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Marilena

Marilena

Sebastian Vettel: Wo siehst du deine Zukunft?

von Marilena 24. November 2022

Motorsport und Nachhaltigkeit – passt das zusammen? Diese Frage hat sich auch Rennfahrer Sebastian Vettel zunehmend gestellt. Bis 2030 will die Formel 1 klimaneutral sein. Zu diesem Zeitpunkt wird Vettel bereits ausgestiegen sein. Denn am 20. November 2022 fuhr er sein vorerst letztes Rennen. Weshalb er seine Karriere in der Formel 1 beendet und wo er seine Zukunft sieht, darüber hat sich Marilena Berends mit dem viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel unterhalten.

Shownotes:

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► Sebastian Vettel
► F1 Sustainability Strategy
► IPCC Special Report Global Warming of 1.5 ºC
► Motorsport Week: Aramco deal worth more than $450m to Formula 1
► SPIEGEL: Börsengang von Saudi Aramco: Der wertvollste Klimasünder der Welt
► stern: Dicker als Blut: Wie die Öl-Industrie von Krisenzeiten profitiert 
► F1 Statement of Commitment to Respect for Human Rights
► Medium: An Alternative Calendar Could Cut F1’s Logistical Carbon Emissions by Almost Half

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Redaktionelle Unterstützung: Céline Weimar-Dittmar

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Schnelle Autos, röhrende Motoren, der Geruch von Benzin. Wer dieses Bild vor Augen hat, denkt vermutlich nicht gerade an Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das, was Motorsport-Fans so lieben, fordert einen hohen Preis: Rund 260.000 Tonnen CO2 hat die Formel-1 alleine in der Saison 2019 verursacht. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa 60.000 PKWs, die ein Jahr lang gefahren werden. Wobei in den Statistiken der Formel-1 nicht mal die Anreise der Fans erfasst wird. Und die werden, auch dank der Netflix-Serie „Drive to Survive“, immer zahlreicher.

Ehrlich gesagt, hat sich mir die Faszination für schnelle Autos, die im Kreis fahren, nie wirklich erschlossen. Ein bisschen besser verstehen konnte ich es allerdings, als ich Rennfahrer Sebastian Vettel kennengelernt habe. Der viermalige Weltmeister ist nicht nur einer der erfolgreichsten Rennfahrer der Formel-1, in den vergangenen Jahren hat er sich auch zunehmend kritisch gegenüber der Branche geäußert. Denn auch, wenn die Formel-1 2019 eine Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt hat, mit dem Ziel bis 2030 klimaneutral zu sein, werden nach wie vor wenige Schritte gegangen, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. 

Auch, wenn Sebastian und ich uns vor allem über seinen eigenen Sinneswandel unterhalten haben, ist diese Episode gleichzeitig ein Versuch, den Einfluss der Formel-1 und ihre Verantwortung im Hinblick auf Nachhaltigkeit zu beleuchten. Ebenso, wie die Chancen aufzuzeigen, die in einem Umdenken der Sportindustrie liegen. Denn Millionen von Fans eifern Menschen, wie Sebastian Vettel, nach. Was würde also passieren, wenn mehr Sportlerinnen und Sportler sich öffentlich äußern und Druck auf die Branche ausüben? Könnte damit ein Wandel beschleunigt werden?

Bevor wir in das Gespräch einsteigen, lasst mich noch eins vorweg sagen: Das Thema Nachhaltigkeit ist komplex. In einer Stunde lässt es sich nicht vollständig abbilden. Es gibt viele, um nicht zu sagen zu viele Aspekte im Hinblick auf den Motorsport, auf die näher eingegangen werden sollte und muss. Ich habe mich auch gefragt, ob ich das Gespräch so veröffentlichen kann und habe mich schließlich dafür entschieden. Denn es bietet vor allem einen persönlichen Einblick in ein Leben, das zunehmend von Widersprüchlichkeiten geprägt war. Und die gehören nun mal nachweislich zu unserer Welt dazu. Oder etwa nicht?


Marilena: Herzlich Willkommen Sebastian im Sinneswandel Podcast. Schön, dass wir heute hier sitzen und danke, dass ich bei dir zu Gast sein darf. Denn eigentlich muss man das ja so sagen.

Sebastian: Ja, danke, ich freue mich. Danke schön.

Marilena: Ich glaube, einige der Zuhörerinnen und Zuhörer des Podcasts fragen sich, weshalb jetzt ausgerechnet wir beide hier sitzen. Denn ein bekennender Formel-1-Fan bin ich nicht. Aber, dass wir uns heute hier unterhalten, hat eigentlich auch weniger mit Autorennen selbst zu tun, als vielmehr mit deinem eigenen Sinneswandel. Du hast nämlich am 28. Juli dieses Jahres das Ende deiner Karriere in der F1 verkündet. Deshalb würde mich zunächst interessieren: Wie ist es zu diesem Sinneswandel gekommen, dass dir das, was du lange Zeit getan hast und worüber man dich kennt, jetzt nicht mehr so gefällt?

Sebastian: Ich glaube, es ist weniger die Tatsache, dass es mir nicht mehr gefällt, sondern vielmehr die Tatsache, dass es eben andere Dinge gibt, die in meinem Leben gewachsen sind. Andere Interessen, wie meine Familie. Ich habe drei Kinder. Und ja, der Sport war mein Leben und hat meinen Rhythmus, meinen Tagesablauf bestimmt, solange ich mich erinnern kann. Und er hat ein festes Raster mit sich gebracht: Die Saison geht im Frühjahr los, Januar, Februar, mit den ersten Terminen, den ersten Tests. Dann folgen die ersten Rennen im März und dann geht es Schlag auf Schlag bis in den November, Ende November, Anfang Dezember, teilweise sogar bis kurz vor Weihnachten den letzten Termin. Und dann ist eigentlich Weihnachten, die freie Zeit, und dann hat man ein paar Wochen, wo mehr Ruhe ist und dann geht es wieder los. Ich musste mich in dem Sinn eigentlich nie kümmern und nie sorgen, wie das nächste Jahr aussieht, weil es irgendwie immer weiter ging. Und ich will nicht sagen, ich bin dem in den letzten Jahren entwachsen, ich glaube, das geht ein bisschen zu weit, aber ich glaube, es kommen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits bin ich Vater von drei Kindern.

Marilena: Da verändern sich die Prioritäten?

Sebastian: Ja. Und wenn dann das Alter irgendwo erreicht wird von den Kids, dass sie sagen: “Warum musst du gehen? Bleib doch hier!” Und der Abschied mir selber auch sehr schwer fällt, ich glaube, das bewegt einen einfach und macht was mit einem. Ich habe mir sehr viele Gedanken, auch mit Hilfe von außen, darüber gemacht, welcher Typ ich eigentlich bin. Was mich eigentlich so wirklich reizt und am meisten antreibt. Und dann ist es doch der sportliche Erfolg. Also sehr von außen in dem Sinne bestimmt. Und da die letzten Jahre nicht mehr so erfolgreich waren, war ich zwangsweise in einer neuen Situation, mit der ich mich auseinandersetzen musste. Aber ja, ich glaube, es gibt immer Höhen und Tiefen. So kamen dann ein paar Dinge zusammen. Und dazu das Bewusstsein, dass sich hier andere Interessen entwickelt haben.

Marilena: Zum Beispiel? Lernst du nicht Alphorn, oder so ähnlich?

Sebastian: Ja, okay, das ist jetzt vielleicht nicht die größte Priorität in meinem Leben, es geht auch sehr schleppend voran. Aber ja, ich sag mal, über den Sport hatte ich natürlich die Möglichkeit, sehr viele Dinge und Leute kennenzulernen und habe mich dann auch irgendwann mit dem Thema Ernährung auseinandergesetzt  Und so hat es mich in die Landwirtschaft getrieben: Wie werden Dinge angebaut und wie viel gibt man dem Boden zurück? Oder nimmt man eben nur das, was auch sehr viel Potenzial im Positiven haben kann, um den Klimawandel oder die Klimakrise zu bremsen oder aufzuhalten oder umzukehren. Und auch, wenn mein Zugang vielleicht nicht der Logischste war, über die Landwirtschaft, aber dann hängt ja so viel miteinander zusammen. Und so ist eigentlich in den letzten Jahren viel mehr Bewusstsein in mir gewachsen, dass ich Dinge, die ich vielleicht früher gesehen, aber nicht verstanden habe, jetzt verstehe und zusammenführen kann.

Marilena: Die Motorsportwelt ist ja nicht unbedingt eine, in der man zwangsläufig mit Themen, wie Umwelt oder Nachhaltigkeit konfrontiert wird. Eigentlich kann man sich, wenn man die Entscheidungen trifft, durchaus davon fernhalten, von genau solchen Fragen. Was war ein Moment in deinem Leben, es gab vermutlich nicht diesen einen Großen, gehe ich von aus, aber vielleicht mehrere, die dich bewusst haben werden lassen, dass du vielleicht nicht mit allem d’accord gehst?

Sebastian: Ich glaube nicht, dass es nur einen Zugang in dem Sinne gab, sondern eher, dass sich dann auf einmal eine ganze Welt erschlossen hat. Und ich habe dem mehr Raum gegeben. Vor jetzt zwei Jahren, zur Corona Zeit, als die Pause war, habe ich auch ein kleines und Praktikum auf dem Bauernhof gemacht, um das ein bisschen zu vertiefen. Und ich glaube, vor allem das Thema Zukunft, als Vater beschäftigt einen das natürlich, weil man ja möchte, dass die Kinder es genauso gut haben wie man selbst. Dass die Welt, die sie vorfinden, genauso blüht, genauso grün ist, genauso schön ist und sicher ist. Und ja, so hat sich immer mehr ein Bild vor mir aufgetan und wurde immer größer. Und ich muss auch sagen, es wurde dann teilweise so groß, dass es mich erdrückt hat.

Marilena: Welches Bild?

Sebastian: Das Bild von der Zukunft. Wie die Zukunft aussieht, wo die Reise vielleicht in Zukunft hingehen könnte, für uns alle, wenn wir nicht alle unser Bestes geben. In dem Sinne, das in die richtigen Bahnen zu lenken.

Marilena: Wenn man eine Leidenschaft, beziehungsweise bei dir einen Beruf ausübt, der dazu beiträgt, dass sich das Problem verschärft, dann löst das ja auch ein Gefühl von Inkongruenz aus oder vielleicht sogar von Schuld aus, was du vielleicht auch nicht mehr ertragen konntest?

Sebastian: Natürlich. Ich meine, es wurde mir dann immer mehr bewusst. Man landet ja sehr schnell bei sich selbst oder eigentlich als erstes bei sich selbst, das zu hinterfragen. Und das war das erste Mal überhaupt, dass ich das in Frage gestellt habe. ich meine, mir war klar, dass ich vorher keine Menschenleben gerettet habe und immer noch nicht rette damit. Aber meiner Leidenschaft bin ich mein Leben lang nachgegangen. Aber das dann mehr oder kritischer zu hinterfragen, natürlich mit den Dingen, die mir dann klar geworden sind, was die Zukunft angeht und auch die Ängste, die damit zusammen verbunden waren und sind, zu hinterfragen: “Was mache ich eigentlich, wie bewege ich mich fort, was kann ich eigentlich besser machen?” Okay, das Fahren in dem Sinne kann ich nicht verändern. Ich kann nicht das Reglement umschreiben, aber ich kann die Dinge kontrollieren, die in meinen Händen liegen. Wie ich anreise, und so weiter. Aber dann wurde mir auch klar, dass ich einen Unterschied machen kann, aber das große Ganze gar nicht so im Griff hatte. Dann bin ich sehr schnell bei der Frage gelandet: “Ist das noch in Ordnung? Sollte ich das noch weitermachen?” Und teilweise hat mich das sehr beschäftigt, teilweise sehr fertig gemacht, sodass ich nicht schlafen konnte. Was glaube ich, normal ist, wenn man sich so fragt: “Sollte ich noch hier sein? Macht das noch einen Sinn? Macht mir das noch Spaß?”

Marilena: Du hast dich ja auch immer wieder kritisch geäußert. Und, dass die Medien das dann abbilden, um dich kreisen, das veröffentlichen, das hat ja auch dazu geführt, dass Menschen sich eine sehr starke Meinung darüber bilden, ob das jetzt richtig oder falsch ist, dass du solche Aussagen triffst. Als Person, die diesen diesen Sport betreibt, der nicht gerade dafür bekannt ist, Menschenrechte zu fördern, zum Beispiel LGBTIQ, Rechte oder eben besonders nachhaltig zu sein. Heuchelei wurde dir in den Medien vorgeworfen. Wie siehst du das?

Sebastian: Ist es ja auch, zu einem Teil. Ich meine, es ist ja genau der Konflikt, den ich auch im Kopf in gewisser Weise mit mir rumgetragen habe, gerade, was das Thema angeht. Ich glaube, um das Thema Menschenrechte weniger, dass ich selber gedacht habe, dass von mir gedacht wird, dass das nicht zusammenpasst. Ich glaube schon, dass ich in der Hinsicht eine gesunde Einstellung dazu habe, wie man mit Leuten umgeht.

Marilena: Trotzdem bist du ja Teil eines Systems.

Sebastian: Absolut. Aber ich meine ganz individuell. Aber die andere Seite ist eben, wenn man sieht, was die Gefahren in Zukunft angeht und wo die Reise hingehen könnte für uns alle und wie viel von der jetzigen Welt aufs Spiel gesetzt werden kann oder wird. Ja klar, es ist ja auch gerechtfertigt, wenn die Leute mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: “Wieso sollte man ihm glauben? Gerade er, aus der Welt, verbläst Ressourcen zum Spaß haben oder um Leute zu unterhalten.” Und das stimmt auch. Am liebsten wäre es mir, wenn es nicht so wäre, dann müsste ich das nicht mit mir herumtragen. Denn ich glaube, der Tag, an dem mir das klar geworden ist, war nicht der fröhlichste Tag im Kalender. Im Gegenteil. Aber da ich ein Optimist bin und sehr lösungsorientiert bin, habe ich mir direkt die Frage gestellt: Was kann ich tun? Alles kann ich nicht kontrollieren. Ich kann nicht das Reglement ändern. Ich kann nicht sagen, die Formel 1 findet nur noch auf einer Rennstrecke statt, damit niemand mehr reisen muss. Das nimmt natürlich auch den Reiz. Dann ist auch die Frage, gewisse Dinge lassen sich optimieren, aber gänzlich verbieten oder wegnehmen kann man sie auch nicht. Man kann nicht von einer Weltmeisterschaft sprechen, wenn sie nur an einem Ort ausgetragen wird.

Marilena: Gleichzeitig kannst du aber Druck ausüben.

Sebastian: Das hat sich eigentlich eher ergeben, dass Leute mich nach meiner Meinung gefragt haben. Vielleicht habe ich mich früher einfach enthalten oder sie nicht in der Tiefe beantwortet. Aber ich finde das sehr spannend. Die Leute von außen haben ein Bild von mir und man “kennt mich”, aber so wirklich kennen, tun die Leute mich nicht. Und das ist auch bewusst so, weil ich eben immer eine gewisse Schutzwand um mich herum aufgebaut oder aufrecht stehen habe lassen. Gerade zum Schutz meines Privatlebens und damit meiner Frau und vor allem meinen Kindern. Natürlich werde ich hier oder da erkannt, aber ich mache alles, worauf ich Lust habe. Also, dieses was Besonderes sein oder speziell sein oder berühmt sein wollen, ich weiß ich nicht warum manche Leute da total drauf abfahren. Mich hat das noch nie getriggert. 

