt, welche in ihrer Nähe wohnt, jedoch möglichst andere Ansichten vertritt. Mit solchen Dialog Formaten könnte ein gemeinsamer und gesellschaftlicher Denkprozess in Gang gesetzt werden, indem Zukunftsvorstellungen unter Einbezug von möglichst diversen Wünschen und Perspektiven in Gedanken Gestalt annehmen. Um diese Transformation greifbar und vor allem erfahrbar zu machen, braucht es eine gesellschaftliche Praxis, ein Austesten von Gestaltungsmöglichkeiten, gewissermaßen explorative Begegnungsräume, in denen man üben kann Zukunft neu zu formen. So könnte man der allgemeinen Unsicherheit gegenüber einer unsicheren Zukunft erfahrbare Alternativen zu Seite stellen. Bei einer solchen Praxis müsste es dann vor allem darum gehen, sich neu in der Gegenwart zu orientieren und einen gemeinsamen „Referenzrahmen“ für die eigenen Handlungen zu schaffen. Eine solche Vorstellungs-Praxis könnte aussehen, wie es unter dem Namen Utopia Stadt bereits seit einigen Jahren erprobt wird. Aus einem restaurierten und umfunktionierten Bahnhofsgelände in Wuppertal ist dort ein Ort entstanden, der Projekten der Nachhaltigkeit, wie gemeinsamer Agrarfläche oder Upcycle Konzepten, ebenso einen Raum bietet, wie Salongesprächen und Vorlesungsreihen.  Fragen der Nachhaltigkeit und der transformativen Gesellschaft werden hier als Gemeinsame gedacht. Die Verwobenheit der verschiedenen Aufgaben der Gegenwart wird dort im wahrsten Sinne zusammengeführt und in der Praxis mit Bürger:innen gemeinsam neu geformt.

Nachdem die alte gemeinsame Erzählung von Wachstum an allen Enden auseinanderbricht, täte ein gedanklicher Reset gut, von dem aus wir neue Geschichten wünschenswerter Zukünfte erzählen können. Dafür braucht es Orte, in denen wir Zukünftiges zusammen denken können und Räume, in denen wir uns in der gemeinsamen Erprobung von neuen Zukunftsvisionen wieder auf einen festen Boden stellen können. Vielleicht wären es diese Orte, wo wir gemeinsam neue Zukünfte denken können, an denen wir den Anfang machen von einem gedanklichen Sinneswandel zu neuen Paradigmen unseres menschlichen Zusammenlebens und der Interaktion mit unserer Umwelt.

Wie euch vielleicht aufgefallen ist, hat diese Episode einen Sponsor. Das liegt daran, dass wir finanziell noch nicht ganz auf eigenen Beinen stehen. Natürlich wünschen wir uns, dass Sinneswandel eines Tages 100% werbefrei arbeiten kann. Aber, dafür brauchen wir eure Unterstützung! Unser Ziel sind zunächst 1.500€ monatlich. Das klingt erstmal viel, ist es jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass wir alle, die am Podcast beteiligt sind, wie Redakteure, Autor:innen und Produzenten, für ihre Arbeit honorieren möchten. Daher freuen wir uns, wenn ihr uns etwas unter die Arme greift. Unterstützen könnt ihr uns via paypal.me/sinneswandelpodcast oder via Steady. Mehr dazu in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald!

18. Februar 2021

Rutger Bregman: Wieso sollten wir an das Gute im Menschen glauben? (EN)

von Ricarda Manth 26. Januar 2021

Homo homini lupus – der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Der Philosoph Thomas Hobbes war längst nicht der Einzige, der fest davon überzeugt war, der Mensch sei im Grunde schlecht – ein im innersten Kern wildes und grausames Wesen. Eines, dass stets sein eigenes Interesse voranstellt und im Zweifel bereit ist, andere dafür zu unterdrücken. Ein homo oeconomicus, das Bild des Eigennutzenmaximierers, das auch heute noch die moderne Welt und Wirtschaft bestimmt. Doch was, wenn all diese Annahmen falsch wären? Wenn wir gar nicht so übel, sondern gar im Grunde gut wäre? Was würde ein solches, neues, vielleicht sogar realistischeres Menschenbild für unsere Zukunft bedeuten? Diese Frage hat sich auch der niederländische Historiker, Autor und Aktivist, Rutger Bregman gestellt und sich, um Antworten zu finden, auf eine lange Reise begeben. In seinem Buch plädiert er für einen “neuen Realismus”, der damit beginnt, dass wir vom Guten ausgehen. 

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SHOWNOTES:

  • Rutger Bregman: Im Grunde gut Rowolth Verlag (03/2020).
  • Website von Rutger Bregman.
  • Rutger Bregman auf Twitter.

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Transkript: Rutger Bregman: Wieso sollten wir an das Gute im Menschen glauben? Übersetzung des Gesprächs auf Deutsch


Marilena Berends: Glauben Sie, dass es in unserer heutigen Welt schwieriger ist, ein Optimist zu sein als ein Pessimist?

Rutger Bregman: Nun, wissen Sie, ich habe das Wort Optimismus nie wirklich gemocht. Denn für mich suggeriert es eine Form von Selbstgefälligkeit, bei der man sagt: “Weißt du, mach dir keine Sorgen, die Dinge werden sich schon zum Guten wenden, sei einfach ein Optimist! Schaut euch all dieses wunderbare Wachstum an, das zeigt, dass die extreme Armut zurückgeht, schaut euch all diese außergewöhnlichen Innovationen und den technischen Fortschritt an. Alles wird gut werden, mach dir keine Sorgen.” Und ich glaube, diese Art von Erzählung macht die Menschen faul. Nun ist das Gegenteil von Optimismus, Pessimismus, vielleicht auch eine Form von Faulheit, besonders wenn Pessimismus zu Zynismus wird. Dann kommt man in die Position, wo man sagt: “Weißt du, es ist sowieso sinnlos. Die Dinge gehen bergab, wir können die Welt nicht retten, lass uns einfach unser Leben genießen, solange es noch geht.” Worüber ich also gerne mehr sprechen möchte, ist die Bedeutung der Hoffnung. Ich denke, dass Hoffnung wirklich das richtige Wort ist und dass wir die Hoffnung dem Optimismus und Pessimismus vorziehen sollten. Denn Hoffnung hat mit der Möglichkeit der Veränderung zu tun. Es ist die Erkenntnis, dass die Dinge anders sein können. Dass es nicht so sein muss. Dass wir unsere Gesellschaft wirklich neu organisieren können. Unsere Wirtschaft reorganisieren. Dass es nichts Unvermeidliches am Status quo gibt. Und das ist auch der Grund, warum ich denke, dass die Geschichte die subversivste aller Sozialwissenschaften ist, weil sie immer und immer wieder zeigt, dass die Dinge anders sein können. Dass es nichts Natürliches an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge gibt, an der Art und Weise, wie wir sie im Moment arrangiert haben. Wenn man ein bisschen raus zoomt und sich die Besteuerung in den 50er und 60er Jahren ansieht, als wir Grenzsteuersätze für Reiche von 80 oder 90 % hatten – da denkt man: “Hm, ich dachte, das ist unmöglich?!”. Die Ökonomen haben mir immer gesagt, dass die Wirtschaft zerstört werden würde, wenn wir das machen. Aber tatsächlich haben wir das in den 50er und 60er Jahren gemacht, und wir hatten damals viel mehr Fortschritt im Wirtschaftswachstum. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Hoffnung uns von der Gegenwart befreien und uns zeigen können, dass es anders sein kann.

MB: Wenn Sie also der Überzeugung sind, dass sowohl Optimismus als auch Pessimismus uns faul machen, würden Sie sich dann als “Possibilisten” bezeichnen? Also jemand, der nicht naiv ist, aber auch nicht rein realistisch, der sich mit einem Sinn für Realismus ein Fenster zum Träumen offen hält?

RB: Ja, ich habe das Wort “Possibilist” immer gemocht, aber es funktioniert in beide Richtungen. Also, wenn man sich anschaut, was zum Beispiel in den USA passiert, ist es für viele Leute schwer vorstellbar, aber was wir hier sehen, ist der Zusammenbruch eines ganzen demokratischen Systems. Denn, wissen Sie, die Demokratie stirbt nicht just in einem Monet. Sie bekommt keinen Herzinfarkt und dann bumm! ist sie weg. Es passiert allmählich, dass die Gesellschaft vergiftet wird, dass die Menschen die Rechtsstaatlichkeit aufgeben und dass das Misstrauen wächst und wächst. Wenn Sie den Deutschen in den 1920er Jahren gesagt hätten, wo sie in den 1940er Jahren landen würden, ich meine, viele Leute hätten es nicht geglaubt.  Aber wenn man viele kleine Schritte macht, dann hat man am Ende eine große Strecke zurückgelegt. Der Fortschritt funktioniert auf die gleiche Weise. So war es für viele Menschen in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts unvorstellbar, dass es einen Tag geben würde, an dem wir die Sklaverei abgeschafft, eine parlamentarische Demokratie eingeführt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau etabliert haben und sogar über Tierrechte nachdenken würden – das wäre für viele der Philosophen der Aufklärung unvorstellbar gewesen, obwohl sie schon darüber sprachen, aber wirklich zu glauben, dass es in der Praxis passieren könnte, das ist eine andere Sache. Ich denke also, dass es wirklich wichtig ist, das im Hinterkopf zu behalten. Und auch hier hilft einem die Geschichte, denn sie hilft einem, heraus zu zoomen. Ich glaube, wir überschätzen zu oft das Ausmaß der Veränderungen, die in den nächsten paar Monaten oder vielleicht in den nächsten zwei Jahren passieren können, aber wir unterschätzen das Ausmaß der Veränderungen, die in einem oder zwei Jahrzehnten passieren können. 

