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Leistungsgesellschaft

Antonis Schwarz: Ist Erben (un)gerecht?

von Marilena 14. Juni 2022

Während eine gängige Redewendung lautet, “Über Geld spricht man nicht, man hat es”, wird genau das heute getan. Und zwar mit Antonis Schwarz, den Marilena in München besucht hat, um zu erfahren, was der Millionenerbe mit der Initiative “tax me now” zu bewegen hofft. Denn eines ist klar: Die soziale Schere und Vermögensungleichheit wird immer größer: Allein in Deutschland besitzen die reichsten 10 Prozent mehr als die Hälfte aller Vermögen. Und das bedeutet auch Macht. Macht, die Welt massiv zu beeinflussen – ist das (noch) demokratisch?

Shownotes:

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► taxmenow
► Bewegungsstiftung
► Netzwerk Steuergerechtigkeit
► Bürgerbewegung Finanzwende e.V.
► Leseempfehlungen: “Der Code des Kapitals” – Katharina Pistor; “ “Kapital und Ideologie” – Thomas Piketty; “Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleichheit” – Branko Milanović; “Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht” – Julia Friedrichs.
► Oxfam-Studie (2021): „Carbon Inequality in 2030: Per capita consumption emissions and the 1.5C goal.“

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► sinneswandel.art

14. Juni 2022

Toxische Positivität – ist zu viel Optimismus schädlich?

von Marilena 29. März 2022

“Kopf hoch! Einfach positiv denken!” Wer hat diesen oft gut gemeinten Rat nicht schon einmal gehört? Ja, es stimmt, manchmal hilft es, nicht zu verzagen. Aber manchmal eben auch nicht. Weil wir längst nicht alles in den Händen haben, auch, wenn uns das diverse Selbsthilfe Ratgeber suggerieren. Glück sei zum modernen Fetisch geworden, so die These der Politologin und Autorin Juliane Marie Schreiber. In ihrem Buch “Ich möchte lieber nicht”, schreibt sie von der “Rebellion gegen den Terror des Positiven”. Denn der nerve, belaste und schwäche den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Weil wir Glück als Prestige betrachten und eigentlich politische Probleme als persönliches Versagen verstehen. Eine fatale Entwicklung, gegen die nur Rebellion hilft. Denn die Welt wurde nicht von den Glücklichen verändert, sondern von den Unzufriedenen.

Shownotes:

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► Mehr von und mit Juliane Marie Schreiber.
► Juliane Marie Schreiber: “Ich möchte lieber nicht – Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven”; Piper-Verlag (03/22).

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29. März 2022

Workism – warum arbeiten wir (heute) so viel?

von Marilena 22. Februar 2022

Beschäftigt zu sein, sei zu einem modernen Narrativ geworden, meint Hans Rusinek. Der kreative Kapitalismus mache Arbeit zu einer neuen Ersatzreligion – und wir machen mit – so Hans These, der seit einigen Jahren unter anderem im Rahmen seines Promotionsstudiums an der Uni St. Gallen zu Sinnfragen in einer sich wandelnden Wirtschafts- und Arbeitswelt forscht und publiziert. Warum arbeiten wir heute noch immer so viel? Welchen Stellenwert hat Lohnarbeit in unserer Gesellschaft? Muss Arbeit Sinn machen? Das sind nur einige der Fragen, über die ich gemeinsam mit Hans Rusinek in dieser Episode gesprochen habe.

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► Mehr von und mit Hans Rusinek hier.
► ZEIT: “Wenn die Arbeit das Leben ist”, Hans Rusinek (2022). ► ifo-Studie: “Homeoffice im Verlauf der Corona-Pandemie” (2021).
► WSI Report No. 65: “Homeoffice: Was wir aus der Zeit der Pandemie für die zukünftige Gestaltung von Homeoffice lernen können”; Hans-Böckler-Stiftung (2021).
► Cal Newport: “The Stone Carver in an Age of Computer Screens” (2020).
► Quarks: ”Sollten wir alle weniger arbeiten?” (2021).
► Nina Kunz: “Ich denk, ich denk zu viel”. Kein & Aber (2021).  
► David Graeber: “Bullshit Jobs, a Theory” (2019).
► Andreas Reckwitz: “Die Gesellschaft der Singularitäten”. Suhrkamp (2017).
► Oscar Wilde: “Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ (1891).

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22. Februar 2022

Tatjana Schnell: (Lebens-)Sinn – etwas Kollektives?

von Henrietta Clasen 9. November 2021

Es scheint ganz so, als genüge es uns Menschen nicht, einfach nur zu Existieren. Wir brauchen einen Grund weshalb wir uns morgens aufraffen – die Freude am Sein allein, sie mag Mönche und Buddhisten beglücken – den postmodernen Menschen berauscht sie längst nicht mehr. Kein Wunder, möchte man sagen! Sind die Büchereien doch gefüllt mit Ratgeberliteratur, deren Titel uns aufmunternd zurufen: “Finde dich selbst!” Sie ist zum Greifen nah, die Erfüllung, wir müssen nur die Hand ausstrecken und zugreifen. So zumindest lautet das Glücksversprechen des modernen Kapitalismus. Aber ist das wirklich so? Existiert so etwas, wie ein individueller Lebenssinn, eine Art Berufung, die es zu Suchen und Finden gilt? Oder entsteht Bedeutung nicht vielmehr im Kollektiv(en)? Um das herauszufinden, habe ich mich mit Psychologin und Sinnforscherin Prof. Dr. Tatjana Schnell unterhalten.

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► Sinnforschung.org Sinnforschung an der Universität Innsbruck mit Informationen und Studien zum Thema Lebenssinn.
► Buch: “Psychologie des Lebenssinns”, Springer Verlag (2020).
► Aktuelle Forschungsergebnisse zu psychologischen und existenziellen Aspekten der COVID-19 Pandemie.
► Mihály Csíkszentmihályi: “Flow. Das Geheimnis des Glücks”, Klett-Cotta (2002).
► David Graeber: “Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit”, Klett-Cotta (2009).
► Karl Jaspers: “Leben als Grenzsituation. Eine Biographie in Briefen”, Wallstein (2019).

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9. November 2021

Helmut Milz: Ist uns die Sinnlichkeit abhanden gekommen?

von Henrietta Clasen 2. November 2021

Seit jeher existiert in den Geisteswissenschaften ein reger Diskurs über die Frage nach der menschlichen Existenz und was sie ausmacht. Beseelter Leib? Beleibte Seele? Auch Mediziner und Publizist Helmut Milz unternimmt in seinem Buch „Der eigen-sinnige Mensch“ eine Reise durch die Sinnwelten unseres menschlichen Seins, die uns vom Leib über Körperbilder, bis zum “Quantified Self” der Postmoderne führt. Um einer Vergeistigung und gleichzeitigen Entsinnlichung der Welt entgegenzuwirken, plädiert Helmut Milz für eine Förderung “sinnlicher Intelligenz”. Nicht nur des eigenen Wohlbefindens wegen, sondern auch, weil ohne diese Fähigkeit kein gesellschaftlicher Sinnes-wandel möglich sei. Was das genau bedeutet, darum soll es in dieser Episode gehen.