Marilena: Rennfahrer sein ist ein großer Teil deiner Identität bis heute und wird es vermutlich auch bis zu einem gewissen Grad bleiben. Aber hast du manchmal auch Angst davor, vielleicht sogar in ein Loch zu fallen, wenn jetzt die Formel eins Karriere beendet ist? Oder siehst du es primär als große Chance, dich neu zu entdecken oder wiederzuentdecken?

Sebastian: Wenn ich ganz ehrlich bin, beides. Und weil ich eben so viel darüber nachgedacht habe, bis ich gemerkt habe, es gibt jetzt mehr Gründe für mich aufzuhören oder einen Strich zu ziehen und Neues zu entdecken. Aber natürlich habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht oder Angst davor, was ist, wenn ich in diesem neuen Leben nicht klarkomme, wenn ich scheitere. Auch wenn ich sehr interessiert bin und neugierig und viele Fragen stelle und mich für viele Dinge begeistern kann und zu Hause mit den Kindern immer was los ist. Eigentlich hat sich viel angehäuft. Trotzdem stellt man sich die Frage: Ist das wirklich ausreichend? Erfüllt mich das? Werde ich damit glücklich oder sehne ich mich dann zurück? Und komme ich dann zu dem Punkt, dass ich sage, ich habe einen Fehler gemacht, aufzuhören? Letzten Endes bin ich an dem Punkt gelandet, dass ich die Antwort darauf nicht finden kann. Nur der Mut ins neue Leben wird mir zeigen, ob die Entscheidung in dem Sinne auch richtig war. Aber ich glaube, das ist auch ganz normal. Ich denke, es ist auch ein Zeichen dafür, dass ich das sehr liebe. Es ist ja nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben lang das gemacht, was ich jetzt zutiefst bereue. Ganz im Gegenteil.

Marilena: Eigentlich muss man ja sagen, dass euer Beruf nicht unbedingt auf den vorderen Plätzen steht, die besonders zukunftsfähig sind. Und ihr wollt ihn ja eigentlich erhalten. Könnten sich Rennfahrer innen nicht noch mehr solidarisieren?

Sebastian: Ich glaube, das könnten wir. Und ich denke, das wäre sehr gut. In der Formel 1 ist die Gemeinschaft teilweise gut, teilweise nicht so gut. Und zwar aus dem Grund, dass doch jeder sehr isoliert in seiner Mannschaft, in seinem Team ist, ein bisschen abgekapselt. Wir haben nicht viele Berührungspunkte. Außer am Wochenende auf der Strecke vielleicht, aber sonst wenig Zeit, die wir in dem Sinne zur Verfügung haben oder miteinander verbringen. Ich will nicht unfair sein, aber es kommt natürlich auch darauf an, wie weit man sich davon berühren lässt, von dem, was in der Welt passiert. Ob das jetzt Ungerechtigkeit sein mag oder die Klimakrise, die Zukunft. Ich will den anderen nicht zu nahe treten, aber ich glaube, man findet ein sehr gutes, ohne sich groß zu kümmern, was links und rechts passiert.

Marilena: Hat das auch  mit dem Druck zu tun, der auf den Rennfahrern liegt? Mit dem Bild, das die Rennfahrer glauben erfüllen zu müssen?

Sebastian: Das Bild erfüllen, vielleicht einerseits, aber ich glaube vielmehr, man rutscht da einfach rein. Ich meine, man ist das ganze Jahr unterwegs, man reist sehr viel. Man möchte ja auch erfolgreich sein. Und was steckt hinter dem Erfolg? Das ist sehr viel mehr, als sich vielleicht zweimal im Jahr aufs Rad zu setzen und dann zu sagen: “Jetzt geht’s zur Tour de France, weil Radfahren macht mir Spaß!” Es wird ja alles akribisch geplant und da steckt eben viel mehr dahinter. Und ich glaube, dass wir in der Hinsicht jetzt nicht am körperlichen Limit operieren müssen, um sportlich unsere Leistung zu bringen. Ich weiß es ist ein sehr komfortables Leben in dem Sinne. Und dann kommt eins zum anderen. Und wenn man die Dinge nicht so an sich heranlässt, weil man zu sehr im Tunnel ist – vielleicht war ich das auch selber früher und habe das nicht so wahrgenommen. Und dann gibt es auch nicht so viele Mitstreiter, die ähnlicher Meinung sind oder so weit gehen, dass sie sich selbst hinterfragen.

Marilena: Also die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann mal eine “Formel 1 For Future“ gibt, siehst du als nicht so groß?

Sebastian: Wer weiß. Ich glaube, es ist eine Frage des Bewusstseins. Ich meine, wir reden ja auch in unserer Gesellschaft darüber, dass Leute noch gar nicht so richtig verstehen, was überhaupt das Problem ist. Man redet zwar von von Dürre und Hitze, weil es gerade warm ist, aber ich glaube, dass das große, breite Verständnis, dass es da wirklich einen Zusammenhang gibt mit der Art und Weise, wie wir alle leben – gerade im Westen – dass es da viele gibt, die das noch nicht so nicht so verstanden haben. Und ich glaube, man muss dann nicht unbedingt nur mit dem Finger auf die Formel 1 zeigen und auch nicht nur auf den Sport, da gibt es auch Leute, die, ohne das zu werten, ein ganz gewöhnliches Leben haben und da noch weit weg von sind.


Sebastian hat in dem Punkt Recht, dass es noch immer viele Menschen gibt, die sich der Dringlichkeit der Klimakrise nicht ausreichend bewusst sind. Oder sich zumindest nicht  mitverantwortlich fühlen. Allerdings ist es ein Unterschied, wenn sich Menschen, wie Mohammed Ben Sulayem, Präsident der FIA, der Dachverband der Formel 1, vor dieser Verantwortung drücken. Das Ausmaß der Verantwortungslosigkeit, wenn man in einer Schlüsselposition des weltweiten Automobilsports sitzt, ist ein ganz anderes. Auch, wenn der Einfluss von uns als einzelnen Bürger*innen nicht zu unterschätzen ist, bedeutet es nicht, dass die Verantwortung gleichermaßen aufgeteilt ist. Wer Macht beansprucht, weil er in Machtpositionen sitzt, hat dieser Position gerecht zu werden. 


Sebastian: Also ich glaube, da gibt es noch sehr viel Potenzial. Und letzten Endes ist es wie in der Schulklasse, es ist ein Schnitt durch die Gesellschaft. Und so ist es bei uns in gewisser Weise auch. Es sind 20 verschiedene Fahrer, 20 verschiedene Typen.

Marilena: Allerdings haben sie eine sehr große Reichweite. Wenn man die 20 Formel 1 Rennfahrer, von denen, die Instagram haben – du hast es ja mittlerweile auch – die Follower zusammenzählt, dann kommt man auf 100 Millionen. Das ist ja schon ein ganzes Sümmchen. Und ich weiß nicht, ob der Durchschnitt der Menschen auf der Welt Millionen von Followern hat. Mir geht es gar nicht darum, das zu kritisieren. Mir geht es eher darum, dass darin ja auch eine Chance liegt. Das lässt sich nicht nur auf die Formel 1 beziehen, sondern auf den Sport generell, dass da ein großes Potenzial liegt. Also auch darum, wenn es darum geht, Vorbild zu sein. Sportler*innen sind für Menschen, Leute, denen sie nacheifern. Wie siehst du das? Könnte darin nicht ganz viel Potenzial liegen?

Sebastian: Natürlich ist die Reichweite sehr groß. Wir fahren fast überall auf der Welt, in vielen Ländern, und erreichen sehr viele Leute. Und damit ist auch die Chance riesengroß, auf Dinge aufmerksam zu machen, die wichtig sind. Die Chance ist auf jeden Fall da. Und mit so viel Reichweite, finde ich, ist auch extrem viel Verantwortung gebunden für unseren Sport. Aktuell verblasen wir Ressourcen. Ich bin der Meinung, das ist jetzt keine super futuristische Meinung, dass die Zukunft fossilfrei sein muss. Und dann ist die Frage, welche Rolle kann der Motorsport einnehmen, dass er nicht verschwindet, in den Hintergrund gedrängt wird, weil er keinen Platz mehr hat. Das wäre sehr schade, weil er mir am Herzen liegt. Im Gegenteil, ich bin eher der Meinung, man müsste vor der Welle sein und nicht nur reagieren auf ein bisschen Druck von außen. Sondern sich selber so hohe Ansprüche stellen, dass man alles dafür gibt und auch bereit ist, letzten Endes auf Umsatz oder Profit zu verzichten, um das in die richtigen Bahnen zu lenken. Was die Zukunft angeht, ich glaube, dass Elektromobilität kommt, kommen muss, ist keine Frage mehr. Dass es andere Lösungen geben wird, wie Wasserstoff, ist auch keine Frage. Dass es vielleicht noch irgendetwas anderes in Zukunft geben wird, das wir noch nicht kennen, dem sollten wir uns auch nicht verschließen. Dass wir so weitermachen wie bisher, das ist einfach nicht mehr drin, weil die Gefahren und die Risiken uns bekannt sind. Und dann hört das ja nicht nur bei uns auf. Der Anteil der Emissionen, die wir beim tatsächlichen Fahren oder Testen verursachen, sind sehr gering, im Verhältnis zu dem ganzen Zirkus.


Das stimmt allerdings! Lediglich 0,7 Prozent der gesamten CO2-Emissionen der Formel-1 lassen sich auf die Rennen selbst zurückführen. Dennoch setzt die Formel-1 in Punkto Nachhaltigkeit vor allem auf die Forschung und Entwicklung effizienter Verbrennungsmotoren und nachhaltiger Treibstoffe. Zwar wird es ohne technische Innovationen nicht möglich sein, Net Zero zu erreichen, mit neuer Technik allein, das haben Wissenschaftler*innen im letzten IPCC-Bericht wieder klar gemacht, wird es auch nicht gelingen.

Offen ist ja aber auch noch die Frage: Wenn der Löwenanteil der Emissionen nicht auf der Rennstrecke verursacht wird, wo dann? Das lässt sich leicht beantworten: Drei Viertel des CO2 entsteht durch die Logistik, also beim Transport etwa von Autos und Reifen. Denn zu den 22 Rennen, die in einer Saison und auf dem gesamten Erdball verteilt stattfinden, muss schließlich alles transportiert werden – natürlich auch die Fahrer und das Team. Deren Business-Trips machen weitere 27 Prozent der Emissionen aus. Der verbleibende CO2-Ausstoß lässt sich auf die benötigte Infrastruktur, wie Bürogebäude, aber natürlich auch die Organisation der Events zurückführen. Bei letzterem ist die Anreise der Fans übrigens nicht mit eingerechnet.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch, wenn die Formel-1 bereits einiges getan hat, um, sagen wir mal “grüner” zu werden, lässt sich bezweifeln, dass sie es mit den noch geplanten Schritten schaffen wird. Vor allem, wenn man die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und Konzernen bedenkt… 


Sebastian: Ich meine, es gibt natürlich das Problem, dass es unheimlich viel Energie benötigt, um synthetische Kraftstoffe herzustellen. Es ist nicht die effizienteste Form der Energieumwandlung oder -verwertung. Aber wir können nicht von heute auf morgen den Hahn abdrehen, das geht auch nicht. Es wäre zwar schön, aber das geht natürlich nicht, weil wir viel zu abhängig davon geworden sind. 

Marilena: Von Aramco meinst du?

Sebastian: Ohne jetzt den Namen zu nennen, aber ich sage mal, natürlich sind wir mit allem, was wir konsumieren, so wie wir leben – nicht nur die Leute, die Auto fahren und das noch zum Spaß, auch sonst – darauf angewiesen. Ich glaube, keine Industrie ist davon verschont. Aber trotzdem müssen wir natürlich alles dafür tun, dass wir die Brücke schaffen, hin zu der Zukunft, die wirklich den Kreislauf schließt. Und da sehe ich die Chance, dass die Formel eins sich vorne positionieren kann und nicht ständig nur hinterher rennt. 


Die spannende Frage ist natürlich: Kann die F1 überhaupt klimaneutral werden, wenn sie auch finanziell an fossile Energieträger, wie Aramco, gebunden ist? Der saudische Ölgigant, dessen Namen nicht genannt werden darf“ – zumindest von Sebastian. Denn Aramco ist nicht nur der drittgrößte börsennotierte Ölkonzern der Welt, sondern auch Titelsponsor von Aston Martin, dem Rennstall, dem auch Sebastian angehört. Also sein Arbeitgeber. Ein guter Deal für die Formel-1, der ihnen umgerechnet rund 535 Millionen Euro einbringt  Für das Klima allerdings kein gutes Geschäft, wenn man bedenkt, dass Aramco mit rund 60 Gigatonnen CO2, die es zwischen 1965 und 2017  in die Atmosphäre geblasen hat, für fast 4,4 Prozent aller nicht natürlichen Emissionen weltweit verantwortlich ist. Natürlich kündigte Aramco, wie eine Reihe anderer Ölkonzerne, 2021 an, sich zur Netto-Null bis 2050 zu verpflichten. Laut einer Analyse des Think Tanks Carbon Tracker reichen die Pläne aber bei weitem nicht aus. Denn eigentlich müsste Aramco, um “Netto-Null” zu erreichen,  die fossilen Rohstoffe in der Erde lassen. Und das entspricht natürlich nicht ihrem Geschäftsmodell. Daher besteht auch ein großer Teil der geplanten Maßnahmen zur CO2-Reduzierung im Kauf von CO2-Kompensationen, mit denen sich Aramco erhofft, freikaufen zu können.

Zwar kündigte Aston Martin an, durch die Partnerschaft mit dem Ölkonzern auch gemeinsam die Forschung nachhaltiger Treibstoffe voranzutreiben. Das allein dürfte jedoch keinesfalls die diversen Kritikpunkte aufwiegen, die sich noch nennen ließen. Wie zum Beispiel, dass Aramco, wie kein anderes Unternehmen weltweit, massiv von den globalen Folgen für den Energiemarkt des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine profitiert. Allerdings überrascht das wenig, wenn man sich der Menschenrechtslage im autoritär regierten Saudi-Arabien bewusst ist. Es gibt keine Wahlen, Opposition und Kritik werden schwer, zum Teil mit Todesurteilen, bestraft. Die Lage im Land hat die Formel 1 allerdings nicht davon abgehalten, Saudi-Arabien in den Kreis der Ausrichter Länder aufzunehmen. Und das, obwohl es von der Formel-1 eine Verpflichtungserklärung zur Achtung der Menschenrechte gibt. Auf Anfragen der Deutschen Welle, warum man in Saudi-Arabien dennoch Rennen abhält, gab die Formel-1 bislang keine Antwort.


Sebastian: Letzten Endes hängt es immer am Geld, dazu bereit zu sein, auf einen gewissen Teil des Profits zu verzichten und den dort reinzustecken, wo er zumindest nicht so schädlich oder nicht so einen großen Fußabdruck hinterlässt. Oder im Gegenteil, die Leute  auf diese Reise mitnehmen und sich selber kritisch hinterfragen und das, was, was passiert, versucht, besser zu machen.

