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Grenzen

Wie solidarisch sind wir wirklich?

von Marilena 16. August 2022

Die Forderung nach Solidarität hat seit Jahren Hochkonjunktur. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. In ihrem Kommentar stellt Gastautorin Isabell Leverenz den Solidaritätsbegriff auf die Probe und kommt zu dem Ergebnis: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Azimipour, Sanaz (2022): Rassismus als Infrastruktur. Missy Magazine. 54-58.
► Missy Magazine (2022): Krieg und Flucht. 47-60.
► Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (2019): Was heisst »#Unteilbar« für eine Sammlungsbewegung? Interview mit Hengameh Yaghoobifarah. Belltower News.
► Struwe, Alexander (2019): Was ist emanzipatorische Solidarität?
► Lessenich, Stephan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Reclam. 
► Susemichel, Lea; Kastner Jens (2021): Unbedingte Solidarität. Unrast. 7-11.
► Hausbichler, Beate (2022): Lea Susemichel und Jens Kastner: „Identitätspolitik war zunächst eine Notwehrreaktion“. Der Standard.
► ELES (2021): Plurale Erinnerungskultur: Gemeinsames Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft?, YouTube.
► Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben. R. Piper & Co. Verlag. 173.
► Hark, Sabine (2021): Flucht und Migration. Wir brauchen ein neues Ethos der Solidarität. Deutschlandfunk Kultur.
► Jaeggi, Rahel (2021): Solidarität und Gleichgültigkeit. In: Susemichel, Lea; Kastner Jens: Unbedingte Solidarität. Unrast. 49-66.

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 

Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

“Solidarität (von lateinisch solidus “echt, fest“) […] bezeichnet eine zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit […] Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus. Der Gegenbegriff zur Solidarität ist die Konkurrenz.” So lautet zumindest die Definition auf Wikipedia. Gleichgesinnte oder Gleichgestellte, für sie gilt also das Prinzip der Solidarität. Aber was macht uns zu “Gleichen”? Was verbindet uns? Und zeigen wir uns als Menschen wirklich nur dann solidarisch mit anderen, wenn sie uns ähneln – ob aufgrund der Herkunft, des Geschlechts, der Sprache oder politischen Einstellung?

Angesichts einer Omnipräsenz der Forderung nach Solidarität, hat sich Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz gefragt, wie solidarisch wir aktuell wirklich sind. Ob Solidarität tatsächlich eine Praxis unter “Gleichen” sein muss oder, ob sie nicht viel weiter gehen kann und sollte? Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? Dabei kommt sie zu dem Schluss: Solidarität braucht einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Was das genau bedeutet, erzählt Isabell Leverenz in ihrem Kommentar.

Es ist Sonntag und ich blättere durch die neue Ausgabe des Missy Magazins. Mein Blick bleibt an einer Fotografie der Fotojournalistin Sitara Thalia Ambrosio hängen. Darauf zu sehen, ist ein Bus. Dort, wo für gewöhnlich die Nummer der Buslinie oder ihre Endstation zu lesen ist, steht in orangefarbener Schrift: »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt«. Der Bus wurde von einem Zusammenschluss gemeinnütziger Organisationen bereitgestellt, der Geflüchtete aus der Ukraine nach Berlin bringt, wie die Bildunterschrift verrät. Der orange leuchtende Schriftzug erinnert mich an den Slogan »Defend Solidarity« der Organisation Sea Watch, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden an Europas Grenzen verschrieben hat. Ob »Gemeinsam mobil für eine solidarische Welt« oder »Defend Solidarity«: Beide Slogans eint, dass Solidarität buchstäblich in Bewegung zu kommen scheint – oder in Bewegung kommen muss?! 

Zumindest habe ich den Eindruck, dass die Forderung nach Solidarität seit Jahren Hochkonjunktur hat. Sie ist zu einem Schlüsselbegriff, zum Leitwort gegenwärtiger Krisen geworden: Ob im Zuge der Pandemie, des Klimawandels oder des Angriffskriegs auf die Ukraine: Sie wird als unabdingbar erklärt, sie wird proklamiert, sie wird getwittert. Und zweifelsohne ist Solidarität in bewegten Zeiten wie diesen elementar. Zeitgleich zeigen sich auch ihre Begrenzungen. Darin, dass überfüllte Lager für Geflüchtete zu Beginn der Pandemie, wenn überhaupt, nur schleppend evakuiert werden oder sich an den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter*innen in Schlachthöfen nichts ändert. Dass man Überlastetem Gesundheitspersonal durch Beifall Sympathie zuträgt, anstatt sich für eine Verbesserung von deren Arbeitsbedingungen einzusetzen. Dass man Studierende of Color ohne ukrainische Staatsbürgerschaft während ihrer Flucht vor Polens Grenzen abweist. Indes ist man sich aber europaweit einig, dass die Menschen aus der Ukraine Solidarität verdienen und ihnen schnellstmöglich und unbürokratisch geholfen werden muss. Dabei stoße ich immer wieder auf das gleiche Argument: »Die sind wie wir«, heißt es. Ich höre es beim Gespräch über den Gartenzaun, lese es im politischen Feuilleton und finde es in sozialen Netzwerken. Ukrainerinnen und Ukrainer seien schließlich Europäer*innen. Im gesellschaftlichen Common Sense scheint Solidarität eine Praxis unter Gleichen zu sein. Aber ist das wirklich so? 

Wie Sand zerrinnt mir diese Argumentation zwischen den Fingern: Wer ist denn eigentlich dieses solidarische »Wir«, von dem die Rede ist? Schließlich ist die Bevölkerung Deutschlands ja in sich bereits heterogen und vielfältig. In der selben Ausgabe des Missy Magazins, ein paar Seiten weiter geblättert, warnt die Aktivistin und Autorin Sanaz Azimipour vor dem entstandenen paneuropäischen Nationalismus, der die Ukraine als Vielvölkerstaat ausblendet und die Menschen und das Land als weiß und christlich labelt. Und ich erinnere mich, dass auch taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah vor einigen Jahren, aus meiner Sicht zurecht, beklagte, dass in Deutschland vor allem die weiße und nicht die antirassistische, feministische und anti-antisemitische Solidarität überwiege. 

Mir scheint, Solidarität ist hier selektiv, sie gilt nicht für alle im selben Maße. Das, was gesamtgesellschaftlich als Tugend aufgefasst wird und wie ein »schillernder Gegenbegriff« zu Phänomenen der Krise wirkt, ist vielmehr selbst Teil einer regressiven Praxis. Solidarität drohe, so schreibt der Soziologe Stephan Lessenich bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie, zu einer folgenlosen »sozialen Wohlfühlkategorie« zu verkommen. Zu einer Worthülse, die nur bedingt hält, was sie verspricht. Kuschelkurs statt Schlagweite. Es stimmt, Krisen fordern den sozialen Zusammenhalt heraus und damit die Notwendigkeit, Solidarität im Kontext dieser Herausforderungen neu zu formulieren. Daher frage ich mich: Wie ließe sich eine Solidarität denken, die für alle gilt? 