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► Website von Prof. Dr. med. Helmut Milz.
► Buch: “Der eigen-sinnige Mensch – Körper, Leib & Seele im Wandel”, AT Verlag (2019).
► Vortrag: “Sinnes-wandel”, Grazer Leib-Symposium (01/20).

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2. November 2021

Pandemiemüde? Let’s talk about Mental Health!

von Marilena 22. April 2021

Wem geht es eigentlich gerade wirklich gut? Gefühlt sind alle “müde”. Wenn auf Wikipedia bereits der Eintrag “Pandemiemüdigkeit” zu finden ist, wieso reden wir so wenig darüber? Warum werden zwar täglich die Zahlen der Neuinfektionen bekannt gegeben, aber nicht über die “seelische Inzidenz” gesprochen? Diese Episode handelt, neben den Auswirkungen von einem Jahr Pandemie auf die menschliche Psyche, auch von der Art und Weise, wie generell in der Gesellschaft über Mental Health gesprochen – oder eben auch nicht gesprochen wird. Es geht darum, wie die kapitalistische Logik, sich auch das Feld der psychischen Gesundheit einverleibt hat und damit seelische Erkrankungen zu rein privaten Angelegenheiten verkehrt. Wie lässt sich ein gesunder Ausweg finden, jenseits von toxischer Positivität und individueller Self-Care-Routine? 

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► Kostenlose Telefonberatung der BZgA (08002322783).
► Das kostenlose Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 08003344533.
► SeeleFon für Flüchtlinge für Geflüchtete oder deren Angehörigen – kultursensibel und möglichst in der Sprache der Betroffenen (022871002425).
► Wichtige Anlaufstellen bei psychischer Belastung sind Hausärzt*innen und Psychotherapeut*innen. Die Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bietet die Möglichkeit gezielt nach diesen zu suchen.

Quellen:
► Bundes Psychotherapeuten Kammer: Corona Pandemie und psychische Erkrankungen – BPtK Hintergrund zur Forschungslage (2020).
► Spektrum: Psyche und Corona: Der zweite Lockdown belastet mehr.
► WHO: Mental Health in workplace.
► Merkur: Demenz und Depression  kosten knapp 15 Milliarden Euro im Jahr.
►Allianz: Depression kostet Volkswirtschaft jährlich bis zu 22 Milliarden Euro.
► Deutschlandfunk: Zum Tod des Kulturtheoretikers Mark Fisher.
► Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Suhrkamp (2011).
► Nina Kunz: Ich denk, ich denk zu viel . Kein und aber (2021).
► Arte-Serie: In Therapie. 
►Deutschlandfunk-Nova: Timur über toxische Feelgood-Vibes.  
►Benjamin Maack: Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein . Suhrkamp (2020). 

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Transkript: Pandemiemüde? Let’s talk about Mental Health!

“Es wird schon wieder – irgendwann.” 
“Ja, muss ja”, gebe ich zurück. 
“Fühl dich umarmt.”

Wie ich diesen Satz nicht mehr hören kann. Wie soll man sich umarmt fühlen? Wer hat sich diese Floskel überhaupt ausgedacht? Um mich umarmt zu fühlen, müsste ich mir erstmal dieses Gefühl, wenn zwei Körper in einem Moment zu einem einzigen verschmelzen, wieder ins Gedächtnis rufen. Und ich meine eine “richtige” Umarmung. Ohne Zögern und Zweifel, ob man das denn jetzt wirklich tun sollte oder, ob man dann nicht Gefahr laufe, sein Gegenüber potenziell umzubringen. Ja, nach solchen innigen Umarmungen, mal wieder so richtig fest gedrückt zu werden, danach sehne ich mich. Darum mag ich, wenn mal wieder jemand zu mir sagt, “fühl dich umarmt”, mich auch nicht daran zurückerinnern. Es scheint mir dann in noch weitere Ferne zu rücken – fast unerreichbar.

Und dann ist sie da wieder. Diese innere Stimme, die mir leise, aber unüberhörbar in mein Ohr raunt: “Come on, jetzt hab dich nicht so! Hör auf dich in deiner Nostalgie, deinem Selbstmitleid zu sudeln und reiß dich gefälligst mal zusammen! Anderen geht es viel schlechter als dir. Hast du dich mal umgesehen? Du hast eine Wohnung, genug zu Essen im Kühlschrank, einen Job, Freunde und vor allem, du bist gesund.” Etwas in mir nickt, fühlt sich ertappt und ekelt sich ein bisschen vor mir, angesichts dieses Ausflusses an Selbstmitleid, trotz meiner doch ganz offensichtlich privilegierten Situation. 

Genauso enden in letzter Zeit auch häufig Gespräche mit Freunden und Kollegen. Man diskutiert über die aktuelle Lage, die neuesten politischen Maßnahmen und erkundigt sich, wie es den anderen denn so damit gehe. “Ach du, weißt du, es ist nicht einfach, aber, es könnte auch schlimmer sein. So richtig beschweren kann ich mich nicht. Aber so richtig gut, gehts mir irgendwie auch nicht.” So ähnlich klingt das dann. Eigentlich hätte man auch nichts sagen können. Denn, was steckt hinter dieser Aussage? Alles und nichts. Das eigene Unwohlsein wird noch im selben Atemzug revidiert. Anderen geht es nun mal gerade schlechter. Da ist jetzt kein Raum für das eigene Leid, das mit dem der anderen verglichen so lächerlich klein und Wohlstands-privilegiert erscheint. Sicherlich ist da irgendwie etwas Wahres dran, denn Fakt ist, dass Menschen, die bevor C. in unser aller Leben trat, bereits in prekären Verhältnissen lebten, es nun doppelt oder gar dreifach so schwer haben. Die Pandemie fungiert wie eine Lupe, ein Brennglas, dass Missstände, die zuvor bereits existierten, nur weiter vergrößert, wie es im Feuilleton so oft zu lesen ist. Auf der anderen Seite frage ich mich: Wer hat etwas davon, wenn irgendwer seinen eigenen Schmerz und, mag er im Vergleich noch so klein erscheinen, zurückstellt oder gar negiert? Nur, um nicht als asozial oder unempathisch zu gelten. Hat nicht jedes Leid seine Berechtigung? Müssen wir selbst in dieser Situation, in eine Art Wettkampf, wer das Schlimmste zu erdulden hat, eintreten? Das ist doch absurd! Natürlich ergibt es Sinn, anderen Menschen zur Seite zu stehen. Das zeichnet schließlich eine Gesellschaft, die zusammenhält aus. Dass man auch mal bereit ist, sich selbst zurückzustellen und für andere einzusetzen. Ich glaube, da sind wir uns einig. Aber heißt das auch, dass ich, wenn ich nicht “genug” Leid zu tragen habe, es sich nicht mehr ziemt, dieses zu äußern? Hat es dann keine Berechtigung mehr? Wenn mein Glas halb voll ist, darf ich dann nicht mehr den Wunsch haben, es wäre randvoll, sprich, dass es mir wieder gut geht?

