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Wirtschaft

Frank Adloff: Denkbar, eine post-neoliberale Welt?

von Ricarda Manth 4. Februar 2021

Wie können wir in Zeiten der Globalisierung miteinander leben, uns unterscheiden und Konflikte haben, ohne uns zu massakrieren? Erst kürzlich, im September 2020, erschien das zweite konvivialistische Manifest, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine „post-neoliberale Welt“ plädieren. Der Soziologe und Mitinitiator Frank Adloff erklärt im Gespräch was es mit dem Konzept des Konvivialismus auf sich hat und welche Ziele es verfolgt. 

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder  werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

  • Die Deutsche Website der Konvivialisten.
  • Die Französische Website Convivialisme.
  • Das erste sowie das zweite Konvivialistische Manifest finden sich auf der Website des transcript Verlages als Open Source Dateien zum kostenlosen Download.
  • Das Forschungskolleg “Zukünfte der Nachhaltigkeit” der Universität Hamburg.

✉ [redaktion@sinneswandel.art] (mailto:redaktion@sinneswandel.art)
► [sinneswandel.art] (https://sinneswandel.art)

4. Februar 2021

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

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Kontakt:

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Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn die Episode euch gefallen hat, dann teilt sie doch gerne mit anderen. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder auf Steady unsere Arbeit unterstützt. Oder auch ganz einfach, indem ihr uns einen kleinen Obulus an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle weiteren Infos, wie auch weiterführende Literatur und Quellenhinweise, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

12. Januar 2021

Kunst und Kultur – (in Krisen) nicht systemrelevant?

von Ricarda Manth 18. November 2020

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und dem Vorgefundenen machen. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich.

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” kreist. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Diese Debatte verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt und hat hierzu einen Essay verfasst, der nun als erster Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcast erscheint.

Shownotes:
► Till Brönner’s Wutrede.
► Julian Nida-Rümelin über die Corona-Maßnahmen: Kulturzeit-Gespräch.
► Kunst, Kritik und Krise: NZZ-Kolumne von Konrad Paul Liessmann.
► Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960).
► Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis (2014).
► Alva Noë: Strange Tools: Art and Human Nature (2015).
► Amelie Deuflhard zum Theater-Lockdown: FAZIT-Beitrag.

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Transkript: Kunst und Kultur, (in Krisen) nicht systemrelevant?

Was ist der Mensch ohne Kultur? Kultur, nicht nur verstanden als das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und den vorgefundenen Verhältnissen machen. Die gesamte menschliche Welt, sofern sie auf Aktivitäten und Leistungen des Menschen zurückgeht. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich. “Der Punkt, an dem der Mensch schon da ist, die Kultur aber noch nicht, ist ein theoretischer Nullpunkt.” So formulierte es kürzlich die Professorin Dr. Birgit Recki während einer Kulturphilosophie Vorlesung, der ich gespannt lauschte. 

Umso interessanter erscheint daher die Debatte, die seit Bekanntmachung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Covid-19 Virus entbrannt ist. Ein Streit, der immer wieder um den Terminus der “Systemrelevanz” zu kreisen scheint. Und die Frage aufwirft, auf welche Praktiken, Dienstleistungen und Örtlichkeiten wir als Menschen in krisenhaften Zeiten verzichten können und sollten. Eben dieser Debatte um Kultur und Systemrelevanz, verfolgt auch der Schweizer Manuel Scheidegger, der Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim studiert hat, gespannt. Und ich freue mich sehr, dass er mit seinem Essay, den er zu diesem Thema verfasst hat, den ersten Gastbeitrag im Rahmen des Sinneswandel Podcasts veröffentlichen wird. In meinen Augen ein wichtiger Schritt, um Sinneswandel zu öffnen, als Raum zu Denken, der mitgestaltet werden möchte. Nicht nur durch meine Wenigkeit, sondern, der bereichert wird durch möglichst vielfältige Perspektiven und Gedanken von unterschiedlichen Gastautorinnen und -autoren. Über Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Einreichung von Beiträgen, ist auf der Website www.sinneswandel.art mehr zu lesen.

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn das Recherchieren und Produzieren des Podcast ist nicht nur zeitintensiv, sondern kostet, wie fast alles im Leben, auch Geld. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Nun wünsche ich viel Freude mit dem Gastbeitrag von Manuel Scheidegger über Kultur und Systemrelevanz.