MB: Bevor wir darüber sprechen, welche Art von Veränderung Ihrer Meinung nach notwendig ist, möchte ich Sie zunächst etwas Privates fragen. Was glauben Sie, hat Sie dazu gebracht, in Ihrem Leben mehr zu einem Optimisten mit Realitätssinn, also einem Possibilisten, zu werden?

RB: Ich denke, meine religiöse Erziehung hat etwas damit zu tun. Mein Vater ist ein protestantischer Pfarrer hier in den Niederlanden, aber er ist kein dogmatischer Mensch. Er sagt nicht: “Oh, Jesus ist am Kreuz für seine Sünden gestorben, und du solltest an dies und das glauben, und wenn du das nicht tust, kommst du in die Hölle.” Er ist nicht diese Art von Mann, aber von klein auf wurde ich mit dem Gefühl erzogen, dass es wichtige, große Fragen über das Leben gibt und dass manchmal das, was wir glauben, auch wahr werden kann, weil wir es glauben, das, was Soziologen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung nennen. Als ich etwa 18 oder 19 Jahre alt war, war ich sehr besessen von der Frage, ob ich an Gott glauben soll, ja oder nein? Und damals las ich diese sogenannten „neuen Atheisten“, Leute wie Christopher Hitchens und Richard Dawkins, der Biologe, die alle darüber sprachen, dass Religion so etwas Schlechtes sei und dass sie unsere Gesellschaft vergiftet und ich war damals sehr angetan davon. Aber als ich älter wurde, interessierte ich mich mehr, nicht nur für die Frage „Was ist Wahrheit?“ – Sie wissen schon, „ist dies eine Tatsache? Existiert Gott? Gibt es ein Leben nach dem Tod?“, sondern auch, welche Auswirkungen es hätte, wenn wir an dieses oder jenes glauben würden. Die performative Kraft von Ideen. Das ist etwas, das man besonders bei Theorien über die menschliche Natur sieht. Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen egoistisch sind, dann werden wir eine Gesellschaft schaffen, in der die Menschen sehr egoistisch sein werden, weil wir alles darum herum entwerfen. Wir werden Schulen und Demokratien und sogar Gefängnisse schaffen, die das Schlimmste in den Menschen hervorrufen werden. Wenn man das nun umdreht, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen tief im Inneren recht anständig sind und dass es etwas gibt, das man zum Beispiel „survival of the friendliest“ nennt, dann könnte das tatsächlich wahr werden, wenn man es annimmt. Ich bin an beiden Seiten interessiert, wie man die Wahrheit und Ideen betrachten kann. Auf der einen Seite ist mein Buch eine Art Überblick über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir über die menschliche Natur haben und über die sich verändernde Wissenschaft, die wirklich in die Richtung weist, dass wir nicht so schlecht sind, wie wir dachten. Aber es geht auch darum, was passieren kann, wenn wir es tatsächlich glauben und dass es sogar noch wahrer werden könnte, sobald wir diese Idee umsetzen. Ich denke, dass dieser Ansatz etwas mit meiner religiösen Erziehung zu tun haben könnte.  

MB: Sie sagen also, Ihr Buch sei eine Art Analyse des Bildes, das wir bisher von der Menschheit gezeichnet haben. Etwas, das ich beim Lesen Ihres Buches „Im Grunde gut“ sehr interessant fand, ist, dass es keineswegs nur von dem Guten im Menschen handelt. Ein sehr großer Teil erzählt sogar von dem Gegenteil: Von Gewalt, Kriegen, Massenmorden. Und mir scheint, als gäbe es weitaus mehr Hinweise auf die Grausamkeit von Menschen, als Zeugnisse des Guten in uns, oder täuscht mich meine Wahrnehmung?

RB: Nun, das ist natürlich die Ironie! Wenn man ein Buch über den menschlichen Anstand schreibt, muss man sich zunächst hunderte von Seiten mit all den Gräueltaten in der breiten Geschichte befassen. Es gibt natürlich eine gewisse Voreingenommenheit bei der Auswahl. Ich meine, Historiker sind hauptsächlich an Kriegen interessiert, wissen Sie, manchmal scheint es, als ob das Studium der Geschichte das Studium von Krieg, Krieg, Krieg und noch mehr Krieg ist und wenn es keinen Krieg gibt, nennen wir es das “Interbellum” – die Zeit zwischen den Kriegen. Es ist ein bisschen wie mit den Nachrichten. In den Nachrichten geht es meist um die Ausnahmen, um Dinge, die schief laufen. Korruption, Krisen, Terrorismus et cetera. Wenn man also die Nachrichten verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, die meisten Menschen seien egoistisch und die Regierungen korrupt. Dafür gibt es sogar einen Begriff. Psychologen sprechen vom „Böse-Welt-Syndrom“, bei dem man, weil man viel Nachrichten sieht, das Gefühl bekommt, dass die Menschen schlecht seien und man wird immer ängstlicher und depressiver. Die Nachrichten sind wirklich eine Gefahr für die psychische Gesundheit. Und manchmal sehe ich einen ähnlichen Mechanismus in der Geschichte. Es ist so, dass die Leute oft depressiv werden, weil sie Geschichte studieren und nicht merken, dass sie sich auf einen sehr kleinen Teil von allem konzentrieren, was in den letzten 300.000 Jahren passiert ist. Also, ja, ich versuche, ein bisschen heraus zu zoomen. Aber Sie haben absolut Recht, ich muss mich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir nicht nur eine der kooperativsten Spezies im Tierreich sind, sondern auch ganz klar die grausamste Spezies. Wir tun furchtbare Dinge. Krieg, Völkermord, “ethnische Säuberung” – Dinge, die allen Tieren nicht im Traum einfallen würden. Ich habe noch nie von einem Pinguin gehört, der sagt: „Lasst uns eine Gruppe von Pinguinen einsperren, lasst sie uns alle ausrotten!”. Das ist eine sehr menschliche Sache. Wie ich schon sagte,es ist eine der Ironien, wenn man ein Buch über menschlichen Anstand schreibt, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Und ich habe keine einfache Erklärung, ich habe eine sehr vielschichtige Erklärung. Was ich versuche zu zeigen, ist, dass die Erklärung, die so lange gegeben wurde, dass Menschen so etwas einfach tun, weil sie schlecht sind, weil wir uns so entwickelt haben, dass wir egoistisch sind – dass das eindeutig falsch ist. Tatsächlich tun wir sehr oft furchtbare Dinge im Namen des Guten. Weil wir denken, dass wir eigentlich anderen Menschen oder zumindest den eigenen Leuten helfen. Wir begehen Gräueltaten oder beteiligen uns an Kriegen im Namen der Loyalität, im Namen der Kameradschaft und Freundschaft – das ist wirklich eine sehr dunkle Seite der menschlichen Natur. 

MB: Über die Natur des Menschen, die Sie auch ansprechen, wird ja bereits seit vielen Jahren diskutiert. Ein Zitat in diesem Zusammenhang, das vielen bekannt sein dürfte, lautet „homo homini lupus“. Also, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, des Philosophen Thomas Hobbes, über den Sie auch in Ihrem Buch schreiben. Er ging davon aus, dass die Menschen im Naturzustand im Grunde wie wilde Tiere sind, die sich gegenseitig bekämpfen und nur ein starker Staat in Form eines Königs, den Hobbes “Leviathan” tauft, Frieden unter die Menschen bringen kann. Warum überzeugt Sie Hobbes Bild des menschlichen Naturzustands nicht?

RB: Nun, lassen Sie uns zunächst etwas über die Wölfe sagen, denn Wölfe sind eigentlich sehr kooperative Wesen. Sie sind wirklich gut darin, zusammenzuarbeiten und sich umeinander zu kümmern. Daher dachte ich immer, es sei ironisch, dass Wölfe als diese egoistischen Bestien gesehen werden, die nur töten und morden wollen – die meisten Biologen würden dem widersprechen. Nun, diese Ansicht, dass Menschen tief im Inneren nur egoistisch sind oder noch schlimmer, dass wir tief im Inneren Bestien sind – geht in der westlichen Kultur sehr weit zurück. Es gibt einen Primatenforscher namens Frans de Waal, der das als „Fassaden-Theorie“ bezeichnet, also die Vorstellung, dass unsere Zivilisation nur eine dünne Fassade ist, eine dünne Schicht, und dass darunter die rohe menschliche Natur liegt. Dass, wenn man das “zivilisierte Leben” entfernt, es einen Bürgerkrieg oder eine Naturkatastrophe gibt und die Institutionen zusammenbrechen. Dass Menschen dann zeigen, wer sie wirklich sind, dass wir tief im Inneren nur Bestien und egoistisch sind. Dass sie beginnen zu plündern und zu brandschatzen und sehr gewalttätig werden. Diese Idee kommt immer und immer wieder zurück. Und ich glaube, eines der wichtigsten Beispiele dafür war in der Tat der Philosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert das Buch geschrieben Leviathan geschrieben hat,  in dem er argumentiert, dass wir im Naturzustand, in der Zeit, als wir noch Nomaden waren, einen so genannten „Krieg aller gegen alle“ geführt haben und das Leben damals „fies, brutal und kurz“ gewesen sein soll. Und davor wurden wir laut Hobbes bewahrt, weil wir irgendwann sozusagen einen Leviathan gewählt haben, einen allmächtigen Herrscher, benannt nach einem biblischen Seeungeheuer. Ich denke, die Idee hier ist, dass wir wählen müssen. Dass wir zwischen Freiheit und Sicherheit wählen müssen und dass wir nicht beides haben können. Wenn man also Freiheit hat, sind die Ergebnisse schrecklich, denn wenn man den Menschen Freiheit gibt, benehmen sie sich daneben, sie zeigen, wer sie “wirklich” sind. Was es demnach braucht, ist, seine Freiheit aufzugeben, und dafür bekommt man Sicherheit. Das ist sozusagen das klassische Hobbessche Argument. Man sagt, wir brauchen Hierarchien, Manager, CEOs, Prinzen, Prinzessinnen, Könige und Königinnen, weil sie die Bevölkerung kontrollieren. Denn wenn es keine Kontrolle gibt, dann gibt es Anarchie, was angeblich schrecklich ist. Denn dann geschehen all diese Gräueltaten. Also ja, man könnte mein Buch quasi als ein großes Argument gegen die “Fassadentheorie” zusammenfassen.