Allein diese Worte auszusprechen fühlt sich irgendwie egoistisch an. Ich brauche Ablenkung und scrolle durch meinen Instagram Feed und stoße dabei auf einen Post von Anna Mayr, Autorin und Journalistin. Sie schreibt darin: “Wenn Menschen sich einer Gefahr ausgesetzt sehen, wenn sie Angst haben und sich machtlos fühlen, dann verfallen sie in einen fight-or-flight-Modus. […] Jede_r schaut dann nur noch auf sich, auf die eigenen Bedürfnisse, auf die eigene Sicherheit. Das ist, glaube ich, was gerade passiert. Mir zumindest. […] Hauptsache, ich komme irgendwie durch, mental und physisch. Nur noch Kraft, mich selbst zu retten, niemanden sonst. Das ist natürlich total scheiße und zeigt, dass das Reden von „Eigenverantwortung“, wenn man in Wirklichkeit „Ungerechtigkeit“ meint, niemanden weiterbringt, auch die Glücklichen nicht. Denn ich fühle mich ja auch mies damit, sogar nach zwei Stunden Balkonsonne, wie alle, wahrscheinlich.” 

Immerhin bin ich nicht allein mit diesem Gefühl, denke ich mir und scrolle weiter. Paul Bokowski, ebenfalls Autor und Journalist, hat eine Story geteilt. Darin steht: “Ich habe vor ein paar Tagen angefangen meinen Nachrichtenkonsum drastisch zu reduzieren. Nach einem Jahr der absoluten Monothematik geht mir die ständige Berichterstattung über Covid mittlerweile ganz massiv an die Substanz. Ich akzeptiere die unverrückbare Bedeutung dieses Themas, aber […] ich merke schleichend, dass es lebenswichtig für mich sein könnte, mich um weniger psychische Toxizität zu bemühen. […] Das heißt, dass ich bis auf Weiteres auf alle Nachrichten-Apps, auf Twitter, aber auch auf Instagram und Facebook verzichten möchte.” Und damit ist er wohl offline. Ist das jetzt selfcare oder selfish? Ich fühle mich überfordert und lege mein Handy beiseite.

Wem geht es eigentlich gerade wirklich gut? Gefühlt sind alle “müde”. Wenn auf Wikipedia bereits der Eintrag “Pandemiemüdigkeit” zu finden ist, wieso reden wir so wenig darüber? Warum werden zwar täglich die Zahlen der Neuinfektionen bekannt gegeben, aber nicht über die “seelische Inzidenz” gesprochen, über die Menschen, die psychisch erkranken oder gar Suizid begehen? Da gibt es doch bestimmt schon Statistiken zu?! Ich klappe meinen Laptop auf, öffne Ecosia und beginne zu recherchieren: Laut einer 2020 veröffentlichten Studie von Yang und Kollegen, in der an Corona erkrankte Patient*innen, die stationär isoliert wurden, mit Krankenhauspatient*innen mit einer Lungenentzündung sowie mit Gesunden verglichen wurden, weisen Corona-Erkrankte drastisch erhöhte Angst- und Depressionswerte auf. Ähnliches wird in zwei Übersichtsarbeiten über die psychischen Folgen von Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen berichtet (Hossain et al., 2020; Purssell et al., 2020). In manchen Studien berichteten über 70 Prozent der Patient*innen, ängstlich und depressiv, hilflos und reizbar zu sein und ein niedriges Selbstwertgefühl zu haben. Auch für Angehörige ist es oft unerträglich, erkrankte Eltern oder Großeltern nicht persönlich helfen zu können, da Kontakt verboten ist (vor-veröffentlichte Online-Befragung von mehr als 18.000 Personen: Rossi et al., 2020). ie Versorgungssituation hinsichtlich psychologischer Betreuung hat sich, laut Spektrum Magazin auch verschlechtert. So gaben 22 Prozent der an Depressionen leidenden Befragten an, in einer akuten depressiven Phase keinen Behandlungstermin bekommen zu haben. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass viele Daten, die notwendig wären, um die Frage nach der psychischen Belastung durch die Corona-Pandemie umfassend beantworten zu können, noch längst nicht vollständig sind. Wenn jedoch Krankenkassen, wie die KKH bereits im ersten Halbjahr 2020 rund 26.700 Krankmeldungen wegen seelischen Leidens unter ihren etwa 1,7 Millionen Versicherten zu registrieren hatten – gut 80 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum – dann scheint die Pandemie nicht folgenlos an uns vorbeizuziehen.

Warum sprechen wir dann dennoch so wenig über das Thema? Mein Kopf rattert. Plötzlich beginne ich zu verstehen. Na klar, das System, die Realität in der wir leben, hat ja auch sonst eher wenig Interesse daran, dass wir “ausfallen”, sprich nicht “funktionieren”. Das Rad muss weiterlaufen. Das gilt auch für pandemische Zeiten. Kein Wunder, dass kaum über Mental Health gesprochen wird. Nachher würden Menschen noch beginnen, gegen jene Strukturen aufbegehren, die sie tagtäglich bis zur völligen Erschöpfung im Hamsterrad laufen lassen. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob diese Sichtweise nicht zu verkürzt ist. Mag schon sein, dass Menschen, die immerzu vorgeben, zu funktionieren, diesen Schein eine ganze Weile aufrechterhalten können, aber zu welchem Preis am Ende? Nichts ist umsonst – das ist schon mal klar! Jetzt bin ich angefixt. Was kostet es wohl den Staat, all die Menschen wieder “aufzupäppeln”, die ausbrennen oder anderweitig seelisch erkranken?

Laut Statistischem Bundesamt seien psychische Krankheiten inzwischen ein großer Kostenfaktor für das Gesundheitssystem: Nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen (37 Milliarden Euro) und Krankheiten des Verdauungssystems (34,8 Milliarden Euro) rangieren psychische Erkrankungen auf Platz drei unter den sogenannten “Volkskrankheiten”: 2008 lagen die Kosten bei knapp 28,7 Milliarden Euro. In den USA, laut WHO, lagen die Kosten im Jahr 2019 sogar bei 1 Billion US-Dollars. Die Allianz hebt noch einmal differenziert hervor, dass allein zwischen 2002 und 2008 die direkten Krankheitskosten für Depressionen, um ein Drittel auf 5,2 Milliarden Euro gestiegen seien. Und, dass 9,3 Milliarden Euro indirekte Kosten allein darauf zurückzuführen seien, dass an Depressionen erkrankte Menschen häufig dennoch zur Arbeit gehen, anstelle sich krankschreiben und behandeln zu lassen. Das klingt jetzt ziemlich makaber, aber damit stellen die durch verminderte Produktivität depressiver Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz verursachten Kosten den mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Schaden dar, so formuliert es die Allianz.