Grundsätzlich, so fasst es die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi zusammen, kann Solidarität als eine Praxis des »Füreinandereinstehens« verstanden werden. Wird an die Solidarität appelliert, wird ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Haltung erwartet. Doch scheint sich Solidarität dabei bislang vor allem in der Gleichheit zu entfalten. Sie wird damit exklusiv. Bereits in den 90ern plädierte die feministische Denkerin Diane Elam für eine sogenannte »groundless solidarity«, eine unbegründete Solidarität, die nicht der Gleichheit, sondern Vielfalt und Diversität Rechnung trägt. Sie zielt darauf ab, kein vorgegebenes Wir, keine Gemeinschaft zur Voraussetzung von Solidarität zu machen. Gemeint ist hiermit nicht, sich stets vollkommen grundlos solidarisch verhalten zu müssen, sondern, dass gemeinsame Erfahrungen nicht vorausgesetzt werden sollten. »Unbedingte Solidarität«, so schreiben auch Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrem gleichnamigen Sammelband, beruhe nicht auf Gleichheit, sondern auf Differenzen. Es ginge nicht um die Parteinahme für Meinesgleichen, sondern darum, mit Menschen in solidarische Beziehung zu treten, mit denen ich gerade nicht den Berufszweig, das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teile. Eine emanzipatorische Solidarität, entkoppelt von ökonomischen, politischen und kulturellen Grundlagen. Und wer meint, bei dieser Perspektive handle es sich um eine Utopie, dem rate ich einen Blick in die Geschichte der Solidarität: Bereits die Abolitionismus-Bewegung, also der Kampf gegen die Sklaverei, wurde nicht allein von Versklavten geführt; ebenso, wie sich auch Männer für Frauenrechtsforderungen einsetzten; der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika wurde auch von westeuropäischen Weißen unterstützt; die Organisation Lesbians and Gays Support the Miners bestärkten den britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 80er Jahre. Umgekehrt marschierten die Minenarbeiter bei der Lesbian and Gay Pride Parade in London mit. 

Diese Solidarität ohne gemeinsamen Grund, betont Lea Susemichel, könne moralisch, humanistisch oder sozialrevolutionär motiviert sein. Nicht aber durch Ähnlichkeit oder Gleichheit. Es gehe vielmehr um den Einsatz für andere und um die gemeinsame Verantwortung für strukturelle und soziale Ungerechtigkeit. Auch dann, wenn man selbst vordergründig nicht davon zu profitieren scheint. Solidarität ist keine Gegebenheit von Natur aus, sie entwickelt sich nicht ‚ganz natürlich‘. Solidarität ist eine Entscheidung, sie ist politisch. Als Beziehung zwischen Menschen muss sie immer wieder aufs Neue ausgehandelt, gelernt und gelebt werden. Ähnlich wie Demokratie, die nicht einfach gegeben ist, sondern die es gegenüber antidemokratischen Strukturen und Ideologien immer wieder zu verteidigen gilt. Eine solidarische Haltung erschöpft sich dabei nicht in Form einer emotionalen Anteilnahme am Leid anderer oder in der Hilfe sogenannter »Schwächerer«. Es geht vielmehr darum, gemeinsam und auf Augenhöhe Strukturen zu transformieren, die Ungleichheiten hervorbringen oder bereits Bestehende manifestieren.  

Vor kurzem lauschte ich einer Rede des Judaisten Frederek Musall. Darin ging es um die Frage, wie Vergangenheit neu erzählt werden kann, um die Vielfalt der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Dies gelinge, so Musall, wenn Erzählkulturen in ihren Unterschiedlichkeiten und Verletzlichkeiten ernst genommen würden. Diese  Voraussetzungen, bin ich der Meinung, lassen sich ebenso gut auf solidarisches Handeln übertragen. Um Veränderungen zu erzielen, müsse die etablierte Ordnung der Dinge durcheinander gebracht werden: »Es wird dringend Zeit für einen Remix« sagt Musall. Seine Wortwahl rührt daher, dass er sich der Hip-Hop Musik bekannter Kollektive als philosophischem Denkbild bedient, um seinen Standpunkt zu untermalen. Die mitgeführte Hip-Hop-Metapher lässt sich, meiner Auffassung nach, auch treffend auf Solidarität, die ebenso einen solchen Remix nötig hätte, übertragen. Denn Hip-Hop war und ist Protest. Er vermag es, Solidarität mit benachteiligten oder ausgegrenzten Menschen zu verkörpern. Nicht zufällig wurde Rap-Musik nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 zum Soundtrack der Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus. In der frühen Rap-Kultur diente Hip-Hop Minderheiten als Sprachrohr, deren Geschichten nur wenig oder keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhren. Er kann stellvertretend dafür stehen, wie emanzipatorische Solidarität aussehen kann. In einem Hip-Hop-Song, an dem mehrere Künstler*innen beteiligt sind, so Musall, komme eine »narrative Polyphonie« zum Ausdruck, in der unterschiedliche Erzählungen aufeinandertreffen. Oder anders gesagt: In einem Song können Erzählungen aufeinandertreffen, die jeweils aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungshorizonten erzählt werden. Arrangiert ergeben sie eine Komposition. Das, was die unterschiedlichen Parts eines Songs miteinander verbindet, so Musall, sei weder Inhalt noch Form, sondern ein Arrangement, strukturiert durch Beat und Rhythmus. Sich als Musiker*in in einen Beat einzubringen, erfordert nicht nur Timing und Präzision, auch Achtsamkeit im Hinblick auf Stimme, Betonung und Takt – ein Gefühl für den Flow. Sowohl für den Eigenen, als auch für den der anderen Beteiligten. Wer im Flow ist, kann in die Hookline, den Refrain, einstimmen und durch das Hinzufügen der eigenen Stimme die Aussage der anderen verstärken. 