MB: Überrascht es Sie dann, dass jetzt, während der Corona-Krise, viel über die Möglichkeit von Home-Office gesprochen wird und einige Unternehmen gerade jetzt erkennen, dass sie ihren Mitarbeitern mehr Freiheiten zumuten können, als sie dachten? Überrascht Sie das?

RB: Nun, es gibt hier offensichtlich eine Spannung, denn es geht in beide Richtungen. In den ersten Wochen der Pandemie kam die Fassadentheorie wieder auf, als alle über Leute sprachen, die Toilettenpapier hamstern und die Leute darüber nachdachten, wie lange wir wohl in der Lage wären, das zu tun. Ich habe ziemlich viele Artikel gelesen, die sagten „nur ein paar Monate Pandemie und die Zivilgesellschaft bricht zusammen“, es ist übrigens lustig, diese Artikel jetzt wieder zu lesen. Aber in der Tat, ich denke, für viele Arbeitgeber*innen war es vielleicht ein bisschen überraschend, dass man seine Mitarbeiter*innen zu Hause lassen kann und sie tatsächlich weiterarbeiten. Eigentlich war das Problem in vielen Fällen sogar eher, dass die Menschen zu viel arbeiten, wenn sie dies von zu Hause aus tun, weil der Unterschied zwischen Ihrem Arbeitsleben und Ihrem Privatleben verschwindet. Grundsätzlich, denke ich, ist es aber ein gutes Zeichen. Es gibt eine Verschiebung in der Management-Philosophie, weg von der Idee, dass man seine Mitarbeiter*innen kontrollieren und ihnen ständig Anweisungen geben muss und dass sie, wenn man nicht da ist, nichts tun. Es gibt inzwischen viele Beispiele von Unternehmen rund um den Globus, die ihren Mitarbeiter*innen viel mehr Freiheiten lassen und die sich mehr auf das verlassen, was Psycholog*innen „intrinsische Motivation“ nennen. Dass man etwas nicht nur wegen des Geldes oder des Status tun will, sondern weil es einem wichtig ist. Weil Sie neugierig sind, weil Sie etwas beitragen wollen, weil Sie anderen Menschen helfen wollen. Einfach für das Wohl der Sache selbst. Nun ist natürlich die Frage, wie bedeutsam diese Bewegung ist, und manchmal sind so etwas wie selbstgesteuerte Teams oder dass man den Leuten die Möglichkeit gibt, von zu Hause aus zu arbeiten, nicht so bedeutsam, weil man den Leuten im Grunde mehr Freiheit gibt, sich zu Tode zu arbeiten. Ich muss hier also ein bisschen kritisch sein, aber es ist ein interessantes Phänomen. 

MB: Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1762) lässt sich gewissermaßen als die Antithese zu Hobbes beschreiben. Für ihn war es gerade der Staat, die Kultur, die Sozialisierung, die den Menschen verdirbt. Nur seine eigentlich Natur, die hinter der Maske verborgen ist, sei Rousseau zufolge gut. Aber, ist es nicht gerade der gesellschaftliche Wohlstand, der auch dazu geführt hat, dass wir Menschen heute friedlicher miteinander umgehen und uns nicht permanent niedermetzeln? 

RB: Nun, zum einen haben Sie absolut Recht, dass wir im Moment in der friedlichsten aller Zeiten leben und wahrscheinlich hat der Wohlstand viel damit zu tun. Wir haben ein unglaubliches Wirtschaftswachstum und eine verbesserte Gesundheit rund um den Globus erlebt, und das macht es viel einfacher, friedlich zu sein. Es ist jedoch interessant, dass, wenn wir zur Hobbesschen Weltsicht zurückgehen, dass wir im Naturzustand, damals, als wir nomadische Völker waren, diese unglaublich gewalttätigen Leben führten und uns in einem “Krieg aller gegen alle” befanden. Tatsächlich ist das, was Archäologen jetzt denken, das Gegenteil. Sie haben in zahlreichen Studien bewiesen, dass der Krieg eine relativ neue “Erfindung” der letzten 10.000 Jahre ist und dass wir während des größten Teils der Menschheitsgeschichte, als wir als nomadische Völker den Globus durchstreiften, nicht wirklich in Gruppengewalt verwickelt waren. Natürlich gab es auch dann bereits Aggression und diese Dinge, wie man kann sie bei Tieren sehen kann. Gewalt ist also keine neue Erfindung, aber die Gräueltaten, die Gruppengewalt, der Völkermord usw. scheinen wirklich recht neue Phänomene zu sein. Wenn ich mir also die Geschichte des Krieges oder die Geschichte der menschlichen Gewalt anschaue, dann sehe ich etwas anderes als viele andere, denke ich. Für eine sehr lange Zeit haben wir die Geschichte dieses Marsches des Fortschritts gemalt, bei dem wir als Wilde anfingen, aber dann wurden wir allmählich zivilisierter. Zuerst wurden wir sesshaft, dann erfanden wir die Landwirtschaft, dann zogen wir in die Städte, dann erfanden wir das Rad. Jeder Schritt war ein Mäuseschritt der Zivilisation, den wir feiern können. Ich denke, dass die Geschichte der Zivilisation eigentlich so ziemlich das Gegenteil davon ist, wo der größte Teil der Geschichte oder der Zivilisation eigentlich eine totale Katastrophe war. Über Jahrtausende hinweg hatten wir ein relativ friedliches Leben. Wir wissen, dass wir als Nomaden relativ friedlich waren, wenn Sie zum Beispiel zeitgenössische Nomadenvölker studieren. Und auch wenn man sich die archäologischen Aufzeichnungen ansieht, gibt es sehr wenig oder so gut wie keine Beweise für Gruppengewalt zum Beispiel. Wir wissen auch, dass diese Gesellschaften ziemlich egalitär waren, ziemlich gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern, man kann sie sogar proto-feministisch nennen. Die Menschen waren relativ gesund. Sie hatten zum Beispiel keine Infektionskrankheiten wie die Pest, Masern und COVID-19, denn diese Infektionskrankheiten sind das Produkt von Menschen, die zu nahe an Tieren leben, oft an domestizierten Tieren. Irgendwann wurden die Menschen sesshaft und sie erfanden die Landwirtschaft, was zum Beispiel der Geograf Jared Diamond als „den schlimmsten Fehler der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet hat. Die Folgen davon waren einfach schrecklich. Die Lebenserwartung sank, das Gebiet der Kriegsführung wurde eingeweiht, die Menschen wurden viel kränklicher. Es gab viel mehr Hierarchie, der Bereich des Proto-Feminismus ging zu Ende, und man bekam all diese Infektionskrankheiten. Die meisten dieser Infektionskrankheiten sind relativ neu aus den letzten 10.000 Jahren entstanden. Das war der Zustand der Welt für etwa 10.000 Jahre. Wenn Sie die Möglichkeit hätten zu wählen, ob Sie als Nomade oder als zivilisierter Mensch leben wollen, dann ist es besser, das Nomadenleben zu wählen, denn offensichtlich haben wir zwar enorme Fortschritte gemacht, aber das ist erst seit kurzem der Fall. Global gesehen sind es erst die letzten paar Jahrzehnte. Aber noch vor zwei Jahrhunderten war fast jeder, global gesehen, von der gesamten Weltbevölkerung, der Sklave eines anderen. War ein Diener, war in irgendeiner Weise Untertan eines mächtigen Herrschers. Wenn man es aus historischer Perspektive betrachtet, ist das eigentlich noch gar nicht so lange her. 

MB: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist es weder die Vergesellschaftung, also das, was wir als modernen Fortschritt bezeichnen, noch ist es der Mensch an sich, den Sie als böse bezeichnen, sondern es gibt so etwas wie einen dritten Weg, in dem Sie das Bild des Menschen rekonstruieren möchten. Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt eine “ursprüngliche menschliche Natur”, die entweder gut oder böse ist, oder existiert eine Art dritte Möglichkeit?