Mag sein, natürlich sind die wirtschaftlichen Einbußen, auch jene, die aktuell während der Pandemie verzeichnet werden, keineswegs irrelevant. Aber, was ist mit den Seelischen, den menschlichen Schäden? So oft denke ich mir in letzter Zeit: Was ist das bitte für ein Leben, das fast ausschließlich in Arbeit besteht? Normalerweise liegt ja die Wiedergutmachung dafür, dass wir den halben Tag schuften, darin, dass wir das wohlverdiente Geld in Bespaßung eintauschen können: Ob Kino, Rave, Museum, Malle, für jede*n ist auf dem Konsummarkt was dabei. Das meiste davon fällt aktuell allerdings weg. Außer vielleicht Netflix und Online-Shopping. Aber auch das wird schnell öde. Die neoliberale Belohnungsstrategie geht nicht mehr auf. Die Ablenkung fehlt und die Menschen, die zuvor im Konsumrausch schwebten, nüchtern langsam aus und werden missmutig.

Aber kann es denn Sinn der Sache sein, Menschen ruhig und bei Laune zu halten? Wenn wir schonmal dabei sind, alle Karten offen auf den Tisch zu legen, warum reden wir dann nicht mal ganz grundsätzlich über die Ziele und Vorstellungen davon, wo wir als Gesellschaft eigentlich hin wollen? Und vor allem auch, auf welchem Weg, mit welchen Mitteln? Längst sind sich viele Expert*innen, wie Joseph Stiglitz, Maja Göpel und Amartya Sen in dem Punkt einig, dass das BIP allein als Indikator für Fortschritt und Wohlstand nicht mehr zeitgemäß ist. Schon gar nicht, um so etwas wie Lebensfreude und Zufriedenheit innerhalb der Bevölkerung zu messen. Denn die Bedingungen, unter denen das BIP entsteht, werden nicht berücksichtigt. Ob jemand seine Arbeit entspannt und mit viel Freude erledigt oder ob dies unter großem physischen bzw. psychischen Druck und ohne jede Freude geschieht, spielt für das Wohlbefinden eine große Rolle – selbst wenn am Ende in beiden Fällen das gleiche Einkommen herausspringt. Für die Berechnung des BIP sind beide Fälle hingegen vollkommen gleichwertig. Es ist also dringend an der Zeit, dass wir radikal umdenken und uns von alten Konzepten verabschieden. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt gibt es bereits eine ganze Handvoll: So hat die OECD den „Better Life Index“ entwickelt, um das gesellschaftliche Wohlergehen anhand von elf Themenfeldern, u.a. Bildung, Sicherheit und Work-Life-Balance zu ermitteln und international zu vergleichen. 

Ein weiteres Beispiel liefert der “Happy Planet Index” (HPI), dessen Ausgangspunkt die Überlegung darstellt, dass Reichtum für eine Vielzahl von Menschen nicht das oberste Ziel ist, sondern ein glückliches und gesundes Leben an erster Stelle steht. 

Die Einführung eines solchen Maßstabs wäre vermutlich auch nicht mehr vereinbar, mit der Privatisierung des Gesundheitswesens und dem zeitgleichen Abbau des Sozialsystems, wie man es auch in Deutschland beobachten kann. Laut dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken, sind von 1950 Krankenhäusern mittlerweile rund 37 %, also mehr als ein Drittel, in privater Trägerschaft. Das mag sich zwar teilweise positiv auf die Wachstumszahlen und Gewinnprognosen der Krankenhäuser auswirken, bewirkt jedoch im Großen und Ganzen, dass das Gesundheitswesen zu einer Gesundheitswirtschaft mutiert, in der ganz andere Gesetze gelten als in einem Sozialsystem. Sie wird zur Quelle neuen Reichtums für Investoren und macht Gesundheit zu einem handelbaren Gut, in welcher der Mensch zur Ware degradiert wird. Hallo Kapitalismus! 

Dass das gesamte kapitalistische Wirtschaftssystem, das aus dem Ruder geraten ist, uns krank macht, davon war der britische Kulturtheoretiker und Publizist Mark Fisher überzeugt, der sich 2017, im Alter von 48 Jahren das Leben nahm. Seine Depressionen, die ihn sein Leben lang begleiteten, verortete er nicht als rein individuelles Schicksal, sondern als eine massenhaft auftretende Reaktion auf die kapitalistischen Verhältnisse in denen wir leben. Für Fisher stellte die Entpolitisierung von Depression sowie die Privatisierung von psychischen Krankheiten ein gesellschaftliches Problem dar: “Hohes Arbeitsaufkommen, Zunahme der Unsicherheit, Gehaltskürzung – all diese Dinge machen depressiv, und wir müssen immer häufiger alleine mit ihnen fertig werden. Im Zeitalter der Kollektivität gab es noch Mediatoren wie Gewerkschaften, die dir dabei geholfen haben, aber heute wirst du zu keiner Gewerkschaft geschickt, sondern zu einem Therapeuten, oder nimm doch einfach Antidepressiva. Das ist die Geschichte der letzten 30 Jahre.” So Fisher in einem Interview mit Deutschlandfunk. Wir alle werden im Kapitalismus zu “Unternehmer*innen unser Selbst”, die sich bloß noch mehr anstrengen müssen, wenn es mal Probleme gibt. Jede und jeder ist schließlich seines eigenen Glückes Schmied – ein Hoch auf Individualismus und Leistungsfetischismus!

Je mehr ich drüber nachdenke, desto klarer und bewusster wird mir, wie sehr psychische Gesundheit in unserer Gesellschaft zu persönlichen, rein privaten Angelegenheiten gemacht werden. Dabei sind die höchst politisch – da stimme ich Fisher zu. Psychische Gesundheit ist nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu trennen, innerhalb derer sie entstehen. Vermutlich auch einer der Gründe, weshalb das Sprechen über mentale Gesundheit nach wie vor mit Scham besetzt ist und Menschen, die öffentlich über psychische Krankheiten sprechen, häufig noch stigmatisiert werden. Nicht, dass noch bekannt werden könnte, dass nicht allein individuelles Versagen der Grund für Depressionen, Angststörungen, Magersucht oder Burnout seien. Das wäre ja absurd, wenn doch tatsächlich die moderne Gesellschaft mit ihren fragwürdigen Schönheitsidealen, der Lobpreisung des permanenten Busy-seins und der Arbeit im Allgemeinen, dem never-ending Patriarchat, überhaupt den strukturellen Unterdrückungsmechanismen einen Anteil daran hätte, das Menschen psychisch erkranken. Ne ne, das haben wir uns alles selbst zu verdanken, weil wir uns eben einfach nicht genug angestrengt haben. Nicht genug an uns gearbeitet haben, wie es uns doch von der Persönlichkeitsentwicklungs-Branche geraten wird. Und im Zweifel eben ab zur Therapie! Ist doch heutzutage nichts Besonderes oder gar verwerfliches mehr.