Folgen wir der Metapher der Polyphonie, so gründet solidarische Praxis nicht auf gemeinsamer Identität, sondern bringt diese überhaupt erst hervor – und das durch gleichberechtigtes und wechselseitiges Ein- und Mitmischen aller Beteiligten. Solidarität erfordert demnach eine Hinwendung zum Anderen als selbstbestimmtes, eigenständiges Subjekt. Dessen Differenz und Autonomie erst anerkannt werden muss, bevor gemeinsame Ziele formuliert werden können. Diese Ziele wiederum, ergeben ein gemeinsames Interesse, oder das, was die politische Philosophin Hannah Arendt als »inter-est« bezeichnet. Der Begriff ist durch einen Bindestrich getrennt; die einzelnen Bestandteile »inter« (zwischen) und »est« (sein) werden durch ihn aber gleichzeitig als zusammengehörig, als »interest«, markiert. Arendt zeichnet ein symbolisches Bild, um zu verdeutlichen, was sie mit »inter-est« meint: Darauf abgebildet, ist ein runder Tisch, der diejenigen, die an ihm Platz gefunden haben, sowohl voneinander trennt, als auch miteinander verbindet. Durch den Tisch entsteht ein Dazwischen, ein Bezugssystem, in dem Menschen ihren Interessen nachgehen. Wenn wir solidarisch handeln wollen, dürfen wir uns demnach nicht mit Polyphonie als bloßem Nebeneinander begnügen. Vielmehr sollten wir gezielt danach suchen, wie die unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven aufeinander bezogen werden können. Wenn man so will, dann braucht Solidarität einen Beat, den wir gemeinsam ausgestalten und komponieren müssen. Ein Bewusstsein und Vergegenwärtigung für Anwesenheit, Differenz und Bedürfnis. Einen Beat, der uns herausfordert, an unseren Gewohnheiten und Ansichten zu arbeiten und das gleichzeitige Existieren unterschiedlicher Bedürfnisse auszuhalten. Denn es sind letztlich die Vielfalt der Stimmen, der Streit um Differenz, die etwas bewegen können.

»What we need is awareness, we can’t get careless«, lauten zwei Zeilen aus Fight the Power des US-Amerikanischen Hip-Hop Kollektivs Public Enemy. Auch, wenn der Song bereits 1989 geschrieben wurde, besitzt er für mich auch heute noch Aktualität. Denn er besagt etwas so Einfaches und Wichtiges zugleich: Aufmerksamkeit, »awareness« ist das Gebot der Stunde. Gegenüber sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Entrechtung. Aber auch Aufmerksamkeit gegenüber einer Solidarität, die statt Vielfalt nur das vermeintlich Gleiche schützt. Die exkludiert, statt zu vereinen. Wir sollten uns bewusst sein, dass sich solidarisches Handeln gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Kontexten immer wieder anpassen muss. Für mich heißt das auch, dass wir mehr solidarische Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen und Differenzen hinweg brauchen, im Kampf für eine gerechte Gesellschaft. Solidarität braucht ein Fundament, um nicht nur Phrase zu sein. Sie braucht einen Beat.    

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn der Beitrag euch gefallen hat, dann teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Darüber hinaus, würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir auf Werbung verzichten und gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

16. August 2022

Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

von Henrietta Clasen 3. August 2021

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, so Aktivistin Carola Rackete, die als Kapitänin der Sea-Watch 3 mit 53 libyschen Geflüchteten im Juni 2019, entgegen den Anweisungen des italienischen Innenministeriums, im Hafen von Lampedusa anlegte. Für die meisten wirkt ihr Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde. Auch, wenn Racketes Geschichte durch die mediale Präsenz große Bekanntheit erfuhr, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetze auflehnt und damit viel aufs Spiel setzt. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Mit Ihrer Kampagne unter dem Motto „Veränderung beginnt bei uns“ will das Unternehmen für die Vermeidung von Retouren sensibilisieren – weil es nicht egal ist, wie und wo wir bestellen. Mehr Infos erhaltet ihr hier.

► Carola Rackete: “Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation”. Droemer Knaur (2019).
► Ihr findet Carola auch auf Twitter.
► Rettet Menschenleben, indem ihr die zivile Seenotrettung Sea-Watch e.V. unterstützt!
► Auch hörenswert: Interview im Sinneswandel Podcast mit Erik Marquardt “Kann Solidarität grenzenlos sein? Über Hoffnung auf Europäische Lösungen und Menschlichkeit” (11/2020).

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
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Transkript: Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

*Werbung*: Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Ganze 238.000 Tonnen CO2 wurden im deutschen Online-Handel 2018 für vermeidbare Rücksendungen ausgestoßen. Daher werden bei OTTO 95% aller OTTO-eigenen Retouren wieder aufbereitet, da sie neuwertig sind und wieder in den Verkauf gehen können. Lediglich 0,5% aller zurückgeschickten Artikel lassen sich nicht mehr als neuwertig verkaufen und werden dann an Firmen weitergeleitet, die sich auf den Verkauf sogenannter B-Waren spezialisiert haben. Und am besten ist es natürlich, wenn wir Retouren erst gar nicht entstehen lassen. *Werbung Ende*.

Es ist der 29. Juni 2019. Im Hafen von Lampedusa, der südlichsten Insel Italiens, geht eine Frau von Board eines Schiffes. Nicht irgendein Schiff und nicht irgendeine Frau. Es ist die damals 31-jährige Kapitänin und Aktivistin Carola Rackete, welche die Sea-Watch 3 verlässt – allerdings nicht allein. Mit ihr an Bord befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch 40 libysche Geflüchtete. Carola Rackete und ihre Crew hatten die Menschen am 12. Juni aus dem Mittelmeer geborgen, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Also bereits 17 Tage, bevor die Sea-Watch 3 in Lampedusa anlegte – ohne Erlaubnis, denn die wurde den Seenotrettern von der italienischen Behörde verweigert. 

Doch anstelle sich von den Worten des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini einschüchtern zu lassen, beschließen Carola Rackete und ihre Crew, ungeachtet der Verweigerung der italienischen Behörde, dennoch einzulaufen. Nicht zuletzt, weil die humanitäre Lage an Bord der Sea-Watch 3 sich immer weiter zuspitzt. Da das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen bestimmt, dass Gerettete an einen sicheren Ort gebracht werden müssen, steht für Rackete fest: Sie werden im 250 Seemeilen entfernten italienischen statt dem libyschen Hafen, der nur 47 Seemeilen entfernten ist, anlegen – weil Libyen, wie auch die EU-Kommission erklärt, kein sicherer Ort für Schiffbrüchige sei. Entgegen den Anweisungen der Guardia di Finanza, die noch versucht das Anlegen zu verhindern, läuft die Sea-Watch 3 in der Nacht vom 29. Juni im Hafen von Lampedusa ein. Als die Kapitänin das Boot verlässt, wird sie nicht nur mit Applaus, sondern auch mit Beleidigungen der lokalen Bevölkerung empfangen. Der Kapitänin drohen nun im Zweifel bis zu 50.000 Euro Geldbuße sowie bis zu zehn Jahre Haft. Der Vorwurf lautet: Verweigerung des Gehorsams gegenüber Vollstreckungsbeamten, Leistung von Widerstand gegen ein Kriegssschiff sowie unerlaubtes Einfahren in italienische Hoheitsgewässer. Noch in derselben Nacht wird Carola Rackete verhaftet und unter Hausarrest gestellt, die Sea-Watch 3 beschlagnahmt. Salvini twittert derweil: „Mission erfüllt! Verbrecherische Kapitänin festgenommen, Piratenschiff beschlagnahmt, Höchststrafe für die ausländische Nichtregierungsorganisation.“