RB: Ich denke, das ist tatsächlich eine sehr interessante und schwer zu beantwortende Frage. Sehr lange Zeit haben vor allem Denker auf der Linken gesagt, dass die menschliche Natur als solche nicht wirklich existiert. Dass wir eher eine Art unbeschriebenes Blatt sind. Dass alles von den Umständen und der Kultur und den Machtverhältnissen usw. abhängt und dass es sogar gefährlich sei, über die menschliche Natur zu sprechen. Ich denke, einer der Gründe dafür war, dass uns die evolutionäre Anthropologie vor allem in den 70er Jahren eine ziemlich düstere Botschaft darüber vermittelte, was „survival of the fittest“ bedeutete. Damals gab es ein Buch, „Das egoistische Gen“ von Richard Dawkins. Und ich schätze, dass viele Leute das auf eine ziemlich dunkle Weise interpretiert haben. Ich meine, Dawkins hat das selbst in einem der ersten Kapitel seines Buches gesagt, wo es heißt, dass wir den Menschen Großzügigkeit und Altruismus beibringen müssen, weil wir egoistisch geboren werden. Dann bekamen die Leute Angst, dass die evolutionäre Anthropologie benutzt werden könnte, um den Kapitalismus zu bekämpfen. Wo man sagen würde: „Nun, die Menschen sind einfach grundsätzlich egoistisch und so ist es nun mal. Lasst uns die Regierung aus dem Weg schaffen und einfach die Herrschaft der Märkte einführen“. Deshalb hielt man es wohl lange Zeit für verdächtig, über die menschliche Natur zu sprechen. Aber das hat sich geändert. Es hat eine massive Verschiebung in der evolutionären Anthropologie und Biologie gegeben, wo jetzt Biologen argumentieren, dass das, was den Menschen besonders macht, nicht ist, dass wir so klug sind, oder, dass wir so mächtig oder stark sind. Nein, es ist, dass wir freundlich sind. Sie sprechen sogar vom „survival of the friendliest“. Es gibt starke Beweise, die zeigen, dass seit Jahrtausenden tatsächlich die Freundlichsten unter uns, die meisten Kinder hatten und damit die größte Chance, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Und dass dies uns zu einer Fähigkeit der Kooperation befähigt hat, die kein anderes Tier hat. Das lässt immer noch eine riesige Menge an Raum für Kultur. Man könnte sogar sagen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kulturell zu sein. Denn es liegt in der menschlichen Natur, voneinander zu lernen, einander zu imitieren, miteinander zu kopieren, sich aber auch voneinander zu unterscheiden. Und genau das sieht man, wenn man Nomadenvölker rund um den Globus studiert. Auf der einen Seite sieht man auffallende Unterschiede in ihren Kulturen; die Art, wie sie die Welt sehen, die Art der Religionen, die sie haben, wie sie sich verhalten, die Beziehungen, das ist alles sehr unterschiedlich. Andererseits gibt es auch auffällige Gemeinsamkeiten. Es gibt zum Beispiel einen Anthropologen namens Christopher Böhm, der mehr als dreihundert Nomadenvölker rund um den Globus untersucht hat und herausgefunden hat, dass so ziemlich alle von ihnen ein politische System hatten, das sehr egalitär war. Er nennt es eine „umgekehrte Dominanzhierarchie“, bei der die Gruppe die Anführer sozusagen kontrolliert und es für die Anführer absolut wichtig ist, so bescheiden wie möglich zu sein, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir heute in vielen Ländern erleben. Also, es ist eine komplexe Frage. Ich denke, es gibt so etwas wie die menschliche Natur. Es liegt in der menschlichen Natur, neugierig zu sein, sich nach Verbindung zu sehnen, dass wir nicht einsam sein wollen, dass wir Teil einer größeren Gruppe sein wollen. Das sind alles Dinge, die in uns stecken, von einem sehr frühen Alter an. Aber das lässt dann immer noch sehr viel Raum für unterschiedliche menschliche Kulturen.

MB: Da bereits das Wort “Kapitalismus” fiel – was ich mich frage, ist, wie wirken sich die Institutionen, die wir in unserer heutigen Welt haben, mit der Zeit auf das Bild aus, das wir von uns selbst haben? Wenn ich an den homo oeconomicus denke – das Bild des Menschen als Eigennutzenmaximierer, dann hat das doch sicherlich Auswirkungen auf das, was wir über uns selbst und andere denken und wie wir miteinander und mit der Natur umgehen?! Als Antithese dazu etablieren Sie den Begriff „homo puppy“, der ziemlich niedlich und domestiziert klingt – was wollen Sie mit diesem Wort ausdrücken? Ist der “homo puppy” das Gegenteil vom homo oeconomicus?

RB: Auf jeden Fall. Wenn man sich die Geschichte dieses Konzepts, des homo oeconomicus, ansieht, ist es wirklich interessant. Es ist eigentlich eine Theorie, die aus den Wirtschaftswissenschaften stammt, die aber lange Zeit nicht empirisch nachgewiesen wurde. Also bauten die Ökonomen eine ganze Kathedrale von Theorien auf, und sie hatten alle möglichen politischen Rezepte, die auf dieser Theorie basierten, wie die Menschen wirklich seien. Wir haben viele Gesetze, die heute noch in Kraft sind, die im Grunde alle auf dieser Sicht der menschlichen Natur beruhen. Erst im Jahr 2000 hat ein Anthropologe, Joseph Hendrik, er ist wirklich einer der größten Anthropologen unserer Zeit, diese faszinierende Studie gemacht, in der er anfing, eine Art kognitiver Tests mit Menschen aus der ganzen Welt durchzuführen, mit Bauern, Nomadenvölkern, Menschen, die in reichen Städten lebten, und er versuchte zu sehen, ob sich die Menschen nach dem Standardmodell des homo oeconomicus verhalten, das heißt – ob sie egoistisch genug sind. Und das Lustige ist, dass er nirgendwo auf der Welt Menschen finden konnte, die sich so verhielten, wie die Ökonomen sagten, dass wir uns verhalten sollten, gemäß ihren Modellen und Theorien. Er schien nicht wirklich zu existieren. Lustigerweise gelang es ihm ein paar Jahre später, den homo oeconomicus zu finden, aber es stellte sich heraus, dass es sich um eine andere Spezies handelte – Schimpansen verhalten sich meist nach den Modellen der Ökonomen, aber nicht wir Menschen. Das ist ziemlich lustig. Er machte die Bemerkung, dass die ganze theoretische Arbeit nicht umsonst war, wir haben sie nur auf die falsche Spezies angewendet. Aber offensichtlich ist die Tragödie hier, dass wir seit Jahrzehnten einer Theorie der menschlichen Natur verhaftet sind, die einfach falsch ist. In der Tat sollten wir zu einer anderen, realistischeren, genaueren, wissenschaftlicheren Sichtweise dessen, was wir sind, übergehen. Und wie Sie bereits erwähnt haben, ist eine der aufregendsten neuen Theorien hier die Theorie der “Selbstzähmung”. Diese Vorstellung, dass wir uns als Spezies selbst domestiziert haben, dass wir uns gewissermaßen selbst verdorben haben, dass wir im Vergleich zu unseren hominiden Vorfahren die Welpen sind. Was Wölfe für Hunde sind, das sind wir im Vergleich zu den Neandertalern. Wir sind einfach diese Wesen, die sich wirklich nach Verbundenheit und Freundschaft sehnen und zusammenarbeiten wollen und das ist nicht unsere Schwäche, es ist unsere Superkraft. Denn es ermöglicht uns eine Fähigkeit zur Kooperation, die keine andere Spezies im Tierreich hat. 

MB: Denken Sie nicht, dass vielleicht der Wohlstand, der auch mit dem Kapitalismus kam, natürlich nicht nur Wohlstand, aber denken Sie nicht, dass dieser Prozess auch dazu geführt hat, dass wir heute domestizierter sind und vielleicht mehr einem homo puppy, als ein homo oeconomicus ähneln?

RB: Offensichtlich ist der Kapitalismus ein sehr junges Phänomen. Zumindest der moderne Kapitalismus, so wie wir ihn jetzt haben, also nach der industriellen Revolution, ist eine Sache, die wir erst seit zwei Jahrhunderten haben. Der war offensichtlich nicht in der Lage, die menschliche Natur zu verändern, weil Evolution nicht so schnell passiert. Evolution kann ziemlich schnell passieren, Sie können zum Beispiel Veränderungen im menschlichen Genom sehen, das dauert nur ein paar Jahrtausende, aber zweihundert Jahre sind wirklich nichts. Wie sollten wir das betrachten? Es ist sehr seltsam. Auf der einen Seite haben wir diesen unglaublichen Fortschritt gemacht, wie ich schon sagte. Wir sind reicher, wir sind wohlhabender, wir sind gesünder als je zuvor. Ich meine, wir sind im Moment sehr besorgt über diese Pandemie, aber noch einmal, aus historischer Sicht ist es erstaunlich, dass die Wissenschaftler*innen so schnell mit mehreren Impfstoffen aufwarten konnten. Impfstoffe sind übrigens wahrscheinlich die großartigste Erfindung in der gesamten Menschheitsgeschichte, denn unter Pandemien leiden wir schon seit Jahrtausenden. Wir haben alle von der Pest gehört, sie hat im Mittelalter ein Drittel der Bevölkerung in Europa getötet. Und jetzt, in nur einem Jahr, können wir mehrere Impfstoffe entwickeln. Die Frage ist allerdings, wie nachhaltig dieser Fortschritt wirklich ist. Tanzen wir auf dem Gipfel eines Vulkans? Das ist die eigentliche Frage, denn wir wissen auch, was mit dem Klima passiert, und wir wissen, was mit den Arten passiert, dass wir uns in einem Aussterbeprozess befinden. Es ist also im Grunde das größte “Glücksspiel” der Menschheitsgeschichte – das ist die Zivilisation, und es ist einfach zu früh, um das zu sagen. Wir wissen noch nicht, ob es eine gute Idee war. Vielleicht hätten wir im Zustand der nomadischen Völker bleiben sollen. Schließlich überleben sie seit Hunderttausenden von Jahren durch Jagen und Sammeln. Den Homo Erectus gab es schon vor einer Million Jahren. Vielleicht haben wir nur ein Experiment gestartet und sind in hundert Jahren weg, oder in zwei Jahrhunderten. Und dann, wenn man heraus zoomt, war es offensichtlich der schlimmste Fehler in der gesamten Menschheitsgeschichte.  

MB: Was ich mich frage, ist auch, dass Sie in Ihrem Buch schreiben, dass die Distanz zu einer größeren Bereitschaft führt, skrupellos zu sein. Wie in Kriegen, wenn wir Bomben aus der Ferne schießen. Würden Sie sagen, dass die Globalisierung dazu geführt hat, dass wir eher bereit sind, Menschen auszubeuten? Zum Beispiel diejenigen, die im globalen Süden leben. Und ein anderes Beispiel wäre, dass wir uns als Menschen von der Natur entfernt haben, uns nicht mehr als Teil von ihr sehen und deshalb bereit sind, sie schamlos auszubeuten. Das wäre eine These. Was denken Sie darüber?