Ich denke nach. Tatsächlich, die meisten meiner Freunde, inklusive mir selbst, sind oder waren schon mal beim Therapeuten. Und nein, nicht alle stammen aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Eigentlich finde ich das ja gut, dass es diese Möglichkeit gibt. Ich selbst wüsste nicht, wo ich heute ohne professionelle, seelische Begleitung stehen würde. Wäre ich noch am Leben? Vermutlich schon. Ich würde die Gespräche dennoch nicht missen wollen. Zugleich hinterfrage ich das Konstrukt der Therapie immer wieder ganz massiv. Sehe insbesondere die reine Rückführung auf die Patientin oder den Patienten kritisch, wenn das Leid nicht auch im gesellschaftlichen Kontext betrachtet wird. Klar, es gibt wirklich gute Therapeut*innen, die das machen, hab ich selbst erlebt, aber viele eben auch nicht. Dann rücken Selbstreflexion und -pathologie an die Stelle von Gesellschaftskritik. Wo es doch eigentlich beides bedarf.

Laut der israelischen Soziologin Eva Illouz, hat das therapeutische Denkmodell inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, wie sie in ihrem Buch, “Die Errettung der modernen Seele” (2011) beschreibt. Allerdings versteht Illouz darunter nicht nur die konkrete Therapie-Situation, sondern die ganze Palette der ratgeberhaften und emotionsorientierten Gegenwartskultur – von Weight Watchers über Eheberatung und Mentalcoaching der Fußballmannschaft. Galten früher psychische Krisen als “Defekt”, den man schamhaft versteckte, kommt heute kaum eine Promi-Biographie ohne eine solche Krise und deren therapeutische Bewältigung aus. Ob in Cathy Hummels “Mein Umweg zum Glück”, in der die Moderatorin offen über ihre Depressionen spricht, in  „Born to run“, der Autobiographie der Rocklegende Bruce Springsteen oder in “Zayn”, in der der gleichnamige Sänger Zayn Malik – früher Teil der Band “One Direction” – über seine Angst- und Essstörung schreibt. Man könnte auch sagen, der vermeintlich tiefe Einblick in die Seele gilt heute als notwendiger Karriereschritt, um Privilegierte ein klein bisschen menschlicher erscheinen zu lassen. Generell würde ich sagen, ist jedes Bekennen psychischer Erkrankungen nur zu begrüßen. Fragwürdig bleibt die Motivation von Menschen, die ohnehin in der Öffentlichkeit stehen und ihre Leiden scheinbar als Chance sehen, mehr Filme, Bücher oder Alben zu verkaufen. Aber, mal ganz ehrlich: “Who am I to judge?” Es lässt sich nicht leicht beurteilen, wo die Grenze verläuft, zwischen öffentlichem Bekenntnis und Selbstvermarktung.

Und dann denke ich mir: “Hey, ist doch eigentlich auch eine gute Sache, wenn wir offener über unsere issues reden. Oder nicht?” Ich fühle mich zumindest besser, wenn ich beispielsweise lese, dass auch andere Menschen, ob Henning May, Sänger der Band AnnenMayKantereit, die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht, Rapper Curse oder der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, alle mit ihren Päckchen zu kämpfen haben und dazu stehen. Wobei “mich besser fühlen” vermutlich der falsche Ausdruck ist. Es geht mir eher um das Gefühl, nicht allein zu sein. Mich verstanden zu fühlen. Nicht perfekt und makellos sein zu müssen in dieser Welt.

Genau das Gefühl hatte ich auch beim Lesen von “Ich denk, ich denk zu viel”, der erst kürzlich erschienenen Kolumnensammlung der Schweizer Journalistin Nina Kunz. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide im selben Jahr geboren wurden, also derselben Generation angehören, dass ich mich in vielen ihrer Worte wiederfinden konnte. So schreibt sie darin beispielsweise: “Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. […] Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich all diese Privilegien hab.” Es ist eine Mischung aus Tagebuch und Theoriesammlung, in der Nina Kunz ihre persönlichen Gedankengänge offenlegt und zugleich mit einer Kritik an den gesellschaftlichen Umständen verbindet. Die einen wiederum einlädt, sich einerseits selbst sanftmütiger und wohlwollender zu begegnen, andererseits gegen die einengenden und begrenzenden Strukturen, ob Patriarchat, binäre-Geschlechterkonstrukte oder Rassismus vorzugehen. “Dieses Buch ist eine Einladung in meine Gedankenwelt. [… Es] ist ein kleiner Puzzleteil in der Debatte um Leistungsdruck und Mental Health. Es sind Notizen aus dem Jetzt, ehrlich aufgeschrieben. In der Hoffnung, dass sie weitere Gedanken anstoßen.” Das haben Ninas Worte bei mir in jedem Fall bewirkt. Besonders hängen geblieben ist auch folgendes Zitat aus dem ersten Text:: “Workism beschreibt […] etwas, das mir schon länger Sorgen macht: Es ist der Glaube, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigenen Identität. […] Ein zentrales Ziel im Leben soll sein, einen Job zu finden, der weniger Lohnarbeit ist als vielmehr Selbstverwirklichung. Darum […] habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.” Oh ja, fühl ich sehr! Genauso wie die Ambivalenz, die Nina gegenüber dem Internet, insbesondere den sozialen Medien verspürt: “Das Internet ist ein gefräßiges Monster, das alle meine Lebensenergie verschlingt […]. Ich hasse das Internet, weil es mir das Gefühl gibt, zu langsam zu sein, zu schwach, zu wenig schön. […] Ich hasse den Fakt, dass mir Likes ein gutes Gefühl geben. Ich hasse denk Fakt, dass ich Angst habe vor der Stille und mich permanent mit Informationen berieseln lasse. Beim Kochen höre ich Podcasts, beim Joggen brauche ich die Nike App, und im Zug beantworte ich Mails. […] Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen Zeit allein verbringen müssen, um empathisch zu sein, daher bin ich besorgt, wie schlecht ich mich mittlerweile selbst aushalte.” “Manchmal fühlt sich das Leben im Internet an, als würde ich verhungern, obwohl mir die ganze Zeit jemand das Maul stopft. […] Ich hasse das Internet, weil ich Angst habe, dass ich in fünfzig Jahren sagen werde: Fuck, ich hab mein Leben online vergeudet.”