Marilena: Ich würde sagen, eigentlich sind der Formel 1 die Hände gebunden, zumindest in dem Sinne kann sie sich gar nicht kritisch äußern oder zukunftsfähig aufstellen, weil sie von Sponsoren abhängig ist, die nicht besonders zukunftsfähig sind und das Problem verschärfen, wenn es um die Klimakrise unter anderem geht. Wäre es nicht auch eine Chance, nachhaltige Pionierunternehmen als Sponsoren zu gewinnen? Davon gibt es mittlerweile diverse.

Sebastian: Absolut. Aber der Grundsatz wäre eben: Geld ist nicht gleich gleich Geld. Sondern: Wo kommt das Geld her? Bzw. für was steht es? Ja, ich glaube, da ist noch ein Weg zu gehen. Und wie gesagt, von heute auf morgen lässt es sich nicht gänzlich ändern. Aber wir müssen. Wir hätten schon gestern anfangen sollen und dann sollten wir zumindest heute anfangen und spätestens morgen. Aber nicht auf übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr verschieben, sondern jetzt anfangen. Egal, ob klein oder groß. Natürlich machen die großen Schritte deutlich mehr Sinn, aber auch die “low hanging fruits“.

Marilena: Was sind das?

Sebastian: Zunächst wäre es, den Kalender sinnvoll zu gestalten. Also nicht ein Rennen mitten in der Saison, dann in Amerika oder in Kanada auszutragen, dass alles dorthin geschickt werden muss, wie die Autos.


Klar, das nachhaltigste Rennen ist das, was nicht stattfindet. Nichtsdestotrotz ist eine Umgestaltung des Rennkalenders nicht zu unterschätzen. In der Saison 2022 sah der nämlich wie folgt aus: Von Saudi Arabien aus, wo im März gefahren wird, geht es für die gesamte Formel 1 in das knapp 13.000km Luftlinie entfernte Australien. Danach geht es, ist doch ganz logisch, nach Italien. Das sind ja auch nur 16.000km mit dem Flugzeug. Und wer denkt, wir bleiben jetzt in Europa, der täuscht sich. Denn das nächste Rennen findet im Mai in Miami statt. Und erst danach geht es wieder zurück nach Europa, nämlich nach Spanien. So kommt man, bei 22 Rennen, ich habe das mal für euch ausgerechnet, auf etwas mehr als 121.000km Luftlinie, die zurückgelegt werden. Und wir erinnern uns, nicht nur die Fahrer müssen an die Orte transportiert werden, auch das ganze Material und die Teams. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass hier die meisten Emissionen entstehen. Und dementsprechend wären auch große Einsparungen möglich. Berechnungen zufolge könnte die Formel-1 ihre CO2-Emissionen aus der Logistik um bis zu 46 Prozent senken, wenn sie ihren bereits für 2023 geplanten Kalender dahingehend umgestalten würde, dass kürzere Strecken zurückgelegt werden. Der alternative Kalender würde damit den gesamten CO2-Fußabdruck der Formel-1 um mehr als 10 Prozent verringern. Noch nachhaltiger wäre es jedoch, würden die Organisatoren, statt wie geplant zwei weitere Rennen für die kommende Saison einzuplanen, sodass es nun 24 insgesamt sind, die Anzahl reduzieren. Aber weniger Rennen bedeutet natürlich auch weniger Einnahmen.


Sebastian: Den Kalender besser anzuordnen, macht total Sinn. Die Frage ist aber, ist der sinnvollste Kalender, was den Fußabdruck des Reisens und der Logistik angeht, auch der Kalender, der ja am meisten Geld generieren kann? Und da ist das Interesse im Moment noch klar bei dem meisten Geld gesetzt. Aber solche Dinge sind natürlich am sinnvollsten, die direkt anzugehen.

Marilena: Wie siehst du das denn, was den kulturellen Wandel angeht? Weil das spielt ja, wenn es um Nachhaltigkeit geht, auch eine Rolle. Zum Beispiel, wer in Führungspositionen sitzt. Der Präsident des Welt Automobil Verbandes (FIA), der hat zwar gesagt, dass er sich für die Zukunft einsetzen möchte und sich auch mehr Fahrer wünscht, die sich dafür einsetzen und das Engagement fördern möchte. Aber, wenn man gleichzeitig sieht, dass immer noch Rennen in Ländern gefahren werden, in denen Menschen, die z.B. nicht heterosexuell sind, der Todesstrafe ausgesetzt sind, dann wirkt das nicht wirklich integer. Was denkst du, was für eine Chance liegt in einem kulturellen Wandel? Wenn Führungspositionen anders besetzt werden, zum Beispiel diverser aufgestellt sind, wenn dort ein Sinneswandel stattfinden würde?

Sebastian: Die Formel 1 hat natürlich eine sehr große Wirkung nach außen. Das heißt, sie erreicht sehr viele Leute. Und wenn bei uns zu sehen ist, dass wir diverse aufgestellt sind, dann hätte das eine sehr große Strahlkraft nach außen. An den Punkt glaube ich, bis es so weit kommt, das sehe ich ein bisschen komplizierter. In dem Sinne, dass – so habe ich das in meiner Zeit zum größten Teil erlebt – nach Talent gesourced wird. Und wie Talent überhaupt erkannt wird, das ist, glaube ich, der Schlüssel. Dass wirklich auch jeder, egal wo er herkommt und egal wie er aussieht und egal wen er liebt, die gleichen Chancen bekommt. Wir wissen, dass noch nicht so weit ist, dass es da noch viel zu tun gibt.

Marilena: Hast du denn den Eindruck, dass die Formel 1 sich dem Druck bewusst ist, der wahrscheinlich auch noch größer wird, der von außen kommt, der sich einen Wandel wünscht?

Sebastian: Ich glaube, der Druck ist noch nicht groß genug.  Im Moment kommt man noch damit, ein bisschen was in eine Kampagne zu stecken, ein bisschen was zu tun und ein bisschen was zu sagen, ohne sich groß dafür erklären zu müssen. Oder noch besser, ohne mit Konsequenzen leben zu müssen. Wenn die Formel 1 sich auf den Deckel schreibt, “klimaneutral bis 2030”, dann finde ich das ein tolles Ziel. Natürlich wäre es mir lieber, wenn das schon nächstes Jahr wäre. Aber natürlich ist es auch so, dass in 2030 die Rennen international ausgetragen werden, dass 2030 das ganze Material und die Autos verschifft werden, dass die Leute hinterher reisen. Es wäre toll, wenn wir bis dahin solch ein System hätten, das alle Kreisläufe schließt. Ich glaube, dass dies nicht der Fall sein wird, leider. Dann ist die Frage, wie komme ich dann trotzdem auf Net Zero? Und dann bin ich eigentlich sehr schnell bei den Systemen, sich freizukaufen oder mir Zertifikate ausstellen zu lassen, dass ich das Klima unterstützende Projekte investiere. Da ist aber die Frage, wer kontrolliert wen? 

Marilena: Apropos Kontrolle, weil wir uns ja gemeinsam diesen Nachhaltigkeitsreport der Formel1 angeschaut haben. Der sieht ziemlich beeindruckend aus. Aber ich glaube, eine der größten Gefahren besteht darin, tatsächlich gar nicht zu kontrollieren und sich darauf auszuruhen. Vielleicht auch zu sagen, die Formel 1 macht das schon. Und ich glaube, weil du meintest, der Druck sei noch nicht groß genug, dass es noch mehr Druck von außen braucht. Vor allem von Menschen, die diese Leidenschaft teilen, die diesen Sport gut finden. Aber gleichzeitig merken, da ist noch nicht genug Besorgnis, da ist noch nicht genug Wille, Vorreiter zu werden oder überhaupt erst mal aufzuholen. Wird man dich jetzt, um vielleicht langsam den Bogen zu schließen und wieder zu dir zurückzukommen, wird man dich jetzt an der Rennstrecke mit Plakaten sehen? Ganz vorne bei Fridays For Future? Oder wirst du die Formel 1 erst mal ganz zurücklassen und dich komplett auf andere Dinge konzentrieren? Oder wirst du weiterhin Druck ausüben?

Sebastian: Im Moment weiß ich nicht, was die genaue Antwort ist oder wie ich es genau ausdrücken soll, weil ich noch keinen konkreten Plan habe. Aber ich glaube, dass ich die letzten Jahre schon sehr viel Spaß daran hatte, mich einzubringen, meine Meinung zu äußern, wenn ich das Gefühl hatte, dass es hilft, bzw., dass es sinnvolle Dinge sind, zu denen ich Stellung nehme. Und ich kann mir schon vorstellen , in Zukunft da weiter anzusetzen. Ich bin mir des Glückes, in dem ich irgendwie groß geworden bin und der Möglichkeiten, die ich habe, bewusst. Und möchte das auch so weit nutzen, die Reichweite oder die Möglichkeiten, dass ich Leuten helfen kann. Vielleicht sind es manchmal ganz kleine Dinge, vielleicht sind es größere Dinge, um das Licht auf die Formel 1 zu werfen. Ich glaube, die Chancen sind riesig, weil die Formel 1 so viele Leute erreicht. Und ich glaube, dass die Formel 1 mehr tun kann. Die Frage ist, wie weit man bereit ist, auf ganz hoher Ebene, sprich Investoren oder den Leuten, denen die Formel 1 gehört, dass die sagen: Wir sind wirklich davon überzeugt und sehen, dass dort, auch was das Geschäft angeht, ein Riesenpotenzial liegt. Dass die sagen, wir sind die ersten, die einen besseren oder neuen Weg einschlagen, um dann auch die ersten zu sein, die davon profitieren. Um das bestehende System, das ja herrscht, von dem man den Eindruck hat, das wird bis in den Sonnenuntergang geritten und bis die Sonne untergegangen ist, so umzumünzen, dass man es durchaus zum Positiven drehen kann. Ich glaube, es wäre schön, wenn sich das System ändern würde über Nacht. Aber das ist, glaube ich, zu schwer, weil es den Konsens von allen braucht. Und das ist sehr, sehr schwierig zu erreichen.

Marilena: Das System Kapitalismus?

Sebastian: Ja, das im erweiterten Sinne. Und im kleinen Sinne, glaube ich, funktioniert die Formel 1 genauso. Das sie eben ein großes Geschäft und natürlich Profit gesteuert. Und man kann sich das auch alles herleiten, warum das so ist. Es ist das System, das wir haben. Aber die Frage ist: Ist es das sinnvollste und das gesündeste? Bzw. macht es so viel Sinn, wenn es um die Zukunft geht? Auch wenn die zwei Themen vielleicht heute so weit voneinander weg sind, wie sie nur sein können, und das erste, woran man denkt, wenn man mich darüber sprechen hört, dass mir die Zukunft und unsere Welt nahe liegt, ist wohl: “Er hat gut reden! Was macht er denn den ganzen Tag?” Vielleicht ist das auch gerade das Interessante, aber vielleicht ist das auch unsere Chance als Motorsport oder als Formel 1 damit voran zu fahren und nicht hinterher zu rennen.

Marilena: Wenn man viel im Leben gesehen und erlebt hat, dann ist es wahrscheinlich leichter, die Entscheidung zu treffen, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Und es ist leichter, sich die Zeit für Dinge zu nehmen, sich dafür einzusetzen. Auf der anderen Seite ist es, finde ich, gerade in unserer Gesellschaft nicht so einfach Fehler einzugestehen oder auch allein schon die Meinung zu ändern. Zu sagen, ich habe das lange Zeit das Problem nicht gesehen, war mir dessen nicht bewusst oder wollte es vielleicht auch so gar nicht sehen. Und dann öffentlich dazu Stellung zu beziehen und sagen: Ich sehe das jetzt anders. Das ist ja auch nichts, was bei uns, finde ich, in der Gesellschaft ganz selbstverständlich ist?!

Sebastian: Ja, absolut. Ich glaube, die Vorbilder sind ganz wichtig, Vorbilder zu haben. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Aber was man natürlich macht, ist, man stellt die Vorbilder dann imaginär auf ein Podest. Aber niemand ist perfekt und auch die Vorbilder machen Fehler. Das ist gar nichts Schlimmes, sondern ist, auch aus eigener Erfahrung im Sportlichen, einfach das Leben. Oftmals sind es Fehler, die einen weitergebracht haben. Oder die Dinge, wenn man Mist gebaut hat oder wenn man falsche Entscheidungen getroffen hat. Und das dann wieder geradezubiegen oder da rauszukommen aus dem Loch, ist es, was einen viel mehr prägt, als wenn es läuft. Wenn man in so einem Tunnel ist und im Flow, in diesem Zustand, dass einfach alles zu gelingen scheint. Man muss, glaube ich, nur den Mut haben, sich zu drehen oder woanders hin zu blicken und die nächste Tür aufzumachen. Und das ist manchmal einfacher und manchmal passiert das ganz automatisch und manchmal ist es auch schwieriger. Aber die Vorbilder müssen auch den Mut haben, statt nur das Perfekte zu zeigen, auch die ganzen kleinen Sachen zu zeigen. Oder auch die zu erwähnen, die nicht perfekt sind. Die ganzen Talfahrten. Auch wenn man sportlichen Erfolg hat, heißt das nicht, dass man glücklich ist. Auch wenn man erfolgreich ist oder viel Geld verdient, heißt das nicht, dass man automatisch glücklich ist.

Marilena: Ich sehe schon den neuen Podcast von Sebastian Vettel mit den Vorbildern, die von ihren Fehlern im Leben berichten – “Failing at Life” mit Sebastian Vettel.

Sebastian: Ich finde das sehr spannend, weil die Leute, die ich getroffen habe, sind weit weg von perfekt. Und man hat von außen immer die Vorstellung gehabt, sie seien so perfekt. Und alles ist so einfach. Die Leute sehen unheimlich gut aus oder haben alle Rennen gewonnen. Und dann merkt man aber doch sehr schnell, dass manche Dinge dann nicht so gut passen oder sie haben große Probleme in anderer Hinsicht. So einfach ist das Leben eben einfach nicht.

Marilena: In deinem Abschieds-Video sagst du: “Mein bestes Rennen liegt noch vor mir.” Worauf freust du dich am meisten, wenn die Saison beendet ist? Was wirst du auch als Erstes nicht tun?