RB: Die Globalisierung ist natürlich ein mehrseitiges Phänomen. Man könnte auch argumentieren, dass sie die Distanz zwischen den Menschen verringert hat. Gerade jetzt passiert etwas Schreckliches im Libanon, und wir alle hören sofort in den Nachrichten davon. Das ermöglicht uns, mehr Empathie für Menschen zu empfinden, die viel weiter von uns entfernt sind. Aber auf der anderen Seite stimme ich absolut zu, dass, wenn man sich zum Beispiel den globalen Markt anschaut, diese neoliberale Form der Globalisierung es uns wirklich ermöglicht hat, ziemlich schreckliche Dinge zu tun, ohne dass wir uns deswegen schlecht fühlen. Wir tragen also Kleidung, die oft auf ganz kriminelle Weise produziert wird. Wo Kinderarbeit involviert ist oder noch Schlimmeres. Ich denke, das gilt auch besonders, wenn wir uns anschauen, wie wir mit Tieren umgehen. Die wenigsten Menschen würden noch Fleisch essen wollen, wenn sie ein Video von dem Tier sehen müssten, das sie essen. Sie könnten es einfach nicht tun, aber wir haben sozusagen ein System geschaffen, bei dem man nicht mehr darüber nachdenken muss. Man sieht das Tier nicht mehr wirklich. Es gibt einige Leute wie Yuval Noah Harari zum Beispiel, der argumentiert, dass die globale Fleischindustrie das größte Verbrechen in der modernen Menschheitsgeschichte ist. Und ich denke, dafür kann man wirklich gute Argumente anführen, denn wenn man nur an das unglaubliche Ausmaß an Leid denkt und wenn man auch an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kognition von Tieren denkt, dass sie viel klüger und viel raffinierter sind, als wir lange Zeit dachten. Es ist wirklich schrecklich, sich das vorzustellen, allein das Ausmaß des Verbrechens.

MB: Wäre die Lösung dann nicht mehr Empathie? Wenn wir uns besser in die Lage anderer Menschen versetzen könnten? Würde das nicht zu einem friedlicheren Miteinander führen, das sich letztlich auch positiv auf unser Menschenbild auswirken könnte?

RB: Die Schwierigkeit ist, dass Empathie eine so begrenzte Emotion oder eine begrenzte Fähigkeit des Menschen ist. Auch hier sind also Tiere ein gutes Beispiel. Eine Menge Leute lieben ihre Haustiere. Menschen, die Haustiere haben, lieben ihre Haustiere. Sie würden es schrecklich finden, wenn ihr Hund oder ihre Katze so eingesperrt würde, wie wir unsere Kühe einsperren und gequält, misshandelt und ermordet werden. Sie würden das schrecklich finden. Aber sie haben kein Problem damit, Kühe zu essen, die auf diese Weise behandelt wurden. Ich denke, das zeigt, dass Empathie wie ein Scheinwerfer funktioniert, wie ein Suchscheinwerfer. Man konzentriert sich einfach auf die Dinge, die einem nahe sind, die einen emotional erregen. Was wir tatsächlich brauchen, ist vielleicht eine rationalere oder distanziertere Haltung, bei der wir heraus zoomen und uns nicht nur von unseren Emotionen leiten lassen, von dem, was wir für diejenigen empfinden, die uns nahe stehen – unsere Haustiere, unsere Freunde, unsere Mitarbeiter*innen, Nachbarn, sondern wir erkennen tatsächlich, dass die gesamte Menschheit unser Mitgefühl verdient.

MB: Halten Sie das für realistisch? Ich meine, ist das mit unserer Psychologie der menschlichen Natur möglich?

RB: Ich will hier ehrlich sein. Es ist schwer. Und in gewisser Weise geht es gegen die menschliche Natur. Auf der einen Seite haben wir uns entwickelt, um freundlich zu sein, kooperativ zu sein, zusammenzuarbeiten, aber die dunkle Seite der menschlichen Natur ist offensichtlich unsere Tendenz zum “Stammesdenken”. Wir neigen dazu, in einer Gruppe gegen eine andere Gruppe zu denken, und weil man zu dieser Gruppe gehört, mag man die andere Gruppe nicht. Das kann man schon bei Babys sehen, ab dem Alter von einem Jahr. Es gibt verschiedene psychologische Studien, die zeigen, dass es wirklich etwas tief in der menschlichen Natur liegt. Wir haben fremdenfeindliche Tendenzen, ganz tief in uns. Das ist nicht unvermeidlich. Es gibt Möglichkeiten, das zu umgehen. Kontakt hilft wirklich, mehr Vielfalt im Leben, wenn Sie mehr kulturelle Vielfalt in Ihren Institutionen oder Schulen haben, dann gewöhnen sich Menschen an Unterschiede. Sie werden viel weniger fremdenfeindlich. Und, wenn man sich die Geschichte anschaut, haben wir es geschafft, einige Fortschritte zu machen, ob wir nun über die Emanzipation der Sklaven sprechen oder auch über die Art und Weise, wie wir über Tiere sprechen. Es gibt einen Philosophen, Peter Singer, der das den „effective altruism“ nennt – es geht darum, dass wir im Laufe der Menschheitsgeschichte einen neuen Kreis geschaffen haben. Zuerst haben wir uns hauptsächlich um unseren eigenen Stamm gekümmert, dann haben wir uns auf die Stadt ausgeweitet und dann auf einen Nationalstaat, und jetzt haben wir Kollektive von Nationalstaaten, die zusammenarbeiten, wie die EU usw. Jetzt ist der nächste Schritt die Ausweitung auf alle Lebewesen. Also, ja, Fortschritt ist möglich, aber wie ich am Anfang unseres Gesprächs sagte, er ist nicht dauerhaft und er ist nicht unvermeidlich, er ist etwas, das immer erneuert und aufrechterhalten werden muss.

MB: Was, glauben Sie, braucht es dazu? Was brauchen Menschen und Gesellschaften, um diesen Paradigmenwechsel, diesen „Sinneswandel“ voranzutreiben? Um einen Nährboden zu schaffen, auf dem er gedeihen kann?

RB: Offensichtlich braucht man eine ganze Reihe von Dingen. Man braucht Hoffnung, man braucht den Glauben, dass die Dinge tatsächlich anders sein können. Man braucht auch die Bereitschaft, sich gegen den Status quo zu stellen. Das ist wirklich interessant. In der zweiten Hälfte meines Buches spreche ich über all jene Menschen, die versuchen, diese neue Sicht der menschlichen Natur umzusetzen. In den Schulen, in der Art und Weise, wie wir Demokratie machen, oder am Arbeitsplatz – sie wollen mit einer anderen Sichtweise beginnen, wer wir als Spezies sind. Das Interessante dabei ist, dass die Menschen, die das tun, oft ein bisschen “anders” sind. Sie haben den Mut, sich unbeliebt zu machen. Ich fand es ironisch, dass diese Leute, die diese „homo puppy“-Sicht der Natur umsetzen, selbst keine wirklichen „homo puppies“ sind. Nachdem ich mit dem Schreiben von „Im Grunde gut“ fertig war, habe ich vor allem über den Widerstand während des Zweiten Weltkriegs gelesen und recherchiert. Wie Sie wissen, wurde ein großer Prozentsatz der Juden, auch in den Niederlanden, verschleppt und ermordet, wobei viele Niederländer mitschuldig waren und mit den Nazis zusammenarbeiteten. So begann ich mich wirklich für die Frage zu interessieren: „Wer sind die Menschen, die Widerstand leisteten; was ist ihr psychologisches Profil; was unterscheidet sie vom Rest von uns?“. Lassen Sie mich eine Geschichte über einen Mann namens Arnold Douwes erzählen, der eine der wichtigsten Figuren im niederländischen Widerstand war. Er rettete etwa 300-350 Juden, darunter 100 Kinder, unter großer Gefahr für sein eigenes Leben. Wenn man sich seine Biografie anschaut, sieht man einen Mann, der im Grunde ein schreckliches Leben bis zum Zweiten Weltkrieg führte. Er passte nicht in die Gesellschaft. Niemand mochte ihn, er hat sich mit allen geprügelt. Er beendete seine Schule nicht, er wurde rausgeschmissen, dann zog er für 10 Jahre in die USA, dann wurde er als radikaler Kommunist wieder rausgeschmissen und dann begann der Krieg, und es war die “beste Zeit seines Lebens”. Er baute ein riesige Untergrund Netzwerk auf und half eine Menge Juden zu retten. Hauptsächlich, indem er viele andere Leute schikanierte und sagte: „Du musst diesen Juden mitnehmen, du musst diesen Juden verstecken und wenn du es nicht tust, bist du kein richtiger Christ“. Er hat die Leute immer sehr unangenehm berührt. Dann war der Krieg zu Ende und sein Leben war wieder eine Katastrophe. Er zog nach Südafrika, lebte dort für ein paar Jahre, zog in nur 9 Jahren ungefähr 15 Mal um und endete in Streitereien mit jedem. Im Grunde starb er als verbitterter, wütender Mann. Das war sein Leben und das fasziniert mich, dass ein Mensch, der „in normalen Zeiten nicht funktioniert“, in extremen Zeiten zum “Held” wird. Was lehrt uns das über Mut? Manchmal brauchen wir den Mut, unbeliebt zu sein, und das geht eigentlich gegen unsere menschliche Natur, denn wir alle wollen gemocht werden. Das ist die menschliche Natur, wir wollen Teil einer Gruppe sein. Wir hassen es, einsam zu sein, wir finden das sehr bedrohlich. Aber manchmal ist es genau das, was wir tun müssen. Und wenn es stimmt, dass wir uns jetzt auf einen Klimakollaps zu bewegen, dass unsere Demokratie bedroht ist, dann müssen wir vielleicht ein bisschen mehr wie dieser Typ sein, der Arnold Douwes heißt. Vielleicht nur 5 % mehr Mut, unbeliebt zu sein und gegen unser sehr menschliches Bedürfnis, gemocht zu werden, anzugehen. 