Manchmal braucht es auch noch oder gar keine Lösung – das Aussprechen von Ängsten und Sorgen, ganz gleich, ob nun angeblich privilegiert oder nicht, wirkt oft befreiend. Ich habe sogar das Gefühl, dass mir in der Therapie das Reden und, dass mir jemand zuhört, oft mehr gebracht hat, als irgendwelche Ratschläge oder Strategien, die mir angeboten wurden. Vielleicht hat mir auch deshalb die Arte-Serie “In Therapie” der französischen Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano so gut gefallen. Jede Folge ist eine Therapiesitzung, in der wir die Entwicklung der wiederkehrenden Patient*innen, die alle durch die Erlebnisse der Terroranschlägein Paris 2015 traumatisiert sind, mitverfolgen können. Dabei ist “In Therapie” allerdings keine Serie über die Terroranschläge, sie handelt vielmehr von den Folgen für die menschliche Psyche, kollektivem Trauma und, dass um mit solch schwerwiegenden Erfahrungen fertig zu werden, es Redebedarf braucht. Es geht um Heilung, Einzelner, aber auch der Gesellschaft. „Die Welt da draußen geht zugrunde.“ Gleich zweimal fällt der Satz in der Serie. „Ja“, antwortet Philippe Dayan, der Therapeut, jedes Mal, „aber das tut sie immer.“ Wir können nur lernen, damit umzugehen. 

Wobei umgehen eben nicht meint, dass wir jetzt alle mal bitteschön wieder klarkommen müssen. Dass wir, wie uns, wie ein mechanisches Glied im Gefüge einer Maschine, wieder an unseren Platz bewegen und funktionieren sollen. Diese Form toxischer Positivität begegnet mir allerdings permanent. Wie so oft, meistens im Internet. Egal, ob pathetische, wohlgemeinte Sprüchlein, wie “Glücklich zu sein bedeutet nicht, das Beste von allem zu haben, sondern das Beste aus allem zu machen.” Oder fast noch schlimmer: “Du kannst nicht negativ denken und positives erwarten.” Würg! Laut Timur, der in einem Interview mit Deutschlandfunk-Nova ganz offen über seine Depression und Angststörung spricht, ist toxische Positivität eng an „toxische Dankbarkeit“ gekoppelt. Er glaubt, dass wir nicht für alles dankbar sein müssen. Vor allem, wenn jemand als Opfer Leid erfährt. Denn nicht alle Dinge sind ein Zugewinn für uns und unser Leben. Seh ich auch so! Wobei ich zugeben muss, dass es mir auch nicht immer leicht fällt, mir einzugestehen, wenn es mir nun einmal gerade nicht gut geht. Vielleicht sogar richtig beschissen. Und dann nicht automatisch in den Optimierungs-Wahn zu verfallen, in dem direkt wieder alles zurechtgebogen wird, damit die Oberfläche wieder aalglatt erscheint. Ich würde solche Zustände gerne öfter auch mal auf mich wirken lassen können, akzeptieren lernen, dass ich nicht permanent “funktionieren” muss. Dass es in Ordnung ist, nicht immer einen Plan zu haben. Dass ich nicht für alles verantwortlich bin, sondern so einiges seine Ursprünge auch in gesellschaftlichen Umständen hat, die sich nicht einfach mal so mit Hilfe von ein bisschen Selfcare und Gesprächstherapie lösen lassen.

Jemand, der genau das ganz wunderbar und prosaisch in Worte zu fassen vermag, ist der Autor Benjamin Maack. In seinem Buch “Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein”, spricht Maack über sein Leben mit Depression und setzt statt auf Verdrängung auf die unmittelbare Konfrontation, stellt sich der Herausforderung. Indem er sich in seiner ganzen Fragilität preisgibt, gelingt es Maack, auf Distanz mit sich selbst zu gehen. Er beobachtet sich gewissermaßen von außen, wodurch er zumindest im Rahmen der schriftlichen Verarbeitung aus dem Strudel der Emotionen und Verzweiflung ausbrechen kann. Das ist nicht nur wirklich lesenswert, sondern schafft auch für all jene ein tieferes Verständnis, die selbst nie mit Depressionen zu kämpfen hatten. Und es nimmt Erkrankten die Angst vor dem Stigma, als verrückt erklärt zu werden oder als schwach und fragil, wenn sie sich öffnen. Denn Fakt ist auch, dass psychische Erkrankungen jede und jeden von uns treffen können. Laut Bundesgesundheitsministerium erkranken schätzungsweise 16 bis 20 von 100 Menschen irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung. Also rund ein knappes Fünftel. Und insbesondere seit der Corona-Pandemie wissen wir, wie wenig das oft mit unseren eigenen Entscheidungen zu tun hat. Plötzlich fallen bestimmte Aspekte unseres Lebens weg, die uns bislang Sicherheit und Struktur gegeben haben. Für Menschen, die zuvor schon unter psychischen Erkrankungen gelitten haben, kann diese Situation jetzt ganz besonders schlimm sein. Aber auch für alle anderen ist es eine Belastung, weshalb wir unsere Sorgen, Ängste und Gefühle durchaus ernst nehmen sollten. Darum möchte ich am Ende dieser Episode noch kurz auf die Shownotes verweisen, in denen wir unter anderem die kostenlose Telefonberatung der BZgA und das Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe sowie weitere Hilfsangebote für Betroffene sowie Angehörige von Betroffenen verlinkt haben. 
Last but not least, danke ich euch fürs Zuhören. Wenn der Podcast euch gefällt, dann teilt ihn gerne mit Freunden und Bekannten. Außerdem würden wir uns besonders freuen, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt, damit wir weiterhin gute Inhalte für euch kreieren können. Supporten könnt ihr uns ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Das geht schon ab 1€. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

22. April 2021

Klimakrise, Burn-out- alles eine Frage der Zeit?

von Henrietta Clasen 16. März 2021

Es gibt Dinge die bemerkt man lange Zeit nicht, bevor man zu wenig oder zu viel davon hat. Eines dieser Phänomene ist “die Zeit”. Sie ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Die Luft, die wir atmen. Immer da und doch nicht greifbar. Nur als Jenes, das verrinnt. Vor unseren Augen als Zeiger, die fortlaufend das Ziffernblatt der Uhr umrunden. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde für Stunde. Und das, ganz gleich, ob es uns beliebt oder nicht. Die Zeit lässt sich nicht stoppen, nicht unter Kontrolle bringen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass der Mensch noch keine Technik erfunden hat, die eben dies bewirkt. Doch, wenn sich die Zeit schon nicht kontrollieren lässt, so doch wenigstens der Umgang mit ihr. Man könnte sagen, der moderne Mensch IST Zeit. Er hat sie sich in solchem Maße angeeignet, dass sie Teil seines Selbst geworden ist – oder er Teil von ihr.

SHOWNOTES:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder  werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Alles eine Frage der Zeit: Harald Lesch, Karlheinz A. & Jonas Geißler. oekom Verlag.
► Momo: Michael Ende.
► Ist es radikal, nach Corona lange Ferien zu machen? Teresa Bücker in “Freie Radikale: Die Ideenkolumne” des sz-Magazins.
► 24 Jahre schlafen: Dafür geht unsere Lebenszeit drauf: Stern.de.

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Transkript: Klimakrise, Burn-out- alles eine Frage der Zeit?

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ So steht es in Michael Endes Kinderbuch Momo. 