Sebastian: So habe ich das noch nicht gesehen, dass ich mich auf etwas freue, nicht mehr zu tun. Wenn ich das beantworte, dann ist es das Reisen, dieses ins Flugzeug zu steigen und wegfliegen zu müssen. Das wird mir wahrscheinlich nicht fehlen. Sonst ist es eher darauf bezogen, worauf ich mich freue, auch wenn man nicht weiß, was es ist. Und ich fände es schade, wenn ich mit 35 in meinem Leben stehe und sage: Die schönste Zeit meines Lebens ist vorüber. Wenn es mir gut geht und ich gesund bleibe, dann habe ich ja vielleicht noch 35 Jahre oder mehr Jahre mit hoffentlich guter Qualität vor mir. Wie schade wäre es zu sagen, diese 35 Jahre kommen nicht an die letzten 35 Jahre heran. Das heißt nicht, dass ich noch fünfmal Weltmeister werde, in den nächsten 35 Jahren in der Formel 1. Es gibt so viele Dinge, die mir so viel bedeuten können. Ob sie dann die gleiche Strahlkraft nach außen haben? Wahrscheinlich nicht. Dass ich morgen was finde, in dem ich genauso gut bin wie im Motorsport oder als Rennfahrer? Wahrscheinlich nicht. Worauf ich mich am meisten freue, ist erst mal einfach Zeit zu haben, für zu Hause. Für die ganzen Dinge, die Bücher, die liegengeblieben sind, die Dinge, die zu Hause sich alle angestaut haben, einfach Zeit mit den Kindern zu verbringen. Dass das aber auch nicht meine zentrale Aufgabe sein wird und sein kann, ist mir klar. Es ist nicht so, dass ich sage: Jetzt bin ich Helikopter-Vater und jeden Tag kreise ich um die Kinder. Im Gegenteil, ich möchte, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen und auf eigenen Füßen stehen und ihre Fehler machen können. Und hoffentlich sich trauen, darüber zu sprechen, weil wir das so vorleben. Ich finde es sehr spannend, neue Dinge auszuprobieren. Wie zum Beispiel das Alphorn. Mein Talent scheint doch eher begrenzt, aber es macht Spaß, es auszuprobieren und mich zu entdecken. Ich wünsche mir den Mut, dem nachzugehen, egal was es sein mag und egal, was andere Leute davon halten oder darüber denken.

Marilena: In Anbetracht dessen, dass dir Zeit sehr wertvoll ist, zu Recht, danke, dass du dir die Zeit für uns und für dieses Gespräch genommen hast. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.

Sebastian: Danke dir. Danke.


Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch gefallen hat, teilt es gerne. Außerdem freue ich mich, wenn ihr Sinneswandel und damit meine Arbeit finanziell unterstützen wollt und könnt. Das geht ganz einfach auf Steady oder via Paypal.me/Sinneswandelpodcast. Das steht aber auch alles noch mal in den Shownotes. Da findet ihr auch alle Infos und Quellen zur Folge. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

24. November 2022

Cesy Leonard: Warum bist du [so] radikal?

von Marilena 17. November 2022

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Was hilft daher, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Selbstwirksamkeit, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard. Sie hat “Radikale Töchter” gegründet, mit denen sie Workshops gibt, in denen der “Mutmuskel” trainiert wird. Denn den braucht es, so Cesy, um (politisch) aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Wie genau das geht, darüber spricht Cesy Leonard mit Marilena Berends im Sinneswandel Podcast.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Cesy Leonard findet ihr auch auf Twitter.
► Radikale Töchter sind auch auf Twitter und Instagram.
► Podcast der Radikalen Töchter: “Mut für Anfänger”.
► Zentrum für Politische Schönheit

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► sinneswandel.art

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Ob Klimakrise, Ukraine-Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Massentierhaltung oder Patriarchat – es gibt genug, um nicht zu sagen unzählige Gründe, auf die Straße zu gehen. Oder zumindest Grund genug, um wütend zu sein. Weil diese Welt alles andere als gerecht ist. Weil sie längst nicht allen von uns ein sicheres und lebenswertes Zuhause bietet. Aber was kann ich dagegen oder vielmehr dafür tun, damit sich das ändert?

Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich angeblich ohnmächtig, angesichts der Vielzahl von Krisen. Wer hat sich nicht schon einmal klein und machtlos gefühlt, weil alles so überwältigend und vielleicht sogar beängstigend wirkt? Das ist verständlich und wohl auch menschlich. Aber was hilft, um aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen? Den Kopf in den Sand stecken oder die Füße hochlegen und alle Verantwortung an “die da oben” abgeben, mag naheliegend sein, hilft aber nachweislich wenig. Aber was dann?

Mut, sagt Aktionskünstlerin Cesy Leonard, braucht es. Okay, aber wo soll der plötzlich herkommen? Der lässt sich trainieren, wie ein Muskel, so Cesy. Wie das funktioniert, zeigt die Aktionskünstlerin in Mutmuskel-Workshops mit den “Radikalen Töchtern”. Ein Projekt, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst aufgehoben werden und Möglichkeitsräume sichtbar werden, wo sie scheinbar nicht mehr sind. Denn wer Selbstwirksamkeit verspürt, fühlt sich im besten Fall auch ermutigt, ins Handeln zu kommen und wird politisch aktiv. Aber wo fange ich da an? Ganz einfach, sagt Cesy, bei dem, was einen besonders wütend macht. Wieso, das hat Cesy Leonard mir im Podcast erzählt.

…

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Cesy gefallen hat, teilt es gerne. Wenn ihr mehr erfahren wollt, findet ihr in den Shownotes alles zu den “Radikalen Töchtern”. Und, wie immer, auch alles Infos, wie ihr Sinneswandel und damit auch meine Arbeit finanziell unterstützen könnt. Das würde mir helfen und mich sehr freuen. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

17. November 2022

Pheline Roggan: [Wie] geht Grünes Drehen?

von Marilena 10. November 2022

Film ist Unterhaltung. Aber nicht nur. Jeder Film(-dreh) verbraucht CO2-Emissionen. In der Produktion und natürlich auch beim Streamen. Und zwar nicht gerade wenig. Wenn die Filmindustrie zukunftsfähig werden will, muss sie sich also wandeln. Und das tut sie bereits! Wo und wie genau, darüber habe ich mit Schauspielerin und Changemakers.Film-Gründerin Pheline Roggan (Jerks) gesprochen.

Shownotes:

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► Pheline Roggan auf Instagram
► Changemakers.Film
► Arbeitskreis Green Shooting
► Bundesregierung: “Mehr Nachhaltigkeit in der Filmwirtschaft”.
► Green-Shooting-Ergebnisbericht: Tatort “Fünf Minuten Himmel”.
► BAFTA (2012): albert year one report – “carbon footprinting the TV industry”
►Southern California Environmental Report Car (2006).
►Studie „Shift Project“ (2019): “The unsustainable use of online video” 
►Studie Umweltbundesamt (2020): “Video-Streaming: Art der Datenübertragung entscheidend für Klimabilanz”
►ARD PlanetB (2021): “Netflix: Zerstört Streaming das Klima?”

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Der Tatort, für viele Deutsche ein allsonntägliches Ritual. Ein bisschen Spannung oder auch Entspannung, bevor der Montag vor der Tür steht. Ich gebe zu, ich gehöre auch – rein aus Routine versteht sich – zu diesen Menschen, die Sonntags pünktlich um 20:15 Uhr auf der Couch sitzen. Endlich muss ich mich mal nicht entscheiden, welchen Film ich heute Abend streamen will. Herrlich, einfach den Kopf abschalten, die Verantwortung abgeben. 

Aber Moment mal, vielleicht nicht ganz! Denn wusstet ihr, dass eine Tatort-Produktion durchschnittlich rund 100 Tonnen CO2 freisetzt?! Zum Vergleich, das sind ca. 300 Quadratmeter arktisches Eis, das schmilzt. Oder auch die Menge CO2, die rund 15 Deutsche pro Jahr erzeugen. Gar nicht mal so wenig. Noch krasser wird es sogar, wenn wir nach Hollywood schauen: Eine Blockbuster Produktion kommt da schon mal auf knapp 10.000 Tonnen CO2. Das ist sogar weitaus mehr, als 1.000 Haushalte in Deutschland pro Jahr verbrauchen. Und wenn ihr jetzt denkt: Tja, dann muss sich die Filmindustrie eben ändern!, dann habt ihr natürlich Recht. Aber wir, als Publikum, sind natürlich auch nicht aus dem Schneider, wenn man bedenkt, dass allein eine Stunde Streaming so viele Emissionen verursacht, wie eine Autofahrt von rund 12 Kilometern.

Ja, Film ist Unterhaltung. Film ist aber eben auch ein “Klimakiller”. Film ist aber auch Kunst. Film ist Protest. Und Film kann auch anders – wenn er will. Und das tut er. Oder vielmehr sie.

Schauspielerin Pheline Roggan, ihr kennt sie bestimmt aus der Serie “Jerks”, ist eine von ihnen. Eine, die keine Lust mehr hat, die Dinge nur deshalb so zu machen, weil man sie schon immer so gemacht hat. Denn es geht schließlich auch anders. Deshalb hat sie mit Kolleg*innen die Initiative Changemakers.Film für “Grünes Drehen” gestartet, um im wahrsten Sinne des Wortes frischen Wind in die Branche zu bringen. Denn allein durch die Nutzung von Ökostrom lassen sich auf einen Schlag bis zu 90% CO2 einsparen.

Es klingt erstmal alles so einfach oder zumindest ganz logisch, wie jetzt die nächsten Schritte hin zum “Grünen Drehen” aussehen müssten. Aber ganz so einfach ist es dann doch meistens nicht. Wandel braucht Zeit. Zeit, die wir eigentlich nicht haben. Warum es sich aber dennoch lohnt, für einen Wandel zu kämpfen, darüber habe ich mich mit Pheline Roggan unterhalten. Hört selbst!

…

Vielen Dank auch an euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Pheline gefallen hat, teilt es gerne. Außerdem freue ich mich, wenn ihr Sinneswandel und damit meine Arbeit finanziell unterstützen wollt und könnt. Dann kann ich auch eher auf Werbung verzichten. Das geht ganz einfach auf Steady oder via Paypal.me/Sinneswandelpodcast. Das steht aber auch alles noch mal in den Shownotes. Da findet ihr auch alle Infos und Quellen zur Folge. Das war’s von mir! Danke und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

10. November 2022

Markus Gabriel: [Why] are we animals? [live]

von Marilena 3. November 2022

„What is to be human?“, this question Kant already asked himself hundreds of years ago. And exactly this question, the philosopher Markus Gabriel raises again in his new book, “Der Mensch als Tier” (“The Human animal – Why we still do not fit into nature”). Because it is on this question, or rather its answer, that our life depends on. Why, the author explains in this podcast episode, which was recorded  on the 26th of October 2022 during a live event at THE NEW INSTITUTE in Hamburg.

Shownotes:

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► Markus Gabriel: “Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen”. Ullstein 10.22.
► THE NEW INSTITUTE Hamburg.

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Transkript:

Hello and welcome to the Sinneswandel Podcast. My name is Marilena Berends and I’m happy that you decided to listen to today’s episode.

Some of you are probably already wondering: Why all of a sudden in English? First of all, this is an exception. The reason is that today’s episode was recorded during an event with international guests – a live podcast sort of thing. And my guest at this event was none other than the philosopher Markus Gabriel. Since he just recently published his new book, „The Human Animal. Why we still do not fit into nature,“ there was a public book launch at THE NEW INSTITUTE in Hamburg. And I had the pleasure of hosting it. After the talk, a vivid discussion followed, which we however are not allowed to publish due to data protection rights. But I’m sure, the conversation with Markus Gabriel already offers a lot. We will get to that in a moment. First of all, I would like to apologize for the sound quality. Due to the location, there is a bit more noise than usual. But I hope you will excuse that and you can nevertheless or maybe because of that dive deeper into the atmosphere of the conversation.

If you want to delve deeper into the topic: We are giving away a personally signed copy of „The Human Animal“ among all those who support Sinneswandel and thus also me and my work, as Steady members. For more information and how you can participate, please check out the show notes. And now let’s begin!

Outro:

Thank you very much for listening. I hope you could take something away from the conversation with Markus Gabriel and get a small impression of what he is talking about in his book. If so, I would be happy if you support my work by sharing this podcast and/or by supporting it financially. You can do that easily via Steady or Paypal. More info on that is found in the show notes. That’s it for today. See you next time at the Sinneswandel Podcast.

3. November 2022

Das «Ewige Eis» schmilzt – Sinnbild des Wandels?

von Marilena 25. Oktober 2022

Seit Beginn der Industrialisierung haben Gebirgsgletscher mehr als die Hälfte ihrer Fläche und ein Drittel ihres Eisvolumens verloren. Das klingt nicht nur alarmierend, sondern sollte es auch sein, wenn man bedenkt, dass Gebirgsgletscher als eine Art “globales Fieberthermometer” gelten. Das “Ewigen Eis”, es schmilzt. Immer schneller – bis es irgendwann ganz verschwunden ist? Mit Fotograf Olaf Otto Becker hat sich Marilena Berends über die Schönheit und Zerbrechlichkeit der schwindenden Eismassen unterhalten. Das Gespräch ist Teil des “Art’nVielfalt’-Podcast des Museum Sinclair-Haus und der Stiftung Kunst und Natur.

Shownotes:

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► “Ewiges Eis”: 3-teilige Reihe im Podcast „Art’n’Vielfalt“ des Museum Sinclair-Haus.
► Stiftung Kunst und Natur – Museum Sinclair-Haus.
► Olaf Otto Becker.
► Ludwig Berger: “Melting Landscapes”, 2016.

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25. Oktober 2022

Wieso brennen immer mehr Musiker*innen aus?

von Marilena 13. Oktober 2022

Endlich wieder live Konzerte – wer hat sich darauf nicht gefreut, nach gut zwei Jahren Corona bedingter Abstinenz?! Doch aller Euphorie zum Trotz, sagen immer mehr Musiker*innen weltweit – Haftbefehl, Shawn Mendes, Arlo Parks, Robbie Williams, Justin Bieber, Sam Fender – ihre Konzerte und ganze Tourneen ab. Auch Malte Huck von Beachpeople und Rapper Ahzumjot kennen den Druck der Branche. Im Podcast erzählen sie offen und ehrlich über ihre Liebe zur Musik, über Einsamkeit, Wut, Hoffnung und Verletzbarkeit.

Shownotes:

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► Spotify BEACHPEOPLE.
► Spotify Ahzumjot.
► Malte Huck auf Instagram.
► Ahzumjot auf Instagram.

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13. Oktober 2022

Victoria Reichelt: Wie politisch ist Social Media?

von Marilena 6. Oktober 2022

Social Media kann Zeitvertreib sein, aber eben nicht nur. Es ist auch ein Ort des Austauschs, der Information und sogar des Protests, wie sich gerade erneut zeigt. Wie können die sozialen Medien zu einem Ort werden, der uns dient und nicht überfordert oder gar schadet? Über diese und weitere Fragen haben sich Journalistin Victoria Reichelt und Marilena Berends unterhalten.

Shownotes:

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► Victoria Reichelt findet ihr auch auf Twitter, Instagram und TikTok.
► TEDx Talk: “How to live with the constant feeling of discomfort”.
► funk: “Deutschland3000”.

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6. Oktober 2022

Sinnkrise: Wer bin ich, ohne meinen Job?

von Marilena 27. September 2022

“Tu, was du liebst und du musst nie wieder arbeiten” oder “Erschaffe dir ein Leben, von dem du keinen Urlaub mehr brauchst”, Zitate wie diese lassen sich reihenweise finden. Ob als Inspiration in Sozialen Netzwerken oder zur Motivation und Orientierung in Selbsthilferatgebern – es gilt (s)einen Sinn im Job zu finden und sich in ihm selbst zu verwirklichen. Work-Life-Balance war gestern – vielmehr sollen sie verschmelzen, die Grenzen zwischen Leben und Arbeit. Sich vereinen, vom Beruf zur Berufung werden, die alles in sich vereint: Geld und Passion. Doch was passiert, wenn der Job zum einzigen Lebensinhalt wird? Und bis zu welchem Grad ist die Identifikation mit dem Beruf überhaupt gesund?