MB: Was hilft Ihnen, den Mut zu haben, unbeliebt zu sein? Ich meine, ich vermute, dass nicht jeder Ihr Buch gut heißt?

RB: Ich weiß nicht wirklich, ob ich ein gutes Beispiel dafür bin. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin ein bisschen misstrauisch, denn eigentlich läuft mein Buch relativ gut, das ist vielleicht kein gutes Zeichen. Es ist einfacher, etwas zu tun, wenn die Leute sagen: „Na ja, es ist toll, was du da machst“, oder?

MB: Was ich meinte, war nicht, dass es Leute gibt, die Ihr Buch nicht mögen – aber meine Vermutung wäre, dass es einige Leute gibt, die den Paradigmenwechsel nicht mögen, der vermutlich mit einer optimistischeren Sichtweise auf die Menschheit und einer egalitären Welt einhergehen würde.

RB: Das ist absolut richtig. Eine hoffnungsvollere Sicht der menschlichen Natur ist für die Machthaber geradezu bedrohlich, denn sie bedeutet, dass wir wahrscheinlich ohne sie auskommen könnten. Und dass wir zu einer egalitären Gesellschaft übergehen können. Das ist der Grund, warum im Laufe der Geschichte diejenigen, die an der Spitze standen, für Zynismus plädiert haben. Zynismus ist das größte Geschenk, das man den Reichen und Mächtigen machen kann. Denn wenn man ein Zyniker ist, wenn man den Menschen nicht trauen kann und wir tief im Inneren einfach egoistisch sind, dann brauchen wir sie. Dann brauchen wir die Könige, die Königinnen, die Monarchen und die Prinzen und die CEOs – sie müssen uns in Schach halten. Aber wenn wir uns tatsächlich gegenseitig vertrauen können, dann – Moment mal – brauchen wir sie vielleicht nicht. Vielleicht können wir eine Revolution starten und zu einer ganz anderen Art von Gesellschaft übergehen. Ich denke, das ist der Grund, warum diejenigen, die in der Geschichte für eine hoffnungsvollere Sicht der Natur eintraten, oft verfolgt wurden. Ich denke, die Anarchisten sind hier das beste Beispiel, weil sie wirklich diese klassische Weltsicht haben, wo sie sagen, die meisten Menschen sind ziemlich anständig, aber Macht korrumpiert, denken Sie an den Anarchisten Peter Kropotkin, den russischen Prinzen, der zum Anarchisten wurde. Er wurde vom russischen Geheimdienst rund um den Globus verfolgt. Er war im Gefängnis, weil er dachte. Denn diese mächtigen Leute wissen genau, was auf dem Spiel steht. Wenn die Menschen anfangen, einander zu sehr zu vertrauen, könnte das bedeuten, dass ihre Macht bedroht ist.

MB: Ich möchte zum Schluss noch einen Absatz aus Ihrem Buch zitieren, den ich sehr interessant finde. Sie schreiben: An unsere Verdorbenheit zu glauben ist auf seltsame Weise beruhigend. Eigentlich werden wir dadurch freigesprochen. Wenn die meisten Menschen böse sind, haben Widerstand und Engagement nicht viel Sinn. […] Wer dagegen behauptet, dass der Mensch im Grunde gut ist, muss viel intensiver darüber nachdenken, warum das Böse besteht. Und er muss selbst initiativ werden, denn dann ergeben Widerstand und Engagement durchaus Sinn. Glauben Sie, dass wir mit einem von grund auf optimistischen Bild des Menschen auch Herausforderungen, wie den Klimawandel oder die Corona-Pandemie besser bewältigen könnten?

RB: Es ist nicht genug. Aber es ist eine absolute Voraussetzung, denn wie sollen wir jemals den Klimawandel lösen, wenn wir nicht wirklich aneinander glauben? In meinem Buch erzähle ich die Geschichte der Osterinsel. Die Osterinsel wird schon lange als Warnung für unsere moderne Zivilisation gesehen. Denn hier haben Sie den abgelegensten Ort der ganzen Welt, an dem die Menschen seit hunderten von Jahren leben. Aber dann haben sie angefangen, all diese verrückten Statuen zu bauen, aber um all diese Statuen zu bauen, mussten sie die Bäume fällen. Es gab eine massive Abholzung, sie konnten nicht mehr genug Nahrung produzieren, ein Bürgerkrieg brach aus, sie wurden Kannibalen und zerstörten ihre Gesellschaft. Das ist die Geschichte, die schon sehr lange über die Osterinsel erzählt wird. Und wird als Gleichnis für unsere Zukunft gesehen, dass uns dasselbe Schicksal droht. Was hier interessant ist, ist, dass Archäologen die Beweise der Osterinsel neu untersucht haben und tatsächlich etwas ganz anderes gefunden haben. Was sie gefunden haben, ist Resilienz. Dass es in der Tat eine Abholzung gab, wahrscheinlich wegen einer Rattenplage und nicht wegen der Statuen, aber dass sie danach innovativ waren. Sie entwickelten neue landwirtschaftliche Praktiken, die die Produktion von Nahrungsmitteln auf der Insel tatsächlich erhöhten. Diese Resilienz ist nicht unvermeidlich. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Aber es gibt hoffnungsvolle Anzeichen dafür. Einer der Gründe, hoffnungsvoll zu sein, ist ein Blick auf das, was in den letzten Jahren in Europa passiert ist. Vor nicht allzu langer Zeit war die Europäische Union ein ziemlich deprimierendes Projekt, damals, als vor allem Deutschland und „der kleine Sklave Niederlande“ auf die Griechen einprügelten. Es war eine unglaublich verrückte Zeit, in der wir sagten: „Ihr müsst für eure Schulden bezahlen, deshalb vergrößern wir die Armut in eurem eigenen Land“. Ich fand das sehr deprimierend und habe damals die Hoffnung auf das europäische Projekt verloren. Aber seitdem hat sich viel verändert. Wenn man sich die ehrgeizige Klimagerechtigkeitsbewegung um Greta Thunberg anschaut, dann hat das einen so großen politischen Effekt, dass ich denke, dass die Europäer*innen jetzt die Vorreiter*innen im Kampf gegen den Klimawandel sind. Und wir sind noch nicht annähernd so weit, aber wenn man sich den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen “Green Deal” anschaut – er ist so viel ehrgeiziger. Ehrgeiziger als alles, was sich die Amerikaner ausgedacht haben. Die Amerikaner sind immer sehr gut darin, Reden zu halten, und wir (Deutsche und Niederländer) sind nicht sehr gut darin, Reden zu halten, aber wir sind viel besser darin, tatsächlich etwas zu tun. Deutschland hat mit der Energiewende wirklich das Lehrgeld der Welt bezahlt. Wenn Sie sich den enormen Rückgang der Solarenergie anschauen, haben wir das Deutschland zu verdanken. Wenn man sich die Windenergie anschaut – ohne Dänemark wäre das nicht passiert, sie waren jahrzehntelang ganz vorne dabei. Es gibt Gründe, hier hoffnungsvoll zu sein. Die gibt es wirklich. Und ich glaube auch, dass eine neue Generation heranwächst, die sehr viel fortschrittlicher, gebildeter und vielfältiger ist als die Generation vor ihr. Man könnte also argumentieren, dass Hoffnung der neue Zynismus ist. Oder: Zynismus ist out und Hoffnung ist in. Die Frage ist nur, ob es schnell genug geht. Denn wie Sie wissen – wir haben nicht mehr viel Zeit. Also müssen wir uns beeilen.

MB: Ich denke, das sind wirklich gute letzte Worte. 

26. Januar 2021

Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

von Marilena 29. Oktober 2020

Während sich in der Corona-Pandemie weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese den perfekten Nährboden für den Glauben an Verschwörungstheorien. Da sie scheinbar klare Antworten auf Unsicherheiten geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in vermeintliche Sicherheit. Der Mensch lebt, laut Nietzsche, in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit stellt für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung dar. Dies scheint auch für Verschwörungsnarrative, mit ihren suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt, zu gelten. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im Falschen.

Shownotes:

Diese Episode wird präsentiert von Blinkist. Unter Blinkist.de/sinneswandel erhaltet ihr 25% Rabatt auf das Abo Blinkist Premium.

► „Wie ein Buschfeuer im Kopf“: ZEIT Interview mit Michael Butter über Verschwörungstheorien.
► „Hier walten geheime Mächte“: ZEIT Artikel von Thomas Assheuer über Verschwörungstheorien in den USA.
► Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.
► Leo Löwenthal: Falsche Propheten Studie von 1949.
► Dead and Alive: Beliefs in Contradictory Conspiracy Theories Michael Studie von J. Wood, Karen M. Douglas, Robbie M. (2012).
► So erkennt man Verschwörungstheorien: Leitfaden der Europäische Kommission.

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Transkript: Verschwörungstheorien – eine Form menschlicher Daseinsbewältigung?