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit, für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, das hatte die Kapitänin bereits am Tag zuvor der taz in einem Interview gesagt. Für die meisten von uns wirkt dieses Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde – nicht viele würden vermutlich ein solches Risiko eingehen. Zwar wurde am 19. Mai 2021, also fast zwei Jahre danach, das Verfahren gegen Carola Rackete eingestellt – es hieß, die Kapitänin habe mit ihrem Vorgehen ihre Pflicht erfüllt, weshalb das Anlegemanöver nicht als Widerstand gegen ein staatliches Schiff eingestuft werde –  doch dieser Ausgang war keineswegs sicher. Was also hat Carola Rackete dennoch dazu bewogen, dieses Risiko einzugehen? Auch, wenn ihre Geschichte durch die Präsenz in den Medien eine große Bekanntheit erlangte, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetz aufgelehnt hat und damit viel aufs Spiel setzte. Als “ziviler Ungehorsam”, wird der Protest auch bezeichnet, den Menschen im Namen der Gerechtigkeit austragen. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

“Ich glaube, dass es sehr häufig einen Unterschied gibt, zwischen der innen Wahrnehmung und der Außenwahrnehmung so einer Aktion. Wo von außen vielleicht etwas als überraschend wahrgenommen wird, während es innerhalb der Leute, die informiert sind, schon vollkommen klar ist, was passiert. Das heißt, als ich 2019 als Kapitän der Sea-Watch 3 verhaftet wurde, war es so, dass mir natürlich zu Beginn dieser Reise klar war, dass es ein Strafverfahren geben würde. Dieses Strafverfahren ist nicht zufällig entstanden. Der Kapitän, der vor mir an Board war, hat eigentlich genau das gleiche gemacht wie ich, er ist aber unbekannt geblieben und hat auch ein Untersuchungsverfahren gegen sich laufen. Deswegen war es auch, auf Grund der politischen Situation, vollkommen klar, dass es bei mir ähnlich sein würde. Aktivismus erfordert, insbesondere, wenn es sich um Aktionen des zivilen Ungehorsams handelt, gute Vorbereitung. Und zwar sowohl im Inhalt bezüglich der Aktion, als auch juristisch und psychologisch. Man sollte sich wirklich bewusst sein, warum man etwas macht, warum man es wichtig findet und sollte möglichst nicht unbedacht in eine Aktion hineingehen. Ich möchte nochmal das Beispiel von Rosa Parks bringen, die ja selbst in Europa häufig bekannt ist. Sie war während des Civil Rights Movements eine Frau, die dafür bekannt wurde, dass sie als Schwarze Person im Bus saß und dann ihren Platz nicht hergeben wollte, obwohl weiße Fahrgäste zugestiegen sind und dann auch verhaftet wurde. Und in der Folge davon entstanden diese Montgomery Bus Boycotts – das heißt, die gesamte Busfirma wurde boykottiert in der Stadt. Diese Episode war ein wichtiger Teil in der Bürgerrechtsbewegung. Und viele Leute denken, dass Rosa Parks zufällig verhaftet wurde. Dass sie einfach an dem Tag, wo sie verhaftet wurde, in diese Situation geraten ist und sich dann entschieden hätte, nicht aufzustehen. Tatsächlich ist es aber so, dass Rosa Parks über Dekaden in der Bewegung für Rechte Schwarzer Menschen involviert war. Dass sie Training erhalten hat – sie war zum Beispiel am Highlander Institut – ein Institut, wo viele Aktivisten politisiert wurden, wo auch Martin Luther King und andere sehr bekannte Personen der Bürgerrechtsbewegung vor Ort waren und sich mit den Aktivisten fortgebildet haben. Den gleichen Protest hat sie schon einmal versucht und dabei kam es nicht zu einer Reaktion der Zivilgesellschaft. Das heißt, unser Bild von Rosa Parks heute ist sehr weichgespült. Wir sehen das als Zufall, wobei sie politisch organisiert war. Sie war gut vorbereitet, sie hatte Netzwerke und sie wusste ganz genau, was sie getan hat. Und das ist für heutiges politisches Handel, für Aktivismus, essentiell. Wir müssen uns vorbereiten. Wir sollten auf keinen Fall ohne gute Unterstützung in solche Aktionen hinein gehen.”

Was für Außenstehende also oft nach spontaner Aktion, nach mutigen und selbstlosen Held*innen aussehen mag, dahinter stecken in der Realität sehr viel öfter eine ganze Reihe von Menschen mit gut organisierten Strukturen und klar durchdachten Plänen. Bei Extinction Rebellion Deutschland, zu deren Unterstützerinnen auch Carola Rackete gehört, sind es beispielsweise über 110 Ortsgruppen, die eigenständig agieren, Aktionen planen und durchführen. Das Presseteam von Extinction Rebellion arbeitet hochprofessionell, es gibt Chat-Gruppen, die Journalist*innenen über geplante Aktionen informieren. Die Aktivist*innen agieren nicht incognito, sie suchen die Öffentlichkeit, haben sogar eigene Fotografen und Kamerateams dabei. Das können sich längst nicht alle, die aufbegehren und zivilen Ungehorsam betreiben, erlauben. Viele Aktivist*innen kennen wir gar nicht, so Rackete, da sie sich verstecken müssen, um nicht ihr Leben zu riskieren.

“Wichtig ist, dass wir uns unserer Privilegien bewusst sind, die wir als weiße Menschen in Europa haben. Wir sind in Ländern, in denen wir Aktivismus machen können, ohne große Gefahr für unsere Unversehrtheit erwarten zu müssen, wo wir großen Einfluss auf die Industrieländer, nämlich auf die Länder, wo Emissionen verursacht werden, wo die Hauptsitze von Firmen sind, die Übersee Ökosysteme zerstören. WIr haben viel mehr Möglichkeiten uns einzusetzen, als Menschen in anderen Ländern und diese Möglichkeiten müssen wir auch wahrnehmen. […] Ich glaube, dann können wir auch erkennen, dass wir in unserer Situation für Aktivismus gar nicht besonders viel Mut brauchen.” 

Und die Frage ist ja auch, ob Aktivismus immer radikal sein muss. Gerade viele der Aktionen von Extinction Rebellion gehen einigen zu weit. Obwohl ihr oberstes Gebot “strikte Gewaltfreiheit” heißt. Damit knüpft die Bewegung an eine Tradition zivilen Ungehorsams an, die Störungen öffentlicher Ordnung dann als legitim ansieht, wenn sich eine große Anzahl an Bürger*innen ungerecht behandelt fühlt. Radikal ist Extinction Rebellion nur in ihren Forderungen – wobei, sind die Aktivist*innen das wirklich? Ist es radikal, wenn man für das Überleben von Menschen und Umwelt protestiert, oder ist es nicht vielleicht sogar radikaler, einfach stur weiterzumachen wie bisher?