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Nina Kunz: Ich denk, ich denk zu viel, Kein&Aber 2021.
► Tatjana Schnell: Von Lebenssinn und Sinn in der Arbeit: Sinn erleben – Arbeit und Gesundheit, Fehlzeiten-Report 2018.
► Christian Uhle: Wozu das alles? Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens, Fischer 2022.
► Anna Mayr: Die Elenden, Hanser 2020.
► Sabine Donauer: “Faktor Freude: Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt”, Körber  2015.
► Hannah Arendt: “Vita activa oder Vom tätigen Leben”, 1958.

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Eigentlich ist es ziemlich ironisch und mittlerweile kann ich darüber auch schmunzeln. Vor ein paar Wochen war das allerdings noch nicht der Fall. Da saß oder lag ich vielmehr ziemlich aufgelöst in meinem Bett. Das Handy klebte schon von selbst an meiner tränenfeuchten Wange. Am anderen Ende der Leitung, eine Freundin, die mir beschwichtigende Worte ins Ohr flüstert, die ich aber eigentlich gar nicht hören will. Denn natürlich weiß ich, dass sie Recht hat: Eine Absage ist noch lange kein Weltuntergang – passiert uns allen mal – ist mir schon klar! Trotzdem fühlt es sich so beschissen an, dass ich mich gerade nur in meinem Selbstmitleid sudeln und unter der Decke verkriechen will.

Falls ihr euch fragt, wer oder was mich da so aus der Fassung gebracht hat: nein, es war kein Date, das mich geghostet hat, keine Liebeskummer-Tränen, die vergossen wurden. Grund für die Krise war ganz einfach mein Job. Ich hatte einen Artikel veröffentlichen wollen, der allerdings auch nach der dritten Korrekturschleife nicht den Anforderungen entsprach und somit in der Tonne landete. Bis heute. Denn zweimal dürft ihr raten, worum es in dem Text ging: Um Selbstverwirklichung im Job und darum, dass es gar nicht mal so erstrebenswert ist, wenn man eins mit seinem Beruf wird. Warum? Das durfte ich in diesem Moment am eigenen Leib erfahren. Eine einzige verdammte Absage und ich stellte nicht nur mein Können, sondern gleich mein ganzes Leben in Frage: Hatte ich mich geirrt, konnte ich gar nicht schreiben? Wie zur Hölle war ich überhaupt auf die Idee gekommen, Journalistin werden zu wollen? Vielleicht sollte ich etwas ganz anderes machen, was Handfestes? Aber, wer wäre ich dann noch?

Meine Krise – eigentlich der beste Beweis dafür, dass an meiner These etwas dran war, aber das half mir in dem Moment auch nicht weiter. Mein Selbstbewusstsein war geknickt und es mussten erstmal ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, verstreichen, bis ich die Ironie in der Geschichte sehen konnte. Denn der ganze Witz daran war: In dem besagten Text kam ich nicht vor. Ich hatte mich bemüht, möglichst distanziert zu schreiben, keine Ich-Perspektive und dafür reihenweise Quellen. Ich wollte nicht schon wieder aus meinem eigenen Nähkästchen plaudern, nicht mein Innerstes nach außen kehren. Lieber wollte ich die ach so neutrale Autorin sein, die das Thema ganz souverän und nüchtern betrachtet. Heute weiß ich, ich hatte einfach Angst. Vielleicht, weil ich bereits ahnte, wie viel das Thema mit mir selbst zu tun hat und, dass ich ihm alles andere als neutral gegenüberstand. Aber eigentlich hatte das ja auch keiner von mir erwartet. Ganz im Gegenteil, ist Betroffenheit nicht eigentlich die beste Voraussetzung für eine gute Geschichte?

Da mir diese ganze Geschichte zumindest nicht aus dem Kopf gegangen ist und ich nach wie vor das Gefühl habe, dass an der Sache etwas dran ist, möchte ich sie mit euch teilen. Aber dieses Mal ohne Distanz. Denn das weiß ich heute, gelingt mir eher so mittelmäßig. Das hatte ich nun davon, damals bewusst nach einem Beruf gesucht zu haben, der etwas mit mir zu tun hat, in dem ich mich, wie es so schön heißt, selbst verwirklichen konnte. Arbeit zum reinen Broterwerb, nine-to-five? Das war für mich als klassischer Millennial unvorstellbar. Spätestens seit es uns gibt, heißt es immerhin überall: “Tu, was du liebst und du musst nie wieder arbeiten” oder “Erschaffe dir ein Leben, von dem du keinen Urlaub brauchst”. Work-Life-Balance war gestern – vielmehr sollen sie verschmelzen, die Grenzen zwischen Leben und Arbeit. Sich vereinen, vom Beruf zur Berufung werden, die alles in sich vereint: Geld und Passion.

Damals dachte ich: klingt ziemlich nice! Unter keinen Umständen wollte ich einer dieser Menschen sein, der sich tagtäglich ins Büro schleppt, obwohl er innerlich bereits gekündigt hatte. Und, wenn wir mal ehrlich sind, möchte doch eigentlich niemand einen Großteil seiner Zeit mit Dingen verbringen, die sich nach Qual anfühlen, selbst wenn man dafür bezahlt wird. Es gibt sogar Untersuchungen, die zeigen, dass Langeweile und ein Gefühl von Sinnlosigkeit im Job krank machen können – “Bore-Out”, nennt das Psychologin Tatjana Schnell. Empfinden wir unsere Arbeit allerdings als sinnstiftend und bedeutsam, wirkt sich das positiv auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden aus. Dass ich nach einer Art Berufung, wenn man es so nennen will, gesucht habe, ist also durchaus nachvollziehbar. Eigentlich ist es sogar ein menschliches Bedürfnis, wie mir Philosoph Christian Uhle erzählt: “Menschen arbeiten eben nicht nur des Geldes wegen, sind nicht rein egoistisch, sondern haben auch den Wunsch, sich sinnvoll einzubringen.” (Wozu das Alles. 2022, S.163). Dazu kommt, dass uns Arbeit, in einer ziemlich krisenanfälligen Zeit – [Hust] Corona – Halt und Struktur bieten kann. Während die Welt da draußen unterzugehen scheint – und es vermutlich sogar tut – sitze ich hier und schreibe meine Texte. Eine Mischung aus Eskapismus und einem kleinen Fünkchen Hoffnung, doch etwas bewirken zu können.

Das heißt aber natürlich längst nicht, dass wir alle gleichermaßen diesen Wunsch teilen und schon gar nicht, dass  jeder einen tieferen Sinn in seiner Arbeit sucht. Und das ist vollkommen legitim, womöglich lebt es sich sogar gesünder. Erst kürzlich kam ich auf einem Geburtstag mit einer Frau ins Gespräch. Abgesehen davon, dass wir wohl ungefähr gleichalt sein mussten, hätten wir kaum unterschiedlicher sein können. Nachdem die obligatorische Frage, “Und, was machst du so?”, gefallen war, erzählte sie mir, dass sie seit kurzem in einem großen Konzern im Marketing arbeite und sich dort richtig wohl fühle. Warum genau, wollte ich wissen. Ihre Antwort: Sie könne immer pünktlich Feierabend machen, denn Überstunden gäbe es keine und so habe sie noch genügend Zeit für ihre Hobbys – Zumba und Kochen. Auf einen Job mit mehr Verantwortung, den sie womöglich auch nach Feierabend noch mit ins Bett nimmt, darauf habe sie keine Lust, erzählt sie mir. Irgendwie bewundere, ja beneide ich diese Frau ein bisschen. Für ihre scheinbar gesunde Distanz zwischen sich und ihrem Job. Und dafür, dass sie scheinbar so gar kein Bedürfnis danach verspürt, mit ihrer Arbeit auszudrücken, wer sie ist. Und gleichzeitig frage ich mich: Warum habe ich eigentlich diesen Geltungsdrang? Es gibt doch auch andere Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen, als über Lohnarbeit. Und schließlich bin auch ich mehr als mein Job – fühlt sich nur manchmal nicht so an. 

“Workism beschreibt […] etwas, das mir schon länger Sorgen macht: Es ist der Glaube, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigenen Identität. […] Ein zentrales Ziel im Leben soll sein, einen Job zu finden, der weniger Lohnarbeit ist als vielmehr Selbstverwirklichung. Darum […] habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.”, schreibt Nina Kunz in ihrem Buch Ich denk, ich denk zu viel (2021) – und ich fühle es sehr. Vielleicht liegt es auch an meiner Bubble, in der fast jeder seiner Leidenschaft nachzugehen scheint oder sich zumindest ein kleines Side Business aufgebaut hat, in dem er sich kreativ austoben kann, dass auch ich mich an diesem Ideal abarbeite. Nicht, dass ihr mich falsch versteht, die meiste Zeit liebe ich tatsächlich meinen Job und bin überaus dankbar, mich mit dem Schreiben und Sprechen tatsächlich über Wasser halten zu können. Nichtsdestotrotz wünsche ich mir manchmal nichts sehnlicher, als den Laptop zum Feierabend einfach zu schließen und damit auch alle offenen Tabs in meinem Kopf, die mit meinem Job verbunden sind. Klappt leider selten, ebenso wie mein Vorsatz, weniger zu husseln, wie das ja so gerne genannt wird. Es ist Fluch und Segen zugleich, wenn sich Arbeit nicht nach Arbeit anfühlt. Segen, weil klar, was ich tue, macht mir meistens Spaß und fühlt sich sinnvoll an, was bedeutet, dass ich mich selten dazu aufraffen muss. Jippi! Genau diese intrinsische Motivation macht es aber auch zum Fluch, weil sie immer wieder dazu führt, dass ich nicht nur Hobbies, Freunde oder Familie oft hinten anstelle, sondern auch mich selbst ausbeute. Denn Fakt ist: Wenn wir unsere Arbeit als sinnvoll erleben, sind wir nicht nur motivierter, sondern häufig auch gewillter Kompromisse einzugehen: von (unbezahlten) Überstunden, über prekäre Arbeitsbedingungen, bis hin zum Burn-Out – you name it!

Diese Erkenntnis wissen natürlich auch Unternehmen längst für sich zu nutzen. Und so ist es wenig überraschend, dass in Stellenausschreibungen immer häufiger von “Jobs mit Sinn” zu lesen ist: Wer sich mit seinem Beruf oder einer Marke identifiziert, ist schnell gewillt mehr zu leisten – oft für weniger. Die Historikerin Sabine Donauer bezeichnet das als eine Form der “immateriellen Entlohnung”: Nicht mehr das Gehalt steht im Vordergrund, sondern Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Solange wir den Eindruck haben, uns verwirklichen zu können, erleben wir Arbeit seltener als Last, sondern überwiegend als Lust. Das ist zwar grundsätzlich schön, macht es auf der anderen Seite auch deutlich schwieriger, sich selbst Grenzen zu setzen. Stichwort “Mental Health”. Man könnte sagen, es ist fast eine Sucht. Je mehr ich arbeite, desto mehr fühle ich mich in meinem Selbst und Sein bestätigt. Aber, wie ich durch den gescheiterten Artikel wieder einmal lernen durfte, ist das ein ganz schön fragiles Gerüst, wenn es mal ins Wanken gerät.

Trotzdem stelle ich mir die Frage: Wie kann es gelingen, sich von dem gesellschaftlichen Druck nach beruflicher Selbstverwirklichung zu emanzipieren? Es ist ja nicht so, als entstehe dieser Wunsch nur aus mir heraus. Er wird auch oder vor allem durch gesellschaftliche Narrative befeuert. Philosoph Christian Uhle rät dazu, genau hinzuschauen, wo gut gemeinte Ratschläge, wie “Folge deinem Herzen und finde deine Berufung”, in Befehle umschlagen (Wozu das Alles. 2022, S.394). Denn die Schwierigkeit, so Uhle, bestehe gerade darin, dass die Aufforderung zur Selbstverwirklichung grundsätzlich eine positive und emanzipatorische Message sei. Wenn aber eine Wahl zum Imperativ wird und Arbeit den Status einer Ersatzreligion erhält, kann das auch für diejenigen problematisch werden, die vollkommen zufrieden damit sind, einfach „ihren Job zu machen“. Schließlich sehnt sich längst nicht jeder nach einem tieferen Sinn in seiner Arbeit oder hat vielleicht gar nicht erst die Möglichkeit dazu, sich auf die Suche danach zu begeben. 

„Wer nie authentische Bedürfnisse entwickelt, sondern sich immer nur nach den ökonomischen Zwängen richten muss, der entscheidet nicht selbst über seine Identität”, schreibt Autorin Anna Mayr in ihrem Buch Die Elenden (2020). Warum wird es dennoch so dargestellt, als liege es in der alleinigen Verantwortung jedes Einzelnen, seine Berufung zu finden und ihr nachzugehen? Ganz einfach, dann muss das System nicht in Frage gestellt und schon gar nicht verändert werden, wenn jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Eine Privatisierung von Sinnansprüchen ignoriert ganz einfach die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die Menschen daran hindern, einer sinnstiftenden Arbeit nachgehen zu können. Es ist doch auch viel leichter, Menschen die Schuld dafür zu geben, sich nicht genügend anzustrengen, als anzuerkennen, dass es vor allem mangelnde Ressourcen, wie Zeit, Geld oder Gesundheit sind, die sie davon abhalten, sich zu verwirklichen. Womöglich liegt es aber auch gar nicht im Interesse aller, genau das zu ermöglichen? Denn wo kämen wir hin, wenn jeder nur noch den Dingen nachginge, die ihm gefallen? Wer würde dann noch die Arbeit erledigen, um die sich keiner streitet, die aber wichtig – ach ne wartet, dafür gab es ja ein ganz spezielles Wort – systemrelevant ist?

Wie ihr merkt, geht es längst nicht mehr nur um meine eigene Geschichte. Das viel propagierte Ideal von dem Suchen und Finden einer Berufung, einem Job mit Sinn, von dem man angeblich keinen Urlaub mehr braucht, hat viele Facetten. Dass ich die Möglichkeit habe, ihn auszuleben, ist faktisch ein Privileg. Dennoch wollte ich aufzeigen, dass ebendieses Privileg keinesfalls nur Gutes mit sich bringt. Denn, reduziere ich meine eigene Identität darauf, was ich im Beruf leiste, schade ich damit im Zweifel nicht nur mir selbst, ich trage auch dazu bei, dass eine Geschichte fort erzählt wird, in der nur existiert, wer arbeitet – im Sinne von Erwerbsarbeit, versteht sich. Dabei sind wir, bin ich so viel mehr als mein Job. 

In ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), spricht die Philosophin Hannah Arendt jedem Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach Aktivität, Beteiligung und Selbstwirksamkeit zu. Dieser Wunsch nach Tätigkeit wird heute aber mehr denn je durch einen Filter der Erwerbsarbeit gepresst. Wenn wir von Arbeit sprechen, meinen wir meistens nur jene, die bezahlt wird. Dabei finden wir Menschen Sinn auf vielen Ebenen unseres Lebens: in der Kunst, der Natur, der Gemeinschaft, der Freundschaft, der Familie, dem Protest und überall sonst, wo wir in Beziehung zu uns selbst und der Welt treten. Care-Arbeit, ehrenamtliche, aktivistische oder künstlerisch-kreative Arbeit fallen, wenn es um Selbstverwirklichung geht, meist aus dem Raster. Aber sind es nicht auch oder gerade diese Tätigkeiten, die Sinn stiften, die unerlässlich sind?