Mit Ausbruch des Corona-Virus Anfang des Jahres, entwickelte sich die Epidemie schnell zu einer Pandemie. Und beinahe zeitgleich verbreiteten sich zahlreiche Verschwörungstheorien rund um die Entstehung von Covid-19: Da ist einerseits der Glaube an die Übermacht von Bill Gates, der angeblich vorhat jeden Menschen zwangsimpfen zu lassen . Zugleich kursiert das Gerücht, das 5G-Netz sei an der Verbreitung des Coronavirus Schuld. Und dann sind da natürlich noch die QAnon Anhänger:innen zu nennen, die derzeit wohl populärste und meist diskutierteste Verschwörungstheorie, die insbesondere auf Demos gegen Corona-Maßnahmen verbreitet wird. QAnons glauben daran, US-Präsident Trump werde als Messias die Welt vor einem satanischen Kult aus Pädophilen und Kannibalen erlösen. Klingt nach einer absurden Geschichte, scheint aber dennoch anschlussfähig für Demokratiefeinde, Rechtsextreme und Antisemiten zu sein. Bunte Fähnchen, mit denen QAnons häufig auftreten, sollten also nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter häufig antidemokratische Tendenzen stecken, die alles andere als harmlos sind. Nun ist es allerdings nicht so, dass es Verschwörungstheorien erst seit Ausbruch von Covid-19 gäbe. Bereits seit Jahren wird über einen möglichen “Inside Job” also einer Verschwörung hinter 9/11, dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York, debattiert. Auch das Gerücht, die Erde sei eine flache Scheibe, hält sich nach wie vor hartnäckig und wird von sogenannten Flath-Eathlern emsig verbreitet. Ebenso, wie einige Menschen davon überzeugt sind, Chemtrails, also das Auftreten vermehrter Kondensstreifen am Himmel, entstehen durch gezielt in die Atmosphäre eingebrachte Chemikalien, die uns beeinflussen und möglicherweise vergiften sollen. Und so ließe sich die Liste ins beinahe Unendliche fortführen. Der Amerikanist und Forscher zu Verschwörungstheorien, Michael Butter, schreibt in einerm Interview mit der ZEIT: “Verdächtigungen und auch echte Verschwörungen gab es wohl schon immer, aber die klassische Verschwörungstheorie ist etwas anderes. Der Philosoph Karl Popper hat in ihr eine Antwort auf die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung und den verwaisten Himmel gesehen – das bringt ihren Ursprung deutlich näher an die Gegenwart. Nicht mehr der liebe Gott zieht in solchen Theorien die Strippen, so Popper, sondern eine böse Macht.” Willkommen im postfaktischen Zeitalter.

Ist unsere aktuelle Epoche also quasi prädestiniert, gerade zu anfällig für solcherlei Verschwörungstheorien? Greift der Mensch vielleicht sogar aufgrund seiner geistigen Veranlagung auf diese zum Teil wilden Fantasien zurück? Als eine Form der  Daseinsbewältigung? 

Für den Philosophen Friedrich Nietzsche existiert keine Wirklichkeit, außer jene, die wir selbst erschaffen. Alle Wirklichkeit ist unsere. Unsere, im Sinne unserer Kulturleistung. Für Nietzsche ist der Mensch ein Illusionist, in dem Sinne, als dass er niemals der Wirklichkeit, als objektive Wirklichkeit verstanden, gewahr wird, sondern sie stets als Abbild, als Übertragung – oder, wie Nietzsche es nennt, als “Metapher” – wahrnimmt. So, wie ein Wort für ihn “die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten” darstellt, die rein willkürliche Übertragung in Bilder, und aus ihnen nachgeformten Lauten, ist für ihn die durch den Mensch rezipierte Wirklichkeit eine Reduktion – oder vielmehr eine Illusion. Eine Illusion, ohne welche der Mensch, so Nietzsche, nicht lebenstauglich wäre. Dies ist es, was er versucht zu umschreiben, wenn er von dem “ästhetischen Fundamentaltrieb zur Metapherbildung” spricht. Nietzsche zufolge ist das Leben nur möglich “durch künstlerische Wahnbilder”. Jegliche sprachliche Erzeugung von Bedeutung stellt für ihn eine künstlerische Leistung dar. Damit ist die Wirklichkeit selbst das Gesamtkunstwerk, das der Mensch in seinem existentiellen Bedürfnis hervorbringt, um sich das Leben durch förderliche Illusionen erträglich zu machen. Erträglich zu machen, bedeutet für Nietzsche, dass der Mensch ohne die Illusionen, ohne die ‘Lügen’, die er sich über die Wirklichkeit erzählt, nicht existieren könnte. Kultur stellt für ihn die lebensdienlichen Alternative zur Wahrheit dar. Der Mensch lebt in subjektiven und selektiven, ihm dienlichen Illusionen, um das Leben aushalten zu können. Die Wahrheit ist für ihn “eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge” zur gemeinsamen Daseinsbewältigung. ‘Die Wahrheit’ gibt es für ihn nicht, zumindest nicht als absoluten Maßstab unserer Erkenntnisse. Damit erhebt Nietzsche die ‘Lüge’ über die Wahrheit, insofern als dass sie Ausdruck schöpferischen Willens ist, der den Menschen am Leben erhält. Ein umgedrehter Platonismus, der das Leben als Schein, als künstlerische ‘Illusion” zum Ziel hat. Der Mensch ist, so Nietzsche, ein “gewaltiges Baugenie”. Und das Leben selbst in seinen elementaren Formen, enthält für ihn eine künstlerische Potenz, die sich in der Kultur zu einer eigenständigen Sphäre entwickelt.

Der Mensch, ist also notgedrungen ein Künstler, wenn man den Worten Nietzsches Glauben schenkt. Eine ähnliche Meinung vertritt auch der Journalist Thomas Assheuer, dessen Artikel ich kürzlich im Feuilleton der ZEIT gelesen habe. Darin schreibt dieser: “Verschwörungsnarrative [fallen] immer dann auf fruchtbaren Boden, wenn der psychische Apparat des Einzelnen mit einer verwirrend komplexen Gegenwart überfordert ist, genauer: wenn es dem Einzelnen unmöglich ist, seine Krisenwahrnehmungen in ein sinnvolles Schema ‘einzulesen’, und er das Gefühl bekommt, dem Weltgeschehen wehrlos ausgeliefert zu sein. […[ Verschwörungsgeschichten versprechen Abhilfe […] Dafür basteln sie einen suggestiven Rahmen, der eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt und ‘verständlich’ macht. Wenn es in der Gegenwart schon nicht mit rechten Dingen zugeht, dann wenigstens im falschen.” 

Da haben wir sie also, die Illusion, die ‘Lüge’, die über die Wahrheit erhoben wird. Zum Zwecke der eigenen Daseinsbewältigung in einer gefühlt immer undurchdringlicher erscheinenden Welt. Assheuer zufolge wirken Verschwörungstheorien gar  therapeutisch:  “Sie antworten auf Ohnmachtserfahrungen und verschaffen ihren Anhängern die grimmige Genugtuung, für einen Moment die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen und endlich gehört zu werden.” Während sich in der Corona-Pandemie also weltweit Verunsicherung breit macht, liefert diese einen perfekten Nährboden für den Glauben an eine Verschwörungstheorie. Da sie scheinbar klare Antworten auf die Unsicherheit geben. Sie lösen allen Nebel auf und verwandeln ihn in Sicherheit. Auch, wenn diese zwar oft nicht weniger dunkel und bedrohlich erscheint, weiß man wenigstens was los ist. Assheuer vermutet zudem, dass Verschwörungstheorien “weniger von der Klassenlage genährt [werden], als von elementaren ‘Nöten und Bedrängnissen’. Dazu gehört die Angst vor Status- und Kontrollverlust. Und die Sorge, im gnadenlosen ökonomischen Konkurrenzkampf aussortiert zu werden. […] ein Gefühl von Ohnmacht und Verunsicherung, […] verstärkt durch den Zerfall familiärer Geborgenheit und das Schwinden ‘moralischer Maßstäbe’.” “Genau von dieser Malaise, vom Zustand ‘permanenter Unsicherheit’, würden Propheten angezogen ‘wie die Fliegen vom Misthaufen’”. So attestierte es bereits 1949 der Soziologe Leo Löwenthal in seiner Studie mit dem Titel “Falsche Propheten”.

Der Wunsch nach Sicherheit, nach einem Halm, an dem man sich zumindest ein wenig festhalten kann, erscheint da durchaus verständlich. Vor allem, wenn hinzukommt, dass das altbewährte Freund-Feind-Schema immer mehr versagt oder stattdessen fallweise von Tag zu Tag neu justiert werden muss. “Keine erklärende […] Fortschrittserzählung macht die Chronik des Weltgeschehens narrativ verständlich”, schreibt Assheuer. Also wird sich ein eigenes Narrativ zusammen gedichtet. Und die Verschwörungsfabel QAnon zum neuen Sortierschema, welche das Geschehen im globalen Irrenhaus ‘sinnvoll’ einordnen soll, erklärt. Der Verschwörungsexperte Michael Butter erklärt sich solche Verhaltensweisen durch das urmenschliche Bedürfnis, aus losen Einzelheiten Muster zu bilden und Kausalzusammenhänge herzustellen. Auch wenn diese oft gar nicht existieren. Außerdem tendieren wir häufig dazu, Informationen danach auszuwählen, was in das eigene Weltbild passt. Alles andere wird einfach ausgeblendet.