“Wir sind im sechsten Massensterben der Arten, das erste was von den industriellen Gesellschaften ausgelöst ist, wir sind in einer Klimakrise – es scheint immer noch so, dass trotz der ganzen Versprechen, die wir überall hören, die großen Konzerne eigentlich nicht wirklich irgendwo im nächsten Jahre ihre Emissionen ändern wollen. Wir steuern also immer noch auf irgendwas zwischen 3-5 Grad zum Ende des Jahrhunderts Erderwärmung zu, was natürlich überhaupt nicht kompatibel ist mit dem Überleben der Gesellschaft, wie wir sie kennen. Und wenn wir sehen, wie dramatisch diese Lage ist, dann ist eigentlich das einzig radikale weiter zu machen, als sei nichts gewesen. Und dann müssen wir uns natürlich fragen, was sind die Machtstrukturen, die es überhaupt ermöglichen, dass diese Art von gesellschaftlichem Leben und Wirtschaften einfach so weitergeht, obwohl sie ganz offensichtlich die Lebensgrundlagen für Menschen und auch nicht menschliche Wesen auf diesem Planeten komplett zerstört und das innerhalb weniger Dekaden. Wenn wir uns das vor Augen führen, welche katastrophalen Konsequenzen es hat, wenn wir nicht handeln, dann ist der Aktivismus auch überhaupt nicht mehr radikal, sondern schlicht notwendig. Es ist wichtig, dass wir uns als Zivilgesellschaft auf verschiedene Art und Weisen. Aber wir können nicht einfach, sehenden Auges, auf dieses Kliff zu laufen, das immer näher kommt, wenn wir nichts tun. Das heißt, der Aktivismus ist in dem Sinne nicht radikal, sondern das einzig Vernünftige. Aktivismus darf meiner Meinung nach radikal sein, denn es gibt natürlich viele verschiedene Möglichkeiten, Aktivismus zu machen – z.B. die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, wir sehen viele Bürgerinitiativen, Verkehrsinitiativen für Radwegeausbau – alles mögliche. Und all diese Initiativen sind wichtig und sollten uns in die Richtung gesellschaftlicher Transformation bringen, die wir brauchen, um die ökologischen- und auch sozialen Probleme, die immer mehr zunehmen, zumindest abzumildern. Allerdings ist die Radikalität wichtig, um den gesamten Diskurs zu verschieben. Das heißt, nur wenn wir Gruppen haben, die auch radikal sind, die z.B. zivilen Ungehorsam nutzen oder wie im Dannenröder Wald Bäume besetzen oder Autobahnen blockieren, dann können wir es schaffen, dass andere Teile der Gesellschaft sich auch weiter in diese Richtung bewegen und sich der Diskurs in diese Richtung verschiebt. Das heißt nicht, dass alle Menschen Bäume besetzen müssen, aber dass es wichtig ist, dass es immer eine radikale Seite einer zivilgesellschaftlichen Bewegung gibt.”

Ob nun radikal oder nicht, für Aktivistin Carola Rackete ist eines unausweichlich: dass wir Handeln. Denn das Nicht-Handeln hätte größere Konsequenzen für uns, werde deutlich teurer, als wenn wir jetzt energisch anpackten.

“Wir müssen mehr darüber nachdenken, was die Konsequenzen davon sind, wenn wir nicht handeln. Häufig sehen wir ja, was uns auch in den Medien präsentiert wird, die angeblichen Kosten von Klimaschutz – weniger wird uns präsentiert, was die Kosten sind, wenn wir gar keinen Klimaschutz machen – das die viel größer und dramatischer sind. Das ist glaube ich ein wichtiger Punkt, dass wir uns bewusst werden, dass auch, wenn wir uns politisch nicht einbringen, dass das Konsequenzen hat und, dass das auch eine Entscheidung ist. Und, dass diese Entscheidung nichts zu Tun oder sich nicht öffentlich zu Äußern, nicht Teil dieser Transformation zu werden, dass das gravierende Konsequenzen hat. Nicht nur für Menschen, die jetzt schon von der Klimakrise betroffen sind, sondern natürlich auch für uns selber. In Deutschland ist die Klimakrise schon spürbar und sie wird immer schlimmer und das wissen wir bereits.”

Aber was bedeutet es überhaupt zu Handeln? Und wie erweist es sich als wirksam? Für die Philosophin Hannah Arendt bedeutete Handeln, als die höchste Form des Tätigseins, immer auch politisches Handeln. In ihrem wohl bekanntesten Werk, „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“, geht sie genauer darauf ein, was sie darunter versteht. Politisches Handeln unterscheidet sich bei ihr von „automatischen Prozessen oder zur Gewohnheit gewordenen Verfahrensweisen“, von einer „Welt, in der sich nichts ereignet“. Das politisch handelnde Subjekt allein, ist in der Lage, solche Prozesse zu unterbrechen, von ihm hängt es ab, ob der Raum der Pluralität als politischer Raum erhalten bleibt. Denn die Dinge sich selber zu überlassen, bedeutet, so Arendt, den Ruin von Zivilisation und Kultur. Dabei versteht die Philosophin politisches Handeln, nicht als die Machtergreifung Einzelner. Seit Plato, so Arendts Kritik, wurden Regierungssysteme als Herrschaftsformen verstanden, bei denen wenige über viele herrschen. Die Bestimmung von Politik als Handeln hebt diese Trennungen auf. Nicht Einzelne herrschen, sondern Menschen treten handelnd miteinander in Beziehung. Nichtsdestotrotz stellt politisches Handeln für Arendt keine moralische Verpflichtung, kein Opfer für die Aufrechterhaltung politischen Raums dar. Es ist vielmehr ein Impuls, der von Spontaneität und einer Lust am Handeln geleitet ist. Verantwortung sieht Arendt nicht nur als existenzielle Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit, sondern auch als eine Öffnung über die privaten Interessen hinaus in einer gemeinsamen Welt. Sie schreibt: “Verantwortung heißt im wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere folgen werden; in dieser Weise ändert man die Welt.“

Doch eine Frage bleibt: Was befähigt uns Menschen, diesen Handlungsspielraum zu entdecken, uns der eigenen Selbstwirksamkeit bewusst zu werden? Und ist es ausreichend, wenn wir alle paar Jahre unseren Wahlzettel in die Urne werfen, oder geht politisches Handeln darüber hinaus?