Meinen Beruf oder meine Berufung, wie auch immer man es nennen mag, habe ich nach dieser Geschichte zwar nicht an den Nagel gehängt. Und habe es verrmutlich auch nicht vor. Aber eines habe ich mir bereits vorgenommen: Auf der nächsten Party werde ich die obligatorische Frage, “Und, was machst du so?”, nicht mit meinem Beruf allein beantworten. Vielleicht werde ich stattdessen erzählen, dass ich gerne Theater spiele oder, dass ich das analoge Fotografieren für mich wiederentdeckt habe. Vielleicht erwähne ich auch, dass ich ab und zu schreibe – aber das ist eben nur ein Teil von mir. Oder zumindest arbeite ich daran.

Outro

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27. September 2022

Wie solidarisch sind wir wirklich?

von Marilena 16. August 2022

Die Forderung nach Solidarität hat seit Jahren Hochkonjunktur. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. In ihrem Kommentar stellt Gastautorin Isabell Leverenz den Solidaritätsbegriff auf die Probe und kommt zu dem Ergebnis: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Azimipour, Sanaz (2022): Rassismus als Infrastruktur. Missy Magazine. 54-58.
► Missy Magazine (2022): Krieg und Flucht. 47-60.
► Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (2019): Was heisst »#Unteilbar« für eine Sammlungsbewegung? Interview mit Hengameh Yaghoobifarah. Belltower News.
► Struwe, Alexander (2019): Was ist emanzipatorische Solidarität?
► Lessenich, Stephan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Reclam. 
► Susemichel, Lea; Kastner Jens (2021): Unbedingte Solidarität. Unrast. 7-11.
► Hausbichler, Beate (2022): Lea Susemichel und Jens Kastner: „Identitätspolitik war zunächst eine Notwehrreaktion“. Der Standard.
► ELES (2021): Plurale Erinnerungskultur: Gemeinsames Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft?, YouTube.
► Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben. R. Piper & Co. Verlag. 173.
► Hark, Sabine (2021): Flucht und Migration. Wir brauchen ein neues Ethos der Solidarität. Deutschlandfunk Kultur.
► Jaeggi, Rahel (2021): Solidarität und Gleichgültigkeit. In: Susemichel, Lea; Kastner Jens: Unbedingte Solidarität. Unrast. 49-66.

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Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“Solidarität (von lateinisch solidus “echt, fest“) […] bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit […] Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus. Der Gegenbegriff zur Solidarität ist die Konkurrenz.” So lautet zumindest die Definition auf Wikipedia. Gleichgesinnte oder Gleichgestellte, für sie gilt also das Prinzip der Solidarität. Aber was macht uns zu “Gleichen”? Was verbindet uns? Und zeigen wir uns als Menschen wirklich nur dann solidarisch mit anderen, wenn sie uns ähneln – ob aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der Sprache oder politischen Einstellung?

Angesichts einer Omnipräsenz der Forderung nach Solidarität, hat sich Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz gefragt, wie solidarisch wir aktuell wirklich sind. Ob Solidarität tatsächlich eine Praxis unter “Gleichen” sein muss oder, ob sie nicht viel weiter gehen kann und sollte? Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? Dabei kommt sie zu dem Schluss: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Was das genau bedeutet, erzählt Isabell Leverenz in ihrem Kommentar.

Es ist Sonntag und ich blättere durch die neue Ausgabe des Missy Magazins. Mein Blick bleibt an einer Fotografie der Fotojournalistin Sitara Thalia Ambrosio hängen. Darauf zu sehen, ist ein Bus. Dort, wo für gewöhnlich die Nummer der Buslinie oder ihre Endstation zu lesen ist, steht in orangefarbener Schrift: »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt«. Der Bus wurde von einem Zusammenschluss gemeinnütziger Organisationen bereitgestellt, der Geflüchtete aus der Ukraine nach Berlin bringt, wie die Bildunterschrift verrät. Der orange leuchtende Schriftzug erinnert mich an den Slogan »Defend Solidarity« der Organisation Sea Watch, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden an Europas Grenzen verschrieben hat. Ob »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt« oder »Defend Solidarity«: Beide Slogans eint, dass Solidarität buchstäblich in Bewegung zu kommen scheint – oder in Bewegung kommen muss?! 

Zumindest habe ich den Eindruck, dass die Forderung nach Solidarität seit Jahren Hochkonjunktur hat. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine: Sie wird als unabdingbar erklärt, sie wird proklamiert, sie wird getwittert. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. Darin, dass überfüllte Lager für Geflüchtete zu Beginn der Pandemie, wenn überhaupt, nur schleppend evakuiert werden oder sich an den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter*innen in Schlachthöfen nichts ändert. Dass man Überlastetem Gesundheitspersonal durch Beifall Sympathie zuträgt, anstatt sich für eine Verbesserung von deren Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dass man Studierende of Color ohne ukrainische Staatsbürgerschaft während ihrer Flucht vor Polens Grenzen abweist. Indes ist man sich aber europaweit einig, dass die Menschen aus der Ukraine Solidarität verdienen und ihnen schnellstmöglich und unbürokratisch geholfen werden muss. Dabei stoße ich immer wieder auf das gleiche Argument: »Die sind wie wir«, heißt es. Ich höre es beim Gespräch über den Gartenzaun, lese es im politischen Feuilleton und finde es in sozialen Netzwerken. Ukrainerinnen und Ukrainer seien schließlich Europäer*innen. Im gesellschaftlichen Common Sense scheint Solidarität eine Praxis unter Gleichen zu sein. Aber ist das wirklich so? 

Wie Sand zerrinnt mir diese Argumentation zwischen den Fingern: Wer ist denn eigentlich dieses solidarische »Wir«, von dem die Rede ist? Schließlich ist die Bevölkerung Deutschlands ja in sich bereits heterogen und vielfältig. In der selben Ausgabe des Missy Magazins, ein paar Seiten weiter geblättert, warnt die Aktivistin und Autorin Sanaz Azimipour vor dem entstandenen paneuropäischen Nationalismus, der die Ukraine als Vielvölkerstaat ausblendet und die Menschen und das Land als weiß und christlich labelt. Und ich erinnere mich, dass auch taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah vor einigen Jahren, aus meiner Sicht zurecht, beklagte, dass in Deutschland vor allem die weiße und nicht die antirassistische, feministische und anti-antisemitische Solidarität überwiege. 

Mir scheint, Solidarität ist hier selektiv, sie gilt nicht für alle im selben Maße. Das, was gesamtgesellschaftlich als Tugend aufgefasst wird und wie ein »schillernder Gegenbegriff« zu Phänomenen der Krise wirkt, ist vielmehr selbst Teil einer regressiven Praxis. Solidarität drohe, so schreibt der Soziologe Stephan Lessenich bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie, zu einer folgenlosen »sozialen Wohlfühlkategorie« zu verkommen. Zu einer Worthülse, die nur bedingt hält, was sie verspricht. Kuschelkurs statt Schlagweite. Es stimmt, Krisen fordern den sozialen Zusammenhalt heraus und damit die Notwendigkeit, Solidarität im Kontext dieser Herausforderungen neu zu formulieren. Daher frage ich mich: Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? 

Grundsätzlich, so fasst es die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi zusammen, kann Solidarität als eine Praxis des »Füreinandereinstehens« verstanden werden. Wird an die Solidarität appelliert, wird ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Haltung erwartet. Doch scheint sich Solidarität dabei bislang vor allem in der Gleichheit zu entfalten. Sie wird damit exklusiv. Bereits in den 90ern plädierte die feministische Denkerin Diane Elam für eine sogenannte »groundless solidarity«, eine unbegründete Solidarität, die nicht der Gleichheit, sondern Vielfalt und Diversität Rechnung trägt. Sie zielt darauf ab, kein vorgegebenes Wir, keine Gemeinschaft zur Voraussetzung von Solidarität zu machen. Gemeint ist hiermit nicht, sich stets vollkommen grundlos solidarisch verhalten zu müssen, sondern, dass gemeinsame Erfahrungen nicht vorausgesetzt werden sollten. »Unbedingte Solidarität«, so schreiben auch Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrem gleichnamigen Sammelband, beruhe nicht auf Gleichheit, sondern auf Differenzen. Es ginge nicht um die Parteinahme für Meinesgleichen, sondern darum, mit Menschen in solidarische Beziehung zu treten, mit denen ich gerade nicht den Berufszweig, das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teile. Eine emanzipatorische Solidarität, entkoppelt von ökonomischen, politischen und kulturellen Grundlagen. Und wer meint, bei dieser Perspektive handle es sich um eine Utopie, dem rate ich einen Blick in die Geschichte der Solidarität: Bereits die Abolitionismus-Bewegung, also der Kampf gegen die Sklaverei, wurde nicht allein von Versklavten geführt; ebenso, wie sich auch Männer für Frauenrechtsforderungen einsetzten; der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika wurde auch von westeuropäischen Weißen unterstützt; die Organisation Lesbians and Gays Support the Miners bestärkten den britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 80er Jahre. Umgekehrt marschierten die Minenarbeiter bei der Lesbian and Gay Pride Parade in London mit. 

Diese Solidarität ohne gemeinsamen Grund, betont Lea Susemichel, könne moralisch, humanistisch oder sozialrevolutionär motiviert sein. Nicht aber durch Ähnlichkeit oder Gleichheit. Es gehe vielmehr um den Einsatz für andere und um die gemeinsame Verantwortung für strukturelle und soziale Ungerechtigkeit. Auch dann, wenn man selbst vordergründig nicht davon zu profitieren scheint. Solidarität ist keine Gegebenheit von Natur aus, sie entwickelt sich nicht ‚ganz natürlich‘. Solidarität ist eine Entscheidung, sie ist politisch. Als Beziehung zwischen Menschen muss sie immer wieder aufs Neue ausgehandelt, gelernt und gelebt werden. Ähnlich wie Demokratie, die nicht einfach gegeben ist, sondern die es gegenüber antidemokratischen Strukturen und Ideologien immer wieder zu verteidigen gilt. Eine solidarische Haltung erschöpft sich dabei nicht in Form einer emotionalen Anteilnahme am Leid anderer oder in der Hilfe sogenannter »Schwächerer«. Es geht vielmehr darum, gemeinsam und auf Augenhöhe Strukturen zu transformieren, die Ungleichheiten hervorbringen oder bereits Bestehende manifestieren.  

Vor kurzem lauschte ich einer Rede des Judaisten Frederek Musall. Darin ging es um die Frage, wie Vergangenheit neu erzählt werden kann, um die Vielfalt der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Dies gelinge, so Musall, wenn Erzählkulturen in ihren Unterschiedlichkeiten und Verletzlichkeiten ernst genommen würden. Diese  Voraussetzungen, bin ich der Meinung, lassen sich ebenso gut auf solidarisches Handeln übertragen. Um Veränderungen zu erzielen, müsse die etablierte Ordnung der Dinge durcheinander gebracht werden: »Es wird dringend Zeit für einen Remix« sagt Musall. Seine Wortwahl rührt daher, dass er sich der Hip-Hop Musik bekannter Kollektive als philosophischem Denkbild bedient, um seinen Standpunkt zu untermalen. Die mitgeführte Hip-Hop-Metapher lässt sich, meiner Auffassung nach, auch treffend auf Solidarität, die ebenso einen solchen Remix nötig hätte, übertragen. Denn Hip-Hop war und ist Protest. Er vermag es, Solidarität mit benachteiligten oder ausgegrenzten Menschen zu verkörpern. Nicht zufällig wurde Rap-Musik nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 zum Soundtrack der Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus. In der frühen Rap-Kultur diente Hip-Hop Minderheiten als Sprachrohr, deren Geschichten nur wenig oder keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhren. Er kann stellvertretend dafür stehen, wie emanzipatorische Solidarität aussehen kann. In einem Hip-Hop-Song, an dem mehrere Künstler*innen beteiligt sind, so Musall, komme eine »narrative Polyphonie« zum Ausdruck, in der unterschiedliche Erzählungen aufeinandertreffen. Oder anders gesagt: In einem Song können Erzählungen aufeinandertreffen, die jeweils aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungshorizonten erzählt werden. Arrangiert ergeben sie eine Komposition. Das, was die unterschiedlichen Parts eines Songs miteinander verbindet, so Musall, sei weder Inhalt noch Form, sondern ein Arrangement, strukturiert durch Beat und Rhythmus. Sich als Musiker*in in einen Beat einzubringen, erfordert nicht nur Timing und Präzision, auch Achtsamkeit im Hinblick auf Stimme, Betonung und Takt – ein Gefühl für den Flow. Sowohl für den Eigenen, als auch für den der anderen Beteiligten. Wer im Flow ist, kann in die Hookline, den Refrain, einstimmen und durch das Hinzufügen der eigenen Stimme die Aussage der anderen verstärken. 

Folgen wir der Metapher der Polyphonie, so gründet solidarische Praxis nicht auf gemeinsamer Identität, sondern bringt diese überhaupt erst hervor – und das durch gleichberechtigtes und wechselseitiges Ein- und Mitmischen aller Beteiligten. Solidarität erfordert demnach eine Hinwendung zum Anderen als selbstbestimmtes, eigenständiges Subjekt. Dessen Differenz und Autonomie erst anerkannt werden muss, bevor gemeinsame Ziele formuliert werden können. Diese Ziele wiederum, ergeben ein gemeinsames Interesse, oder das, was die politische Philosophin Hannah Arendt als »inter-est« bezeichnet. Der Begriff ist durch einen Bindestrich getrennt; die einzelnen Bestandteile »inter« (zwischen) und »est« (sein) werden durch ihn aber gleichzeitig als zusammengehörig, als »interest«, markiert. Arendt zeichnet ein symbolisches Bild, um zu verdeutlichen, was sie mit »inter-est« meint: Darauf abgebildet, ist ein runder Tisch, der diejenigen, die an ihm Platz gefunden haben, sowohl voneinander trennt, als auch miteinander verbindet. Durch den Tisch entsteht ein Dazwischen, ein Bezugssystem, in dem Menschen ihren Interessen nachgehen. Wenn wir solidarisch handeln wollen, dürfen wir uns demnach nicht mit Polyphonie als bloßem Nebeneinander begnügen. Vielmehr sollten wir gezielt danach suchen, wie die unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven aufeinander bezogen werden können. Wenn man so will, dann braucht Solidarität einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Ein Bewusstsein und Vergegenwärtigung für Anwesenheit, Differenz und Bedürfnis. Einen Beat, der uns herausfordert, an unseren Gewohnheiten und Ansichten zu arbeiten und das gleichzeitige Existieren unterschiedlicher Bedürfnisse auszuhalten. Denn es sind letztlich die Vielfalt der Stimmen, der Streit um Differenz, die etwas bewegen können.

»What we need is awareness, we can’t get careless«, lauten zwei Zeilen aus Fight the Power des US-Amerikanischen Hip-Hop Kollektivs Public Enemy. Auch, wenn der Song bereits 1989 geschrieben wurde, besitzt er für mich auch heute noch Aktualität. Denn er besagt etwas so Einfaches und Wichtiges zugleich: Aufmerksamkeit, »awareness« ist das Gebot der Stunde. Gegenüber sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Entrechtung. Aber auch Aufmerksamkeit gegenüber einer Solidarität, die statt Vielfalt nur das vermeintlich Gleiche schützt. Die exkludiert, statt zu vereinen. Wir sollten uns bewusst sein, dass sich solidarisches Handeln gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Kontexten immer wieder anpassen muss. Für mich heißt das auch, dass wir mehr solidarische Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen und Differenzen hinweg brauchen, im Kampf für eine gerechte Gesellschaft. Solidarität braucht ein Fundament, um nicht nur Phrase zu sein. Sie braucht einen Beat.    