Interessant dabei ist, dass eine solch selektive Wahrnehmung auch den Wissenschaften nicht völlig fremd ist. Auch eine wissenschaftliche Theorie beruht auf Annahmen, die teilweise bestimmte Aspekte bewusst ausblenden. Ein Unterschied besteht jedoch, wenn Fakten oder Hinweise auftauchen, die die Theorie widerlegen können. Denn das kann und soll sogar so sein: Eine Theorie muss widerlegbar sein. Alles andere, so der Philosoph Karl Popper, einer der wichtigsten Vertreter der Erkenntnistheorie, könne man nicht als Theorie bezeichnen. Wohl eher als Ideologie. Verschwörungstheorien nutzen demnach Argumente, die gegen eine wissenschaftliche Theorie sprechen. So verwendet Donald Trump beispielsweise gerne und oft die Floskel  „A lot of people are saying …“, um über konspirative Ideen zu sprechen. So haben die amerikanischen Wissenschaftler Nancy Rosenblum und Russell Muirhead aus Princeton auch ihre Studie genannt, in der sie Trumps Technik als „conspiracy without theory“ beschreiben, also als Verschwörung ohne Theorie. Das heißt: Es gibt nur noch die Behauptung, keine Herleitung mehr und schon gar keine Belege. Das, was nach ihrer Logik bewiesen werden kann, wird als Wahrheit bezeichnet. Die empirische Wissenschaft hingegen geht nur so lange davon aus, dass etwas wahr ist, bis es falsifiziert, also widerlegt wurde. Die Gravitation beispielsweise, konnte bisher niemand beweisen. Widerlegen konnte sie allerdings auch noch keiner. Daher ist und bleibt sie eine aktuell gültige Theorie. Lange Rede, kurzer Sinn: eigentlich sollten wir Verschwörungstheorien gar nicht erst als solche bezeichnen. Auf diese Weise sprechen wir ihnen etwas zu, das ihnen eigentlich gar nicht zuteil werden sollte – nämlich den Anspruch einer Theorie gerecht zu werden. Thomas Assheuer verwendet beispielsweise in dem ZEIT Artikel stellenweise den Begriff “Verschwörungsnarrative” als Alternative, nehme ich an.


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Ein weiterer Grund, weshalb wir vielleicht eine Hochkonjunktur der Verschwörungsgeschichten erleben, könnte auch an der wachsenden Geschwindigkeit ihrer medialen Verbreitung liegen. Man kann beobachten, wie unfassbar schnell sie heute im Netz kursieren und wie schwer sie sich eindämmen lassen. Eine lange „Beweisführung“ scheint wohl einfach nicht zum Charakter der sozialen Medien zu passen, wo weder Platz noch Zeit für so etwas ist. Die Theorie wird hier zum Verschwörungsgerücht verkürzt. Viele beginnen mit der Frage: “cui bono”, also, wem nützt das? Danach werden atemberaubende Indizienketten rückwärts gesponnen. Ganze Forschungsprojekte, so Michael Butter, zeichnen die Wege nach, auf denen Verschwörungsideologien von einem Twitter-Account zum nächsten wandern, ganz ähnlich wie bei der Rekonstruktion einer Ansteckungskette. Widersprüche untereinander scheinen Menschen, die solche Ideen vertreten, allerdings eher selten zu irritieren. Wichtiger ist, dass die Geschichten der sogenannten „offiziellen“ Version der breiten Mitte entgegenstehen. Immer wieder werden neue Vorfälle in den vorhandenen Rahmen eingebettet, sodass er zur gesamten Verschwörungserzählung passt. Besonders eindrücklich ist auch das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2012, nach der die Wahrscheinlichkeit, an eine Verschwörungstheorie zu glauben, wenn man auch an andere Verschwörungstheorien glaubt, deutlich steigt. Wer demnach beispielsweise offen für Impffantasien ist, könnte sich potentiell auch von QAnon Gedanken inspiriert fühlen. Der gemeinsame Kern ist ein grundsätzliches Misstrauen, das sich stets gegen bestimmte Menschen oder Gruppen richtet. Ob Bill Gates, China, die “Wirtschaftseliten” – die Bestätigung eines Feindbildes machen sie besonders attraktiv. Denn es ist leichter, anzunehmen, dass eine bestimmte Gruppe hinter dem Übel der Welt steckt, als zu akzeptieren, dass auch grundlos Übel in der Welt existiert. Die Verschwörung schafft einen Sündenbock, der auch die Gläubigen selbst entlastet. Die Rollen sind klar verteilt. Zudem bringt ein Feindbild immer auch die Hoffnung mit sich, dass die “Bösen” eines Tages zu besiegen seien. 

Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie damit umgehen? Wie begegnet man Menschen, die an solche teilweise obskuren Verstrickungen glauben? Was, wenn sogar Freunde oder  Familienmitglieder sich für Verschwörungsideen öffnen? Und wir diese uns nahestehenden Personen nicht einfach ignorieren oder als “Spinner” abtun können und wollen. 

Es gibt eine Reihe empirischer Studien, die zeigen, dass solche Menschen noch fester an ihre vermeintlichen “Theorien” glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Die Konstruktionen sind, wie wir von Nietzsche wissen, wichtig für ihr Selbstbild. Gegenargumente bringen ihre Identität ins Wanken, weshalb sie Belege gegen die Verschwörung in Belege für sich selbst umwandeln. Aus diesem Grund sind Verschwörungsgeschichten auch so schwer zu widerlegen, weil jeder, der es versucht, sogleich in den Verdacht gerät, selbst Teil dieser Verschwörung zu sein. Mit Fakten allein kommt man da selten weiter. Weshalb Verschwörungsexperte Michael Butter stattdessen empfiehlt, lieber Fragen zu stellen. zum Beispiel nach der Glaubwürdigkeit der Quellen oder nach Widersprüchen. Zudem spricht er sich dafür aus, dass eher aufgeklärt, als nachträglich zensiert oder gelöscht werden sollte.  Sprich, dass wir sachlich darüber informieren, wie Verschwörungstheorien aufgebaut sind, wie sie argumentieren, welche Muster sich erkennen lassen. Auf der Website der Europäischen Kommission ist beispielsweise ein ausführlicher Leitfaden zu finden. Diesem zufolge sollte man sich die drei folgenden Fragen stellen, wenn man die Vermutung hat mit einer einer Verschwörung konfrontiert zu sein: Erstens, ist die “Theorie” widerlegbar? Zweitens, gibt es Argumente, die mich vom Gegenteil überzeugen würden? Drittens, stehen die Annahmen in grundsätzlicher Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Gesetzen? Lässt sich mindestens eine dieser Fragen mit „nein“ beantworten, ist man womöglich einer Verschwörung auf der Spur.  

Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch das Recht darauf, seine Meinung zu äußern und zu vertreten, und sei es eine Abwegige. Aber nicht jede Meinung muss millionenfach verbreitet und diskutiert werden. Und, wenn doch, dann sollten wir zumindest unsere Wortwahl beachten. Ein Herunterspielen, in die Lächerlichkeitziehen oder Anfeinden von Verschwörungsgläubigen zieht den Graben vermutlich nur noch breiter. Lässt diese Menschen gar noch mehr von ihren Ideen überzeugt sein. Weil sie ihnen einen gewissen Halt in ihrer Angst geben, den sie sich nicht so schnell nehmen lassen. Wer schon einmal versucht hat einen solchen Menschen von einer anderen Realität zu überzeugen, weiß wovon ich spreche. Es ist ein wenig zum Haare raufen. Jedes Argument, das man anbringt, scheint einem im Munde verkehrt zu werden und sich gegen einen selbst zu richten. Die Europäischen Kommission empfiehlt dennoch das offene Gespräch zu suchen und insbesondere detaillierte Fragen zu den vermeintlichen “Theorien” zu stellen, um eine Selbstreflexion anzuregen. Man solle behutsam vorgehen und eine Vielzahl von Quellen rund um das Thema nennen. Einfühlungsvermögen zeigen, auch, wenn es schwer fällt. Und keinen Druck ausüben. Dann kann es gelingen. Dass das Gegenüber die wild konstruierte Realität zugunsten der “allgemein anerkannten Wirklichkeit” aufgibt. Und nicht zuletzt kann es natürlich nicht nur ein individuelles Aufeinanderzugehen sein, sondern es sollte zugleich auch auf systemischer Ebene dafür gesorgt werden, dass Menschen gar nicht erst das Bedürfnis verspüren, sich in derlei Phantasien, die zum Teil Menschenleben und Demokratie gefährden, flüchten. Bereits Leo Löwenthal fragte sich damals, ob, wie er es ausdrückte, “die Verrückten eine Unvernunft in den Verhältnissen [spüren], die jene, die in der kapitalistischen Tretmühle gefangen sind, nicht spüren?” Natürlich heißt das nicht, dass jede Angst und Sorge rational begründbar ist – oft ist wohl eher der Gegenteil der Fall – und es rechtfertigt auch nicht das zum Teil menschenfeindliche Gedankengut einiger Anhänger:innen. Nichtsdestotrotz können und sollten die Ängste dieser Menschen nicht bloß abgetan werden, sondern können ein weiteres Argument dafür bieten, den Status quo immer wieder in Frage zu stellen. In welcher Gesellschaft wir aktuell leben und zukünftig leben wollen. Was Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit beispielsweise für uns bedeuten. Und, wie wir zu einem Miteinander beitragen können, das auf Mitgefühl und nicht auf Konkurrenz baut. Wie Nietzsche sagt, der Mensch ist ein “gewaltiges Baugenie”. Was auch bedeutet, dass er neue Realitäten erschaffen kann. Und im besten Fall sind das geteilte Narrative lebenswerter Zukünfte, in denen sich möglichst viele Menschen wiederfinden können.      


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn euch diese Episode gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Werbeeinbindungen und nur solche, die wir mit gutem Gewissen vertreten können, werden übrigens eine absolute Ausnahme im Podcast bleiben. Solange Sinneswandel allerdings finanziell noch nicht auf festen Beinen steht, hoffen wir auf euer Verständnis. Wenn ihr uns als Fördermitglieder unterstützen wollt, dann freuen wir uns natürlich. Ganz einfach geht das via Steady oder Paypal.me/sinneswandelpodcast. In den Shownotes ist wie immer alles verlinkt. Auch alle Quellen zum Nachlesen. Vielen Dank fürs Zuhören und bis ganz bald.

29. Oktober 2020
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