Es gibt Dinge die bemerkt man lange Zeit nicht, bevor man zu wenig oder zu viel davon hat. Ansonsten kommen sie einem wie das Selbstverständlichste der Welt vor. Eines dieser Phänomene ist “die Zeit”. Sie ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Die Luft, die wir atmen. Immer da und doch nicht greifbar. Nur als Jenes, das verrinnt. Vor unseren Augen als Zeiger, die fortlaufend das Ziffernblatt der Uhr umrunden. Sekunde um Sekunde, Minute, um Minute, Stunde für Stunde. Tag für Tag, Jahr um Jahr. Und das, ganz gleich, ob es uns beliebt oder nicht. Die Zeit lässt sich nicht stoppen. Nicht unter Kontrolle bringen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass der Mensch noch keine Technik erfunden hat, die eben dies bewirkt. Die Zeit, wie in Michael Endes Roman Momo, zum Stoppen bringt. Doch wenn sich die Zeit schon nicht kontrollieren lässt, so doch wenigstens der Umgang mit ihr. Man könnte sagen, der moderne Mensch IST Zeit. Er hat sie sich in solchem Maße angeeignet, internalisiert, dass sie Teil seines Selbst geworden ist – oder er Teil von ihr. Um sie, also die Zeit, unter Kontrolle zu bringen, stehen dem postmodernen Subjekt ein reichhaltiges Repertoire  von Strategien zur Verfügung, die es zur Anwendung bringen kann: von Speed-Reading, über One-Day-Delivery, Fast-Food-Ketten, Intermittent-Fasting, bis hin zur akribischen Tagesplanung, To-do-Listen und dem Leistungs-Tracking mittels moderner Technik. All dies gibt den Menschen das Gefühl ihr Leben und damit die verstreichende Zeit, unter Kontrolle zu haben. “Es liegt allein in deiner Hand”, scheint der Zeiger auf der Uhr uns mahnend entgegen zuraunen. Time is money! Oder, wie Seneca einst schrieb: “Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.” 

24 Jahre seines Lebens verschläft der durchschnittliche Deutsche angeblich. 12 Jahre sieht er fern – zu Corona-Lockdown-Zeiten sind es vermutlich noch mehr. 374 Tage verbringt der Mensch angeblich wartend – an Ampeln, im Stau, an Flughäfen, in Schlangen, an der Kasse, beim Arzt… Doch wer beurteilt eigentlich, ob diese Zeit sinnvoll oder vergeudet ist? Wer, außer uns selbst, kann diese Bewertung vornehmen? In einer idealen Welt, wäre das vielleicht auch so, in der es uns, wovon Marx schon träumte, frei stünde „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren”. Oder vielleicht auch einfach mal nichts zu tun? Gut, das hätte Marx vielleicht anders gesehen. Aber, was ich damit sagen will, ist: Es ist leider nicht ganz so einfach. Denn Zeit ist leider nicht rein individuell zu betrachten. Sowohl in Bezug darauf, welchen Stellenwert sie für uns einnimmt, als auch, welchen Zugang wir zu ihr besitzen. Genau das ist nämlich immer schon unweigerlich mit dem Zeitgeist, der Gesellschaft und Kultur, in der wir leben, verbunden. Und, oh Wunder, was macht es wohl mit Menschen, die in einer Welt leben, in der Zeit wichtigste und knappste Ressource zugleich ist? Von Effizienz und Optimierungszwang getrieben, eilt das moderne Subjekt von A nach B. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie vielleicht weniger in geografischer Hinsicht, aber doch weiterhin, und sei es zwischen Home-Office Laptop und Kinderzimmer. Es gibt so viel zu tun, zu sehen, zu lesen zu wissen und vor allem so viel, zu dem man seinen Senf hinzugeben könnte. Meinung ist heute alles! Wer keine Meinung hat, hat verloren. Manchmal frage ich mich jedoch, wie ich mir überhaupt eine Meinung bilden soll, wenn alles an mir vorbeirauscht, die Twitter Meldungen nach 3 Sekunden schon veraltet sind und jeden Tag ein neuer Skandal auf dem Titelblatt steht. Wann soll ich die Zeit finden, mir darüber mal wirklich Gedanken zu machen? Mich mal intensiv mit etwas auseinandersetzen? Geschweige denn, mal anderen wirklich zuhören? Eine “Empörungskultur” erlaubt das nicht. Hier zählt nur das ausgesprochene oder ausgeschriebene Wort – möglichst schnell und am besten laut.

“Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat”, schrieb einst der Physiker und Mathematiker Georg Christoph Lichtenberg. Ich erinnere mich noch, wie zu Anfang des ersten Corona-Lockdowns davon gesprochen wurde, wie viel mehr Zeit uns doch nun zur Verfügung stünde. Und, ach, welch ein Privileg! Was soll man nur mit ihr anstellen? Mit all der überflüssigen Zeit, die doch keinesfalls vergeudet werden durfte. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieser kurze Moment des Zeitwohlstands, der vermutlich auch nur einer sehr sehr kleinen Gruppe von Menschen vergönnt blieb, schnell vorüberging. Heute höre ich zumindest nur noch selten von Menschen auf der Suche nach neuen Hobbys, wie dem Puzzeln, Sauerteigbrot backen oder Stricken. Corona hat eines ganz bestimmt nicht vermehrt, die Zeit. Die Journalistin und Autorin Teresa Bücker schreibt in ihrer Kolumne für das Magazin der Süddeutschen Zeitung: “Der Corona-Bonus, den alle verdienen, ist mehr freie Zeit. Wir brauchen Corona-Sonderurlaub auch nach der Pandemie, damit wir nach einer langen Zeit, in der neben der Arbeit kaum etwas stattfand, wieder spüren können, warum wir auf der Welt sind.” Auch, wenn kritisch zu diskutieren wäre, um wen es sich bei diesem kollektiven “wir”, das Bücker anspricht, handelt, so kann ich mich ihrem Punkt, den sie damit vermutlich setzen will, nicht ganz entziehen. Denn ein Leben, das primär aus Arbeit, genauer gesagt, Lohnarbeit und oft unbezahlter Care-Arbeit besteht, ist ziemlich anstrengend, wenn nicht sogar ermüdend. Hinzu kommt die psychische Belastung der Situation an und für sich. Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft. Was bleibt einem da anderes übrig, als sich voll und ganz der Arbeit hinzugeben? Der nächste Urlaub rückt schließlich eh in immer weitere Ferne.