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16. August 2022

Machen Tinder und Co. [die Liebe] kaputt?

von Marilena 19. Juli 2022

 

Jede dritte Person in Deutschland sucht heute online nach dem nächsten Date. Einige mehr, andere weniger “erfolgreich”. Aber wovon ist das abhängig, was suchen Menschen auf Dating-Apps wie Tinder? Und wie gleichberechtigt sind wir in der Partnersuche? In dieser Episode geht Marilena dem (Online)-Dating auf die Spur, wie es unser Sein und Tun beeinflusst (hat) und wo mögliche Chancen und Risiken liegen. Zu Wort kommen zudem drei Autorinnen: Ann-Kristin Tlusty, Pia Kabitzsch und Anne-Kathrin Gerstlauer.

Shownotes:

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Literatur & Quellen:
► Aretz, Wera (2015): Match me if you can: Eine explorative Studie zur Beschreibung der Nutzung von Tinder. In: Journal of Business and Media Psychology, S. 41–51.
► 
Dombrowski, Julia (2011): Die Suche nach der Liebe im Netz. Eine Ethnographie des Online-Datings.
► 
Gerstlauer, Anne-Kathrin (2021): Der Gender-Dating-Gap und die Liebe. Audible.
► 
Illouz, Eva (2016): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Suhrkamp.
► 
Kabitzsch, Pia (2021): It’s a date! Tindern, Ghosting, große Gefühle. Was die Psychologie über Dating weiß. Rowohlt.
► 
Paur, Nina (2014): Junge Frauen: Unheimlich unabhängig. ZEIT online.
► 
Tlusty, Ann-Kristin (2021): Süß. Eine feministische Kritik. Hanser.
► Bitkom-Studie zur Nutzung von Online-Dating-Diensten (2019).
► Statista: Tinder Abonnenten weltweit 2022.
► 
Statista: Bumble Nutzer weltweit bis 2020.
► 
Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft: It’s a match! Oder Rassismus?. (2021).

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Transkript:

Es ist Sommer. Endlich! Die Sonnenstrahlen kitzeln sanft meine Haut, während ich auf dem Fahrrad sitze – auf meinen Ohren “Modern Love” von David Bowie. An einer roten Ampel bleibe ich stehen, schaue mich um. Mein Blick bleibt an einem Werbeplakat hängen: “Lasst uns Dating wieder besser machen”, steht darauf in dicken, roten Buchstaben. Die Frau, die auf dem Plakat in ihr Smartphone blickt, erweckt nicht gerade den Eindruck, als schenke sie dem Werbeversprechen viel Vertrauen. Und auch ich frage mich, was soll das heißen, “Dating wieder besser machen”? Läuft es wirklich so schlecht in Sachen Partnersuche? War früher alles besser – bevor wir angefangen haben, uns auf Tinder und Co. durch die Profile fremder Menschen zu swipen – stets auf der Jagd nach dem besten Match? Oder ist Dating heute vielleicht einfach nur anders?

Wieder zu Hause, klappe ich meinen Laptop auf und gebe in die Suchleiste ein: “Online-Dating, wirklich so schlecht, wie sein Ruf?” Laut einer Bitkom-Studie sucht heute immerhin jede dritte Person in Deutschland online nach dem nächsten Date. Und gut die Hälfte von ihnen hat darüber sogar einen festen Partner oder Partnerin finden können – was laut Studie als Erfolg gilt. Wobei ich wage zu bezweifeln, dass wirklich alle, die sich auf Dating-Apps und Singlebörsen rumtreiben, Ausschau nach einer festen Partnerschaft halten. Ist ja auch vollkommen legitim, etwas Unverbindliches, das nächste Abenteuer, eine Romanze oder einfach nur Bestätigung zu suchen. Ich meine, wer kennt das nicht?! Man liegt abends auf dem Sofa, es regnet, der Weg zur nächsten Bar erscheint endlos lang – und mal abgesehen davon: wer lernt heute schon noch Menschen am Tresen kennen? – also wird die nächstbeste Dating-App auf dem Smartphone geöffnet. Ist ja auch viel bequemer und die Auswahl im Zweifel auch größer. 10,7 Millionen Nutzer*innen weltweit sind mittlerweile auf Tinder angemeldet, verrät mir Google. Und ein weiterer Vorteil: Ich muss nicht sofort reagieren – wenn überhaupt. Zumindest scheint Ghosting heute gesellschaftlich so akzeptiert zu sein, wie Hafermilch im Flat White. Trotzdem, eigentlich natürlich nicht die höfliche Art. Im “echten Leben” würde man sich nach einem kurzen Smalltalk ja auch nicht einfach wortlos umdrehen und sein Gegenüber stehen lassen. Es gibt sicherlich viele weitere Argumente, die sich pro oder contra Online-Dating aufzählen ließen, aber was sich ohne Zweifel sagen lässt, ist, dass Tinder und Co. die Art und Weise, wie wir uns heute einander annähern, bereits verändert hat. Es fragt sich nur, zum Positiven oder zum Negativen?

Online-Dating ist nur so gut oder schlecht, wie wir im Stande sind, es für uns zu nutzen – dieser Überzeugung ist zumindest Pia Kabitzsch. Pia ist Psychologin und erklärt auf YouTube unter dem Namen “psychologeek” wie unsere Psyche tickt. Und sie hat ein Buch geschrieben: “It’s a date! Tindern, Ghosting, große Gefühle. Was die Psychologie über Dating weiß” – der Titel sagt eigentlich alles: Es geht ums Dating. Aber nicht im Allgemeinen oder rein aus Sicht der Psychologie. Pia plaudert im Buch auch aus dem eigenen Nähkästchen: von misslungenen Dates, darüber, wie sie Matches anschreibt und mit welchen Strategien sie bisher am besten gefahren ist – auf der Suche nach dem perfect fit. Mit ihrem Buch hofft sie Lesenden etwas an die Hand geben zu können, das ihnen im Datingjungle etwas Orientierung verschafft – und vor allem das Gefühl vermittelt: “Ich bin damit nicht allein, anderen geht es auch so wie mir!” 

Natürlich habe auch ich meine Erfahrungen mit Tinder und Co. gesammelt, aber Psychologin bin ich keine. Daher möchte ich von Pia wissen, wonach die Menschen auf den diversen Dating-Plattformen eigentlich auf der Suche sind. Stimmt das Vorurteil, dass die meisten nur an One-Night-Stands interessiert sind?

“Nur um das mal kurz vorwegzunehmen: Dieses Vorurteil, dass die meisten Menschen auf Dating Apps nur auf der Suche nach einer ‘schnellen Nummer’ sind, das ist kompletter Bullshit. Also das stimmt nicht. Die meisten sind wirklich auf der Suche nach einer Beziehung bzw. nach, ganz kitschig, Liebe. Was mich persönlich aber ziemlich überrascht hat und irgendwie auch erschrocken hat, ist, dass ungefähr 50 Prozent der 18 bis 27 Jährigen auf Tinder nicht Single sind. Fand ich richtig krass und habe mich dann auch gefragt: okay, wow, was macht ihr denn dann auf den Dating Apps? Betonung liegt auf dem Wort ‘Dating’. Und es hat sich herausgestellt, dass super viele einfach nur wegen des Egoboost da sind. Fühlt sich gut an einen Match zu haben. Dann sind die Leute aus Langeweile da. Wegen dieser ganzen Gamification. Zocken da so ein bisschen rum, schauen sich ein bisschen aus Interesse um, was so im Umfeld abgeht, aber ohne wirklich eine Dating-Absicht zu haben. Ja, das fand ich irgendwie eine krasse Zahl auf jeden Fall.”

Okay, nicht alle sind nur auf die “schnelle Nummer” aus. Das entspricht auch nicht meiner bisherigen Dating-App-Erfahrung. Aber die oft fehlende Transparenz über die Absichten meiner Matches, macht es natürlich nicht ganz einfach, die “Hauptgewinne” von den “Nieten” zu unterscheiden. Wobei das im echten Leben natürlich nicht unbedingt anders ist. Auch hier kann sich jemand als Single ausgeben und in Wahrheit bereits verheiratet sein und zwei Kinder haben. Online-Dating macht es allerdings noch einmal wesentlich leichter, sich als jemand anderes auszugeben, als man in Wirklichkeit ist, meint auch Pia:

“Ein weiteres Problem ist auf jeden Fall ‘Catfishing’. Das bedeutet, dass man sich online als eine andere Person ausgibt. Das ist jetzt natürlich ein Extrem, aber das gibt es auch in abgeschwächter Form, dass man sich halt einfach anders darstellt, als man ist. Das ist natürlich sehr einladend online, das fliegt nicht so schnell auf, wie im Offline-Leben.”

Klar, wir wollen uns von unserer besten Schokoladenseite präsentieren, online wie offline. Was allerdings auffällt, ist, dass die Selbstdarstellung – eine Gelungene, versteht sich – in Dating-Apps immer wichtiger wird. Wenige Sekundenbruchteile entscheiden hier, ob nach links oder rechts geswiped wird, ob top oder Flop. Ziemlich oberflächlich, mag man meinen. Aber läuft es im echten Leben wirklich anders? Sind es nicht auch da wenige Augenblicke, die darüber entscheiden, ob wir uns verlieben oder nicht? Ist Online-Dating tatsächlich so viel oberflächlicher – oder liegt das eigentliche Problem vielleicht ganz woanders?

“Gefühle in Zeiten des Kapitalismus” nennt sich eines von Eva Illouzs Büchern, in dem die israelische Soziologin die Auswirkungen unserer kapitalistischen Weltordnung auf Beziehungen unter die Lupe nimmt. Während, laut Illouz, der Konsum zunehmend mit künstlichen Emotionen aufgeladen wird, erleben Gefühle im Kapitalismus das Gegenteil: sie werden kommerzialisiert und zweck-rationalisiert: Lohnt sich die Kontaktaufnahme? Gibt es eine bessere Alternative? Welche Opportunitätskosten entstehen, wenn ich Zeit, Geld und Selbstoffenbarung investiere? Die Notwendigkeit ökonomisch zu denken, mag zwar mit dem romantischen Liebesideal brechen, fügt sich aber wiederum ideal in das neoliberale Narrativ von: “Wer viel leistet – oder swiped – wird auch mit einer erfüllten Partnerschaft belohnt.” Aber, ob das wirklich aufgeht, lässt sich bezweifeln. Durch Online Dating jedenfalls, verstärkt sich, laut Illouz, diese Marktlogik immer weiter. Hier “verwandelt [sich] das Selbst in ein verpacktes Produkt, das mit anderen auf einem offenen Markt konkurriert, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”, schreibt sie. Und natürlich zählt auch hier: wem es am besten gelingt sich zu verkaufen, liegt klar im Vorteil.

Ich weiß noch, als ich mir zum ersten Mal die App mit dem zündelnden Feuer als Logo runtergeladen habe – das muss wohl 2012 gewesen sein. Ich kam mir dabei nicht nur ziemlich verboten und obszön vor, es fühlte sich darüber hinaus auch ziemlich falsch an. Menschen, ohne sie jemals in echt gesehen zu haben, zu bewerten, indem ich sie hin und her wische. Als würde ich online gerade nach einem passenden Schuh suchen: “Ach, der gefällt mir, den nehme ich!” oder “Oh ne, gar nicht mein Fall, weg damit!”. Während sich das Gefühl von Verbotenheit heute bei vielen Dating-App-Nutzer*innen angesichts der Popularität wohl gelegt haben wird, will der seltsame Beigeschmack beim Swipen einfach nicht ganz weggehen. “Irgendetwas daran fühlt sich nicht “richtig” an, es fehlt nur noch, dass man seinen Matches eine Bewertung geben kann”, erzähl mir Hannes, ein Freund, beim Kaffee. Klingt gar nicht mal so unrealistisch. Vielleicht lesen wird bald in Apps Sätze, wie: “Nettes Date, gerne wieder” oder “Konnte echt gut küssen, aber die Frisur war ein echter Stimmungskiller”. 

Vermutlich bedarf es solcher Bewertungen aber auch gar nicht, weil der Algorithmus der Dating-Apps diese Arbeit bereits für uns übernimmt, indem er vorselektiert. Und zwar anhand eines sogenannten ELO-Scores – oder “Desirability Score”, wie Tinder ihn nennt. Der soll die „Attraktivität“ der User ermitteln, um ihnen ähnlich begehrenswerte Profile vorzuschlagen. Erhältst du viele Likes, swipest was das Zeug hält und chattest mit deinen Matches, steigert das angeblich deinen ELO-Score. Wie genau das Bewertungssystem allerdings funktioniert, hat Tinder bislang nicht preisgegeben. In der Kritik stehen Match-Making-Algorithmen jedoch immer wieder. Auch deshalb, weil sie angeblich Diskriminierung und Sterotype weiter zementieren. So hat die Dating-App OkCupid festgestellt, dass ostasiatisch gelesene Männer und Schwarze Frauen die schlechtesten Chancen haben, ein Date zu finden. Das heißt, wenn überwiegend weiß gelesene Personen als attraktiv befunden werden, was die Auswertungen von OkCupid nahelegen, dann wird Weißsein zu einem hohen Indikator für ein Match, spricht eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit im Dating-Game. Selbst wenn die Hautfarbe für den Algorithmus per se kein entscheidendes Kriterium für Attraktivität darstellt.

Aber nicht nur der Algorithmus selbst ist Teil des Problems, auch die Kategorien, die uns Dating-Apps zur Selbstbeschreibung und Partnersuche anbieten, können diskriminierende Effekte haben. Wer weiß ist, hält die Kategorie “Hautfarbe“ womöglich für irrelevant. Wer sich als heterosexuell definiert, für den spielt die sexuelle Orientierung vielleicht keine Rolle. Schmerzhaft werden Kategorien aber dann, wenn wir uns darin nicht wiedererkennen. Während bei Tinder beispielsweise nur eine Suche nach Männern, Frauen oder beiden Geschlechtern möglich ist, bietet OkCupid satte 22 Gender-Optionen, darunter Transgender, Genderqueer, Genderfluid und einige, von denen selbst ich zugeben muss, noch nie von gehört zu haben. Die Auswahl zeigt aber auch, dass sich etwas tut. Und, wie Pia bereits sagte, sind Apps eben nur so gut, wie die Menschen die sie nutzen oder eben programmieren. Abgesehen davon, sind digitale Technologien nie neutral. Das heißt, bevor wir Online-Dating also gänzlich abschreiben, sollten wir es lieber als Teil von Kultur begreifen und die gestalten wir schließlich immer noch mit.