“Jedes Handeln ist politisch. Aber ich glaube eine viel größere Frage ist, ob wir in der Zivilgesellschaft verstehen, dass wir noch viel mehr und auch absichtlich organisiert uns politisch einbringen müssen. In Deutschland und auch Europa wird die politische Debatte eher über Wahlen geführt – also die Aufgabe der Bürger*innen sei es dann zur Wahl zu gehen oder sich selbst für ein politisches Amt zur Verfügung zu stellen und das sei dann die Art und Weise wie man politisch mitwirken könne. Und das ist natürlich grundlegend falsch. Wir sehen, dass es notwendig ist, sich auch anders politisch zu engagieren. Denn, obwohl es wichtig ist, zur Wahl zu gehen – ich kann ja nur für das abstimmen, was überhaupt im Parteiprogramm drin steht – und die Frage, wie ich das Parteiprogramm verändere, von außen, auch wenn ich nicht Mitglied dieser Partei bin, ist ganz essentiell. Wir sehen das hervorragend am Beispiel der Klimabewegung FFF, die in Deutschland ja die Parteiprogramme aller Parteien verändert haben, obwohl sie sich nicht hauptsächlich dadurch engagieren, dass sie in die Parteien eintreten und sie von innen verändern, sondern, dass das auch ein Prozess ist, der von außen passieren muss. Das Ganze wird vielleicht auch klar, wenn wir uns ansehen, wie Frauen an das Wahlrecht gekommen sind – sicher nicht, indem sie dafür selber abgestimmt haben. Insofern ist es glaube ich wichtig, dass wir politisches Handeln viel weiter definieren. Abgesehen von den naturwissenschaftlichen Fakten, mit denen wir in den Medien häufig konfrontiert werden, ist es wichtig uns dessen bewusst zu machen, wie soziale Veränderungen überhaupt funktionieren. Wie die sozialwissenschaftlichen Fakten, sind zur Transformation von Gesellschaften, wie sowas abläuft – dass es kein Umlegen eines Schalters ist, sondern ein Prozess, in dem Veränderung von einer kleinen Gruppe von Leuten angestoßen werden, der sich dann immer mehr Menschen anschließen. Dass es ein Prozess ist, bei dem wir versuchen müssen, dass alle Menschen Teil davon werden; dass alle Menschen etwas zu dieser Transformation, die wir unbedingt brauchen, um unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten zu erhalten, dass sie davon Teil sein müssen. Aber das wir auch umgekehrt die Machtstrukturen abbauen müssen, die dieses aktuelle System an seinem Platz halten. Ich glaube viele Menschen haben das durchaus verstanden, und es ist eher eine Aufgabe der Menschen, die sich engagieren, andere Leute davon zu überzeugen, dass sie etwas verändern können, aber ihnen auch Hilfe zu geben, sich zu engagieren. Es gibt viele psychologische Barrieren und viele Menschen, die zwar das Problem sehen, sich aber Sorgen machen, dass sie nichts erreichen können oder nicht wissen wie. Ich glaube da müssen die Menschen, die schon aktiv sind, versuchen Hilfe zu leisten und auf ganz verschieden Ebenen ermöglichen Leuten dieses Selbstvertrauen zu geben und zeigen, dass sie etwas erreichen können und wie, damit sie anfangen können sich zu engagieren, denn niemand fängt an sich zu engagieren und erreicht aus dem Nichts heraus was Großes. Es ist ein Prozess, indem sich Leute unterstützen und im Regelfall sind wir Teil einer Gruppe und nicht alleine. Das ist glaube ich eine ganz wichtige Komponente – dieses gemeinschaftliche Handeln, das Lernen von anderen Gruppen, um politisch und sozial aktiv zu werden und das ganz dringend auch außerhalb der politischen Parteien und außerhalb der typischen Wahlzyklen.” 

Wenn politisches Handeln im Umfeld vielfältiger Vorstellungen und Interessen entsteht, bedeutet das auch, dass Übereinstimmung nicht erzwungen werden kann. Was wir allerdings tun können, ist an eine mögliche Gemeinsamkeit zu appellieren. Hannah Arendt, die diesen Ansatz vertritt, beruft sich dabei auf den aristotelischen Gedanken, dass für ein freiheitliches Zusammenleben die Freundschaft unter Bürgerinnen und Bürgern nicht unterschätzt werden darf. Durch den Austausch erst entsteht die Welt als das uns Gemeinsame, so Arendt. Wenn wir uns mit anderen zusammentun, um zu handeln, dann geht dem, angesichts der Vielfalt der Mit-Handelnden, eine Entscheidung für etwas Gemeinsames und Neues voraus. Wie Carola Rackete sagt, die größte Hürde liegt vermutlich in dem Gedanken, nichts bewirken zu können. Und, um diesem Trugschluss entgegenzuwirken, liegt es an jeder und jedem Einzelnen, mit Mitmenschen – ob Schwester, Freund, Oma oder Arbeitskollege – ins Gespräch zu kommen. Nicht moralisierend oder gar dogmatisch, als vielmehr, offen, neugierig und, indem wir unsere eigene Begeisterung auf andere übertragen. In der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Vielen Dank fürs Zuhören. Wie ihr wisst, ist es unser Bestreben, möglichst unabhängig und werbefrei produzieren zu können. Das müssen wir uns allerdings auch leisten können. Daher, wenn ihr Sinneswandel gerne hört, freuen wir uns, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle Infos zur Episode, Quellen und weiterführendes Material findet ihr, wie immer in den Shownotes. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast! 

3. August 2021

Wandernde Identitäten: Heimat als Raum für Begegnung?

von Henrietta Clasen 2. März 2021

Wenn wir “Heimat” als Chiffre eines Ortes betrachten, der einem vertraut ist, an dem man zuhause und nicht fremd ist, dann ergibt sich daraus eine toxische Mischung. Denn, wie kann ein Mensch an einem Ort nicht fremd sein, an dem er als fremd stilisiert wird? Migration und Identität sind eng miteinander verwoben – an einem Ort fremd und damit gleichzeitig „in der Fremde“ zu sein, zerstört die Selbstverständlichkeit, die Identität eigentlich ausmacht. In Anlehnung an Bloch, der einst schrieb, Heimat sei kein Raum, sondern Perspektive, plädiert Kulturwissenschaftlerin Isabell Leverenz inihrem Gastbeitrag für einen Perspektivwechsel – zu mehr Pluralität in unserer Gesellschaft und die Auflösung statischer und ausgrenzender Begriffspraktiken.

SHOWNOTES:

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► “Wandernde Identitäten” Philip Cohen, Reclam
► “Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!”, Superflex
► “Reframing Migration, Diversity and the Arts: The Postmigrant Condition” Moritz Schramm, Sten Pultz Moslund und Anne Ring Petersen, Routledge
► „Vertrauter Fremder“: Autobiografie von Stuart Hall, WDR 5
► “Dossier Migration”, bpb
► “Stuart Hall und der Rassismus. Keine Identität ist garantiert”, FAZ
► “Stuart Hall: ‘Vertrauter Fremder’ Ein Leben zwischen allen Stühlen”, Deutschlandfunk Kultur
► “Ambivalente Identitäten”. Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein.
► “Ich bin die Flüchtlinge” Vida Gouma, Der Tagesspiegel
► “Die Geschichten einer Familie – Heimaten in Zeiten von Wandel, Umbrüchen und Migration”. Kübra Gümüşay

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► sinneswandel.art

Transkript: Wandernde Identitäten – Heimat als Raum für neue Begegnung?