Mit der Gleichsetzung von Zeit mit Geld verblasste die Bedeutung ökologischer wie kultureller System- und Eigenzeiten immer mehr. “Dafür zahlen nicht nur die heute lebenden Menschen, sondern vor allem die Natur und die künftigen Generationen einen hohen Preis”, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler in dem Buch Alles eine Frage der Zeit, welches just am heutigen Tage erscheint. Er und seine zwei Co-Autoren, Harald Lesch und Jonas Geißler eröffnen darin eine weitere Perspektive auf das Phänomen Zeit, die eigentlich von größter Relevanz für uns alle sein sollte. Nämlich die Frage, wie viel Zeit uns noch bleibt, um unseren Planeten und damit auch die Menschheit zu retten. Sprich, wie viele Jahre oder Jahrzehnte, bleiben uns noch, um die Klimakrise abzuwenden? Um das Schlimmste zu verhindern oder gar das Blatt zu wenden und eine lebenswertere Zukunft zu gestalten? “Klimakrise, Artensterben, Burn-out? Alles eine Frage der Zeit!”, sagt Harald Lesch. “Zeitnot und Hektik prägen unsere Gesellschaft. Gemäß dem Motto »Zeit ist Geld« kämpfen wir gegen alles Langsame, Bedächtige oder Pausierende, oft bis zur Erschöpfung. Dafür zahlt auch die Natur einen hohen Preis: Unsere Nonstop-Gesellschaft forciert die ökologische Krise. Was die Natur in Jahrtausenden erzeugt hat, wird in kürzester Zeit »verwertet«, ja regelrecht verbrannt.” Was es den Autoren zufolge bedarf, ist eine “nachhaltige Zeitkultur”, “in der das Diktat der Verrechnung von Zeit in Geld überwunden ist und wir nicht länger uns und unsere Umwelt verschleißen. [Denn nichts] hat keine Zeit, alles aber hat seine Zeit! Verändern wir unser Verhältnis und Verständnis zur Zeit, dann fördern wir die Zukunftsfähigkeit unserer Lebensformen.” Es ist wirklich an der Zeit, so könnte man sagen!

Ein Blick auf die Politik erweckt jedoch eher den Eindruck, als lebe sie in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum, zu der die existenzielle Dringlichkeit der klimatischen Veränderungen noch nicht vorgedrungen ist. Oder aber, es gilt, was Ernst Ferstl einst schrieb: “An Zeit fehlt es uns vor allem dort, wo es uns am Wollen fehlt.” Nur ist das wiederum der Natur ziemlich einerlei, ob wir wollen oder nicht. Der Klimawandel wird sich weiter vollziehen, wenn wir den Kurs nicht ändern. Und damit ist nicht nur die Umsetzung der Maßnahmen des Pariser Klimaabkommens gemeint, sondern auch das Überdenken unseres Verständnisses von uns Menschen in der Welt und damit auch in der Zeit. Autor und Berater Jonas Geißler empfiehlt dazu folgendes: “Eine gute Möglichkeit, sich selbst auf die Spur zu kommen, ist, statt “Zeit einmal “Leben” zu sagen und zu beobachten, was dann passiert. Unsere Wahrnehmung verändert sich augenblicklich: ›Ich habe kein Leben?‹ ›Ich leide unter Lebensknappheit?‹ ›Ich habe Lebensprobleme?‹ Es wird deutlich, wie unser Denken und Sprechen über die Zeit uns dazu verführt, auf einer bestimmten Ebene zu bleiben und die dahinter liegenden Probleme nicht zu erfassen. Wenn wir sagen: ›Ich habe keine Zeit‹, scheint das etwas zu sein, was außerhalb unserer Verantwortung liegt. Wenn wir sagen: ›Ich habe kein Leben‹, sprechen wir von uns.”

Sicherlich, das Hinterfragen individuellen Zeitverständnisses und -gebrauchs ist ein wichtiger Schritt – dabei belassen sollten wir es jedoch nicht. Ein sehr viel grundsätzlicheres Umdenken, insbesondere auf ökonomischer Ebene sei vonnöten, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler: “Der vom Messen besessene Kapitalismus sieht in der Natur eine endlos verfügbare Ressource, der man sich, ohne sich um die Reproduktion zu kümmern, nach Belieben bedienen kann. Zeit ist aber ebenso wenig eine Ressource wie das Leben selbst. »Ressource« ist sie nur in der ökonomischen Systemlogik. Wir tun gut daran, deshalb auch nur im Rahmen ökonomischer Diskurse der Zeit Ressourcencharakter zuzuschreiben. Geht’s um Zeit in Kultur, Kunst, Politik oder in Bildung und Erziehung, ist die Ressourcenperspektive fehl am Platze. In der Ökonomie muss man Zeit gewinnen, in der Erziehungs- und der Bildungsarbeit, wie auch in der Kunst, Zeit in kreativer Art und Weise verlieren.”

Es gilt also bewusster und zugleich “verschwenderischer” mit Zeit umzugehen. Für einen neuen Zeitwohlstand, der allen zugutekommt, Mensch, wie Natur. Die Zeit dafür ist mehr als reif! Nehmen wir sie uns!


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16. März 2021

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

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Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

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12. Januar 2021

Anna Mayr: Warum sind Arbeitslose systemrelevant?

von Marilena 5. Januar 2021

Kann es sein, dass Arbeitslosigkeit gewollt ist? Dass das Elend vieler Menschen in Kauf genommen wird, um ein Paradigma aufrechtzuerhalten, das wir seit geraumer Zeit befolgen? Das Dogma des: Ich arbeite, also bin ich. Anna Mayr ist davon überzeugt. In ihrem Buch „Die Elenden“, plädiert Anna Mayr dafür, dass wir uns von Leistungsidealen, dem Glauben an Bildungsgerechtigkeit und unserem Arbeitsfetisch verabschieden sollten. Und für eine Welt, in der wir die Elenden nicht mehr brauchen, um unseren Leben Sinn zu geben.

Shownotes:

► Anna Mayr: Die Elenden: Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht. Hanser Literaturverlage, 08/2020.
► Virginia Woolf: A Room of One’s Own. 1929.
► Spiegel.de: »Hillbilly Elegy« auf Netflix: Hollywoods Hilflosigkeit. Hannah Pilarczyk.
► Boston Globe: ‘Hillbilly Elegy’: welcome to hard times. Ty Burr.

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5. Januar 2021

Elisabeth von Thadden: Vereinsamen wir unfreiwillig?

von Marilena 15. Oktober 2020

Abstand wahren, Kontakte einschränken, Körperkontakt vermeiden. Gerade die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf unser Miteinander, hat uns zwei Dinge vor Augen geführt: Ersten, wie wichtig und überlebensnotwendig Berührungen für uns Menschen sind. Und zweitens, wie verletzbar wir doch als leiblichen Wesen sind. Sehnsucht nach Abstand. Angst vor Einsamkeit. Diese Ambivalenz scheint dem Bedürfnis nach Nähe und Berührung innezuwohnen – aber, was bedeutet das für den Menschen?

In Ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ stellt sich die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth von Thadden eben diese Frage. Und versucht zu ergründen, wie individuelle Freiheiten, der Wunsch nach Nähe, Solidarität und gesellschaftliches Miteinander in einer immer schnelllebigeren Welt miteinander vereinbar sind.

Shownotes:
► Die berührungslose Gesellschaft von Elisabeth von Thadden. Erschienen 2018 im C.H.Beck Verlag.
► Elisabeth von Thadden ist verantwortliche Redakteurin des Feuilleton der ZEIT und schreibt hier.

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15. Oktober 2020
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