Das bedeutet aber natürlich andersherum auch, dass wir all die Glaubenssätze, Narrative, Stereotype, die sich bereits in unseren Köpfen verfestigt haben, mit ins Dating nehmen – online, wie offline. Daher stellt sich natürlich auch die Frage: Wie gleichberechtigt sind wir heute bei der Partnersuche bzw. im Dating? Keine Frage, in den letzten Jahrzehnten ist in Sachen Gleichberechtigung viel passiert. Durch das Infragestellen vermeintlich fester Normen, von Heterosexualität, über Monogamie, der bürgerlichen Ehe und Geschlechterrollen, hat sich unsere Kultur nachhaltig liberalisiert. Allerdings ohne, dass dadurch das Patriarchat abgeschafft wurde – und das macht natürlich auch nicht vor dem Dating halt. Insofern gilt auch hier nach wie vor: Weiblich gelesene und queere Personen genießen nicht dieselben Freiheiten, wie heterosexuelle cis Männer. Die Autorin und Journalistin Anne-Kathrin Gerstlauer nennt das den “Gender-Dating-Gap”. Nach Jahren mehr oder minder erfolglosen Swipens und Matchens, wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Genauer gesagt ihrer These, derzufolge es insbesondere emanzipierte, heterosexuelle Frauen im Dating schwer haben, einen Partner auf Augenhöhe zu finden. Erfolg, Selbstbewusstsein, Geld: Was Männer häufig attraktiv macht, wird für Frauen dagegen oft zum Hindernis, meint Anne-Kathrin:

“Ich habe schon mein Gehalt falsch gesagt, weil ich sonst das Gefühl hatte, ‘oh Gott, das klingt sonst nach so viel’. Und auf der anderen Seite Typen getroffen, die dann total eingeschüchtert von dem waren, was ich gemacht habe, was dann auch irgendwann nicht mehr so richtig sexy ist. Irgendwie so ein bisschen die goldene Mitte oder einfach jemand auf Augenhöhe, fand ich immer total schwierig. Und dann habe ich angefangen, ein bisschen zu recherchieren und habe gemerkt: ‘Ach krass, die Wissenschaft und die Statistiken, die sind noch viel schlimmer, als ich dachte!’ Also das Problem ist eigentlich nicht nur eine gefühlte Wahrheit, sondern noch viel krasser, als ich gedacht hatte. Weil wir denken ja auch, die Welt dreht sich weiter, wir sind doch jetzt alle so aufgeklärt, wie kann das denn noch ein Problem sein? Aber ja, es ist auch statistisch erwiesen eins.”

Liberalisierung hin oder her: Männliche Vorherrschaft begegnet uns auch weiterhin in unseren sexuellen Skripten, in den Bildern, die wir von Liebe, Sex und Intimität haben, ebenso wie in den sozialen Rollen, durch die wir uns und andere begreifen. In der Recherche für ihr Buch “Der Gender-Dating-Gap und die Liebe”, hat es Anne-Kathrin überrascht, wenn nicht gar schockiert, wie schwer es uns beim Dating scheinbar nach wie vor fällt, alte Rollenbilder loszulassen:

“Also Frauen suchen immer noch Männer, die größer sind und andersrum. Da gab es zum Beispiel eine witzige Studie, in der untersucht wurde, wie Frauen sich auf Online-Dating Plattformen auf ihren Fotos präsentieren. Und tatsächlich fotografieren sie sich so, dass sie besonders klein wirken. Und Männer fotografieren sich so, dass sie besonders groß wirken. Also auch so vom Winkel, mit dem man sich selbst aufgepumpt, was ich total witzig fand. Aber vor allen Dingen in den Statistiken findet man viel zum Thema, was passiert, wenn eine Frau eigentlich mehr Geld verdient. Da gab es zum Beispiel eine total interessante Studie, die gezeigt hat, dass Männer am meisten gestresst sind, wenn sie der Alleinverdiener sind. Was total klar ist, weil das natürlich mit sehr, sehr viel Verantwortung einhergeht. Und dann, umso mehr Geld die Frau verdient, umso besser geht es Ihnen erstmal. Bis wir so ankommen bei dem Punkt, wo Frauen rund 40 Prozent verdienen und Männer 60 Prozent. Und ab dann kippt’s weiter. Wenn die Frau dann gleich viel verdient oder mehr verdient, dann ist der Mann schon wieder gestresst und das ist ja irgendwie total absurd, weil eigentlich würde man ja denken, das ist doch total gut. […] Am Ende des Tages geht es glaube ich doch vielen aufs Ego, weil es eben immer noch die alten Rollen sind, die in uns allen stecken. Genauso stecken die ja auch in uns Frauen. Wir können uns ja auch nicht einfach am Ende des Tages total freimachen. Es gibt genauso viele Statistiken darüber, dass die Mehrheit der Frauen immer noch erwartet, dass der Mann beim ersten Date zahlt. Aber es steckt, glaube ich, schon immer noch in uns allen drin am Ende des Tages. Und ich glaube, dass die Rollen einfach noch nicht so neu verteilt sind. Früher war es alles total easy, der Mann macht den ersten Schritt, der Mann meldet sich exakt drei Tage später – der Mann initiiert sozusagen. Und wenn man diese klaren Regeln nicht mehr hat wie früher, dann sind alle ein bisschen lost. Und daraus sind neue Regeln und Rituale zu entwickeln, und das wird einfach so ein bisschen seine Zeit brauchen.”

“Let’s drop the Script – Make Romance Equal”, mit diesem Slogan wirbt aktuell die Dating-App Bumble. Hier machen Frauen den ersten Schritt. Die Idee dafür hatte Whitney Wolfe Herd. Nachdem sie 2014 Tinder verlassen und das Unternehmen wegen sexueller Belästigung und Dis­kriminierung verklagt hatte, gründete sie Bumble. Denn für Whitney war klar: Wenn eine Frau beim Dating nicht gleichberechtigt sein kann, wie kann sie dann im Leben gleichberechtigt sein? Heute sind mehr als 100 Millionen Nutzer*innen auf der Dating-App registriert – das Konzept, Frauen machen den ersten Schritt, scheint aufzugehen. Und auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es swiped und matched sich in jedem Fall angenehmer, ohne dabei mit Dickpics konfrontiert zu werden – denn die werden von Bumble ausgefiltert. Nichts desto trotz, frage ich mich: Wird damit nicht aus einem strukturellen, ein individuelles Anliegen gemacht? Indem Frauen jetzt quasi die Verantwortung zugeschrieben wird, selbstbewusster zu werden und den ersten Schritt zu machen? Erzeugt das nicht auch wahnsinnig viel Druck? Und vor allem: Profitieren nicht insbesondere Männer von der neuen Bequemlichkeit?

“Witzigerweise eine der allerersten Kampagnen, die Bumble in Deutschland gefahren hat, hatte den Slogan ‘Für faule Männer und forsche Frauen’. Was? Ja, total crazy! Also was ja wieder in so ein Ding rein geht, wenn eine Frau, die den ersten Schritt macht, als ‘forsch’ bezeichnet wird. Das ist auch nicht besonders sexy oder cool. […] Es gibt sogar Statistiken, die zeigen auf, wenn Frauen den ersten Schritt machen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Antwort zu bekommen, übrigens sinkt. […] Und gleichzeitig glaube ich, dass sowas schon helfen kann, das auch mal zu üben. […] auch so ein bisschen sozusagen gezwungen wird, aus einer Rolle rauszukommen.”

Ohne Zweifel, Emanzipation und sexuelle Liberalisierung stellen einen wichtigen gesellschaftlichen Fortschritt dar – gleichzeitig ist Sexualität heute gewiss nicht die Quelle von Befreiung allein, sondern vor allem ein gewaltiger Markt, der auf eines abzielt: Überfluss. Wer nicht ständig auf der Jagd nach dem nächsten sexuellen Reiz, der Auslebung seiner Freiheit und Individualität ist, scheint etwas zu verpassen. Von einer Möglichkeit ist sogenannte “Sexpositivität” heute zu einem Imperativ geworden. Und das gilt im besonderen Maße für Frauen, meint Autorin und Journalistin Ann-Kristin Tlusty. Ihr zufolge wird eine selbstbewusst ausgelebte weibliche Sexualität, zumindest oberflächlich, nicht länger tabuisiert, sondern sogar als Gradmesser für Emanzipation gefeiert. „Ganz im Sinne des Songs der Spice Girls – ‚I’ll tell you what I want, what I really, really want‘ – gilt Selbstkenntnis als das Nonplusultra souveräner weiblicher Sexualität.“ Das mag im ersten Moment verlockend klingen, Ann-Kristin Tlusty sieht das allerdings nicht ganz unkritisch: 

“Ich glaube, dass dieses Wissen, was man will, ja nicht nur in Bezug auf Sexualität wichtig ist, sondern im sogenannten ‘Potenzfeminismus’, wie ich ihn in meinem Buch nenne, grundsätzlich gefeiert wird. Also Frauen sollten genau wissen, wie sie ihr Leben, ihre Finanzen, ihre Beziehungen und eben auch ihre Sexualität gestalten wollen. […] Ich denke, dass hier Druck entstehen kann, gerade für jüngere Frauen. Also nach dem Motto: Wenn du eine richtig gute Feministin sein willst, dann musst du auch die Freiheiten, die Generationen von Frauen vor uns erkämpft haben, nutzen. Dann musst du viel Sex haben.”

Es ist schon spannend, dass der moderne Kapitalismus sich so sehr um die weibliche Sexualität “sorgt”. Ständig bringt er neue Innovationen für unsere klitorale und vaginale Lust hervor, um die sogenannte „Orgasm Gap“ zu schließen, den statistisch nachgewiesenen Vorsprung männlicher Orgasmen auf der Skala heterosexueller Befriedigung. Nichts gegen vibrierende und saugende Sextoys, aber die Idee, Gleichberechtigung vor allem durch selbstbewusst ausgelebte Sexualität erreichen zu können, erinnert eher an „libidinöse Symptombekämpfung“. Nur, weil Sex omnipräsent ist, bedeutet es noch lange nicht, dass er befreit ist. Vor allem, wenn die vermeintliche Befreiung auf Konsum und einer „Struktur der Selbstbeschuldigung“, wie es die Philosophin Eva Illouz nennt, beruht. Was im Grunde besagt: Nicht Strukturen bremsen Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung, sondern ein Mangel an Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Eine junge Frau, die nicht kinky ist, gilt nach dieser Logik schlicht als prüde, meint Ann-Kristin. Auch, dass Frauen, ebenso wie Männer, unverbindlichen Gelegenheitssex suchen, erscheint heute vollkommen normal, gilt nahezu als Merkmal einer unabhängigen, progressiven Frau. Nur was, wenn Autonomie zum Imperativ wird, statt zur freien Wahl? Was, wenn ich mich nicht nach Gelegenheitssex, sondern nach einer festen Beziehung sehne, dann aber als bedürftig und abhängig gelte? 

“Die Herausforderungen an ein autonomes, erfolgreiches Individuum bewältigend, ist die einsame junge Frau zu einer Projektionsfläche geworden. Eine Ikone der Selbstbestimmung, eine Trümmerfrau der Moderne, die alles mit eigenen Händen schafft und schultert, bewundernswert, bemitleidenswert”, schreibt Nina Paur in der ZEIT. Die Botschaft, dass Frauen frei, autonom und selbstbewusst sein sollen, verkennt, welche Rolle sie auch heute noch in der Gesellschaft einnehmen. Dass Frauen nach wie vor den Löwenanteil der Care-Arbeit stemmen und natürlich die Reproduktion. Es spricht selbstverständlich nichts dagegen, als Frau von One-Night-Stands Gebrauch zu machen, aber zu Gleichberechtigten macht uns dann allein noch nicht.

In Ihrem Buch „Süss. Eine feministische Kritik“ fordert Ann-Kristin Tlusty deshalb, Feminismus nicht länger nur als „Lifestyle-Projekt“ und individuelle Aufgabe von Frauen zu betrachten, sondern als gesamtgesellschaftliches Projekt:

“Ich glaube, was vielen sexual-politischen Debatten momentan innewohnt, ist eine irgendwie vereinzelte Vorstellung von Sexualität. Also man soll wissen, was man will, man soll eindeutig Ja oder nein sagen. Das wird gerade Frauen sehr stark suggeriert. Und so wichtig ich diese Stoßrichtung auch finde, so schematisch finde ich sie gleichzeitig auch. Und deswegen plädiere ich für ein ganz anderes Verständnis von Sex. Also dafür, dass wir Sex stärker als etwas begreifen, was zwischen zwei oder mehr Menschen passiert. Etwas, was Menschen miteinander entstehen lassen, als etwas Intersubjektives und nichts, was A und B jeweils für sich geklärt haben und dann miteinander vollziehen. Ich finde das einfach sehr technisch. […] Ich würde mir wünschen, dass wir von dieser vielleicht nur so subtil zur Vorschein kommenden Idee wegkommen und da einfach mehr Freiheit gewinnen können. Also im Sinne von, dass einfach alles, von absoluten Zölibat bis hin zu wahnsinnig viel Sex haben als gleichermaßen feministisch gelten kann. Oder noch besser, erst gar nicht so gelabelt werden muss. Ich kann einfach von sehr vielen Frauen in meinem Umfeld Schilderungen, dass man so in seinen frühen Zwanzigern gedacht hat, dass sei man jetzt irgendwie seiner eigenen feministischen Agenda schuldig, sich sexuell voll auszutoben. Und ich glaube, dass das noch nicht Freiheit bedeutet. Ich glaube, frei ist man dann, wenn man sich da einfach in jeglicher Richtung entfalten kann.”

Weder unsere Sexualität noch unsere Kommunikation sind „herrschaftsfreie Sphären“, sondern von Drehbüchern geprägt, die wir nicht einfach vergessen, sehr wohl aber hinterfragen können. Insbesondere in der Betrachtung von Dating, und vor allem heterosexuellem Dating, können wir, so Ann-Kristin, eine ganze Menge über Geschlechter- und Machtverhältnisse lernen. Und, oh Wunder, wer hätte das gedacht, die machen sich natürlich auch in Dating-Apps bemerkbar. Schließlich ist Tinder kein wertfreier digitaler Raum, abgekoppelt von gesellschaftlichen oder ökonomischen Normen. Auch hier werden unter anderem patriarchale und heteronormative Prägungen reproduziert. Auf der anderen Seite, kann Online-Dating uns auch einen selbstbestimmteren Zugang zu Sexualität und Intimität sowie Sichtbarkeit und Sicherheit für marginalisierte Personen schaffen. Es kommt eben darauf an, wie wir Dating-Apps nutzen. Pia bleibt deshalb ein Fan von Online-Dating – nicht zuletzt, weil sie nach wie vor auf der Suche nach dem perfect fit ist: 

“Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder? Quatsch. Ich finde das immer ein bisschen schwierig, weil das einzige, worin sich online und offline Dating unterscheiden, ist ja dieser Erstkontakt. Sobald er online stattgefunden hat, verlagert sich das ganze ja sowieso ins offline Leben. Und da online halt auch nur die Menschen aktiv sind, die man auch im offline Leben theoretisch treffen kann – das sind auch alles ganz normale Menschen – kann man sich da auf jeden Fall auch verlieben? Na klar! Ob online oder offline ein besseres Dating ist, das finde ich super schwer zu sagen. Ich bin auf jeden Fall ein Fan von Online Dating, einfach weil man da viele Leute kennenlernen kann und ich ja in meinem Homeoffice sonst nur die Auswahl zwischen meinem Nachbarn habe und ja, dem netten Lieferanten, der mein Curry vorbeibringt.”

19. Juli 2022
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