Vor fast zwei Jahrzehnten, im Jahr 2002, entwickelte das dänische Künstlerkollektiv Superflex eine interventionistische Kampagne als Antwort auf Dänemarks zunehmend reaktionäre Einwanderungspolitik. Auf orangefarbenen, in den Straßen Kopenhagens aushängenden Plakaten, hieß es in schwarzen Großbuchstaben „Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!“ – also „Ausländer:innen, lasst uns nicht mit den Dänen allein!“. Was auf den ersten Blick als bloße Parodie auf politische Plakate mit rassistischen Slogans erscheinen mag, legt auf den zweiten Blick ein komplexes Gefüge frei: „Foreigners, please don’t leave us alone with the Danes!“ Also ein Dreigespann aus dem „Innen“, dem „Außen“ und dem „Dazwischen“. Denn obwohl Superflex mit der direkten Ansprache der sogenannten „Ausländer:innen“ ihren sozialen Stellenwert hervorhebt und damit die populistische Logik umkehrt, wird die binäre Logik zwischen „den Dänen“ und der Kategorie „Ausländer:innen“ reproduziert. Eine Dialektik zwischen den Sesshaften und den Wandernden. Also zweier homogener, identitärer Einheiten, die unvereinbar scheinen. Dazwischen existiert das „Wir“, das die Erklärung auf dem Plakat abgibt; also offenbar gleichzeitig Insider und Outsider der dänischen Gesellschaft ist, und damit eine ambivalente kollektive Position einnimmt. Geöffnet wird mit dieser Konstellation eine Art durchlässiger Zwischenraum, der die Position vieler Menschen mit (oder ohne) Migrationsgeschichte zwischen Staatsbürgerschaft und dem Status oder der Kennzeichnung als Ausländer:innen zu beschreiben vermag. 

Die Botschaft des Slogans, der vor fast 20 Jahren in Kopenhagens Straßen prangte, hat, so meine ich, ihre Aktualität keinesfalls verloren. Und sie beschränkt sich nicht nur auf eine Nation, sondern hat vielmehr transnationalen Gehalt. Sie greift in Dänemark, in Frankreich, in Großbritannien, in Deutschland. Sie greift in jeder postmigrantischen Gesellschaft; also in jeder Gesellschaft, die durch Migration geprägt ist. Es lohnt sich demnach ein genauerer Blick in den genannten „Zwischenraum“. Mit dieser Metapher meine ich keinesfalls einen statischen Raum im Sinne eines „Gefangenseins“ zwischen zwei Kulturen – also zwischen eigener Kultur und jener der Aufnahmegesellschaft, als geschlossene und unveränderbare Systeme – sondern vielmehr einen synthesefähigen Raum. Ist es in diesem Fall überhaupt sinnvoll, von einem „Dazwischen“ zu sprechen? Oder anders gefragt: Wie sind Identität und Migration zusammenzudenken?

Hinter der Kampagne von Superflex lässt sich aus der Perspektive des „Wir“ – also derjenigen, die nicht mit der Aufnahmegesellschaft allein gelassen werden möchten –  eine Solidaritätserklärung gegenüber Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte vermuten. Eine Geste der Inklusion. Das komplexe Gefüge des Slogans formuliert den Wunsch, „Ausländer:innen, bitte bleibt!“, misst ihnen also eine partizipative Rolle zu und kehrt damit zwei prominente rechtspopulistische Formeln um, nämlich „Ausländer raus!“ oder auch „Ausländer nach Hause!“. Was aber ist mit diesem „Zuhause“ gemeint? Der Soziologe Philip Cohen beschreibt die Komplexität und die Unschärfe des Begriffes “Heimat”: Das zu Hause des Engländers, so sagt er, „ist sein Schloss, das Land des Franzosen ist sein Dorf oder seine Region, die Heimat des Deutschen ist der Boden und die Seele der Nation, das Bantustan des Afrikaners ist das Gefängnis der Apartheid“. Heimat ist also nicht gleich Heimat; es ist kein universaler Begriff. Die sogenannten “Heimatländer”, in die die Menschen zurückkehren sollen, sind ihnen zumeist durch innere Entwicklungen oder äußere Einwirkungen fremd gemacht worden. Sie sahen sich gezwungen sich eine Heimat fern der Heimat zu schaffen, sind also  in vielfältigen Geschichten zu Hause. 

„Ich bin zu Hause, aber ich bin nicht zu Hause“, sagte einst der britische, aus Jamaika stammende Soziologe Stuart Hall. Damit legt er nicht nur einen prägenden Zwiespalt (s)einer migrantischen Biographie frei, sondern stellt eine enge Verbindung zwischen Identität und dem Gefühl kollektiver Zugehörigkeit oder eben Nicht-Zugehörigkeit heraus. Eine Erfahrung, die Hall wohl mit Millionen von Menschen teilt, die in der Epoche der Entkolonialisierung aus den ehemaligen Kolonien in ihr altes, sogenanntes “Mutterland” migrierten, als Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen oder im Zuge der globalen Fluchtmigration ihre einstige Heimat verlassen mussten. Migration prägt unsere Gesellschaften. Als Prozess hat sie sich zu einem selbstverständlichen Zeichen unserer globalisierten Gegenwart manifestiert. Leider bedeutet das nicht, dass sie gemeinhin gesellschaftlich akzeptiert ist, wie sich etwa am Entstehen und Erstarken rassistischer Organisationen und Parteien wie der AfD oder der Identitären Bewegung in den letzten Jahren sehen lässt.   

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff “Migration” im weitesten Sinne als einen Wanderungsprozess von Personengruppen im geographischen Raum, als eine langfristige Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes. Verbunden mit dem Begriff der Identität bedeutet Migration folglich: Identitäten in Bewegung. Identitäten, die wandern. Wenn wir uns dieser Begriffsübersetzung aus semantischer Perspektive nähern, gibt sie Aufschluss über ihren Doppelsinn: Denn, wenn Identitäten wandern, sind sie nicht statisch, nicht rein auf ihren ethnischen Ursprung, ihre Wurzeln, reduzierbar. Und Migration meint in diesem Sinne mehr, als einen rein geographischen Wanderungsprozess; der Begriff trägt gleichzeitig einen Neuaustausch und eine Neupositionierung in der Welt mit sich. Räumlich, wie emotional. Identität ist demnach keine feste Gegebenheit. Stuart Hall beschreibt sie als eine „stets unbeendete Unterhaltung“ – „Identität im Singular, wird niemals abschließend erlangt. Identitäten, im Plural, sind die Mittel des Werdens.“ Hiermit unterstreicht er die Prozesshaftigkeit des Identitätsbegriffes. Es wird also problematisch, wenn Identität mit rein essentialistischen Begriffen beschrieben wird, also als feststehend und unveränderlich gilt. Diese Argumentation ist zum Beispiel im Neorassismus prominent: Demnach werden Menschen oder Bevölkerungsgruppen, ihre Lebens- und Verhaltensweisen, ihre Traditionen und religiösen Praktiken unabänderlich durch ihren Ursprung, also ihre “Wurzeln”, bestimmt. Identität wird damit als ein permanentes zuhause, eine unveränderbare Existenzweise in der Welt, aufgefasst. Genau dieser Aspekt macht es so einfach, Migration im Kontrast hierzu als unaufhörlichen Zustand der Heimatlosigkeit zu begreifen. Und gleichzeitig wird Menschen in diesem Kontext ihre Individualität abgesprochen; sie werden gemeinhin als “Fremde”, als die “Anderen” homogenisiert. 2019 veröffentlichte der Tagesspiegel ein Rätsel, in dem es heißt: “Versuchen Sie zu erraten, wer ich bin! Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets, Erdogan und seine Demokratie, Putin und seine Politik. Ich war der Hauptgrund für […] die Erstarkung der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, […] Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erzieher. Ich bin derjenige, der sich immer schuldig fühlt für die Fehler anderer Menschen. Menschen, die er gar nicht kennt. Ich bin derjenige, der sich immer schämt, Nachbarn zu begrüßen, wenn wieder irgendwo etwas passiert. Ich hafte für die Fehler jedes einzelnen und fühle mich bedroht von jedem Bericht in den Medien. Habt ihr mich erkannt? Ich bin ‘die Flüchtlinge’!” Verfasst wurde der Beitrag von der aus Syrien geflohenen Juristin Vinda Gouma. “Der Migrant” wird gesellschaftlich als anarchische Figur konstruiert, der die gesellschaftliche Ordnung aus den Fugen bringt. Die Wandernden gegen die Sesshaften. 

Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha antwortet auf die Frage danach, was geschieht, wenn Kulturen in Kontakt treten, mit der Idee eines migratorischen „Dritten Raums“. Es ist ein metaphorischer Zwischenraum, in dem sich Kulturen nicht nur treffen, sondern gleichzeitig miteinander in Berührung kommen. Sie geraten ineinander, statt aneinander und beeinflussen sich gegenseitig. Ein Raum also, in dem die Geschichten, aus denen er besteht, verdrängt und neue Strukturen aufgebaut werden. Er bricht die homogenisierende, vereinheitlichende Kraft der historischen Identität der Kultur(en) auf. Migration bringt demnach einen symbolischen Prozess der Auflösung mit sich, in dem sich Gemeinschaften und Kulturen durch die Imagination ihrer Mitglieder erneuern; also einen identitären und ideellen Wandel im Laufe der Zeit, im Laufe der Generationen. Identität in diesem Sinne, ist also mehr als die Summe ihrer Teile; sie ist mehr als ein Gemenge gegebener Elemente, ihrer Nationalitäten, die sich einfach addieren oder multiplizieren lassen. Philip Cohen beschreibt Identität in diesem Zusammenhang sehr treffend als die bewegliche Linienführung einer Geschichte, die sich zwar als zusammenhängende Erzählstruktur entfaltet, trotzdem aber offen bleibt für wiederkehrende Neuverhandlungen, die das Ergebnis innerer Konflikte und sozialer Widersprüche sind und fortlaufend bearbeitet werden müssen. Geprägt durch seine eigene Einwanderungsgeschichte, seine “wandernde Identität”, sieht auch Stuart Hall Gesellschaften und Kulturen nicht durch Wurzeln, sondern vielmehr durch Wege bestimmt. Das, was sich derzeit noch sehr stark auf Herkunft oder die „Wurzeln“ konzentriert, vernachlässigt, dass Menschen ebenso aus vielen Imaginationen bestehen; von dem, was noch nicht ist, was noch sein könnte. Anstelle der Frage nach der Herkunft – der “Wurzeln” – der Menschen, sollte nach den Wegen gefragt werden, die sie zu dem gemacht haben, wer sie sind. Und mehr noch – auch Gesellschaften sind durch Wege gezeichnet. Sie haben sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Die Journalistin und Autorin Kübra Gümüsay unterstrich im Rahmen eines Vortrags den Stellenwert von Pluralität und pluralem Denken: Wenn wir demnach Pluralität in der Gesellschaft kommunizieren möchten, wenn sie einen selbstverständlichen Platz, oder vielmehr “Raum” in ihr einnehmen soll, dann darf sich diese plurale Hoffnung nicht nur auf die Zukunft beziehen; ein pluraler Blick in die Vergangenheit ist ebenso wichtig: Auf die vielen Menschen, die unsere Gesellschaft mitentwickelt, mitgestaltet haben. Ihre Geschichte ist Teil dessen. Auch Deutschland ist seit Jahrhunderten durch Einwanderung geprägt. Migration und Bewegung sind seit Jeher Teil unserer Erde. Sie ist durch „wandernde Identitäten“ geprägt.

2. März 2021

Erik Marquardt: Kann Solidarität grenzenlos sein?

von Ricarda Manth 12. November 2020

Grenzen – sie bilden nicht nur geographische Flächen Trennlinien. Sie finden sich auch in unseren Köpfen wieder. Als Konstruktionen, als ordnungsschaffende Elemente, die eine pluralisierte Welt hoffen vor dem Zerbersten zu bewahren. Grenzen schaffen Sicherheit. Erfüllen jedoch nur so lange ihren Zweck, wie sie selbst zur Gefahr werden. Weil an ihnen Menschenleben hängen. Denen es durch ihr Schicksal nicht vergönnt war, auf der “richtigen” Seite des Zaunes das Licht der Welt zu erblicken. Kann das gerecht sein?

Diese Frage stellt sich auch Erik Marquardt. Als Mitglied des Europäischen Parlaments setzt er sich unermüdlich für die Einhaltung Europäischer Grundwerte, wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ein. Wie Migrationspolitik in seinen Augen gelingen kann, darüber habe ich mit Erik Marquardt ausführlich gesprochen.

Shownotes:
► Erik Marquardt auf Twitter, Instagram und auf seiner Website.
► Erik betreibt auch einen eigenen Podcast: Dickes Brett.
► Unterstützt die Kampagne #LeaveNoOneBehind.
► Bleibt informier – z.B. über die Seebrücke.

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12. November 2020

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