“Sowas wie heute habe ich noch nie gemacht. Muss daran liegen, dass ich ziemlich sauer bin. Seit Monaten schaue ich mir jetzt nicht nur an, wie eine gesamte Branche durch Corona lahmgelegt wird, sondern erlebe auch, wie auffällig verhalten und geradezu übervorsichtig Bühnenkünstler:innen sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern, obwohl ihre Existenz gerade fundamental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurückhaltung aus unseren eigenen Reihen für fatal, weil sie ein völlig falsches Bild der dramatischen Lage zeichnet, in der sich unser Berufszweig aktuell befindet. Und ich denke, es ist an der Zeit einmal klarzustellen, worüber wir gerade sprechen. Denn hier geht es nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um uns alle. Und es geht um Geld, viel Geld.” – Mit dieser Wutrede hat sich der bekannte Jazzmusiker und Kulturunternehmer Till Brönner am 27. Oktober dieses Jahres an seine Follower:innen gewandt. Ein Tag später hat die Bundesregierung offiziell verkündet, dass „Theater, Opern- und Konzerthäuser sowie ähnliche Einrichtungen“ bis Ende November in den Teil-Lockdown müssen. Ähnliche Einrichtungen, das sind solche, die ebenfalls „der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind“. Darunter fallen laut Beschluss der Bundesregierung auch Fitnessstudios, Freizeitparks, Spielbanken oder Bordelle. Diese Reihung hat – sagen wir es mal offen – Anlass zu Fragen gegeben.

Spielbanken und Bordelle sind gesellschaftliche Realitäten. Und es kann  – bei allen diskussionswürdigen Fragen, die sie aufwerfen  – sogar interessant sein, darüber nachzudenken, was Glücksspiel und Sexarbeit mit unserem Bedürfnis nach Kunst teilen. Auch gegen Fitnessstudios und Freizeitparks ist nichts einzuwenden. Aber ob Kultur wirklich nur der Ergometer des Grosshirns und Kunst eine Art Disneyland – nur mit Anspruch ist, darüber lässt sich streiten. Die Debatte, die Brönner sich gewünscht hat, ist durch den Beschluss lautstark losgetreten worden.

Zahlreiche Stimmen haben sich zu Wort gemeldet: Im Grundsatz waren sich alle einig. Die Pandemie muss natürlich bekämpft werden, Einschränkungen ergeben Sinn. Punkt. Aber bitte „in sich stimmig, halbwegs logisch“, forderte etwa der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida Rümelin und wunderte sich, dass in ICEs vier Personen an einem Tisch sitzen, während in Museen und Theatern weit ausgefeiltere Hygienekonzepte längst Maßstab waren. Warum sind Gottesdienste erlaubt, aber die Versammlungsfreiheit in der Kunst eingeschränkt? Ist Theater nicht eine säkulare Form jener Sinnsuche, die im Gottesdienst gesucht wird? Schließlich sei Theater doch wie die Liebe, zwar nicht existentiell, aber „lebensrelevant“, so der Intendant Stefan Märki. Etwas prosaischer ist da Brönners Hinweis, dass im Kultur- und Kreativbereich mehr Menschen als in der Automobilindustrie tätig sind. Und 2019 sage und schreibe über 170 Milliarden Euro umgesetzt wurden (vgl. Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft). Gegen solche Zahlen und überhaupt jede Idee, die Kunst zu Markte zu tragen, wetterte der Philosoph Konrad Paul Liessmann in der NZZ: Kunst war nie lebensrelevant und er zitiert den Spätaufklärer Karl Philip Moritz: „Das Nützliche ist der Feind des Schönen.“ Wer Kunst retten will, so Lissmann, „sollte unverblümt einbekennen, dass es Menschen gibt, die etwas brauchen, das zu nichts zu gebrauchen ist.“ Nicht einmal zum Leben? Und auf keinen Fall zur Gestaltung von Freizeit? Aber wozu dann?

Die Frage ist brisant. Denn in der Debatte um die Systemrelevanz von Kunst haben sich bereits die ersten Entscheidungen eingeschlichen: So hat die Stadt Bamberg schon angekündigt, die Mittel für Kultur im nächsten Jahr um 25% zu streichen. Da nützt es dann auch nichts mehr, dass die Kulturstaatsministerin Monika Grütters Kultur als „systemrelevant“ bezeichnet, „weil sie das kritische Korrektiv in unserer Gesellschaft“ ist. Wer braucht schon ein kritisches Korrektiv, wenn die Zeiten selbst kritisch sind?

Für viele ist Kunst und Kultur wieder einmal dort angekommen, wo sie zu lange schon war: Am Rande der Gesellschaft, nicht wirklich systemrelevant. Aber ist dieses System umgekehrt denn auch kulturrelevant? Wie es der Poetryslammer Rainer Holl ironisch umgedreht hat. Was ist denn ein System ohne Systemkultur? Und was wäre, wenn wir besonders in Krisenzeiten mehr Kunst und Kultur brauchen und nicht weniger? Wenn sogar jedes System genuin davon abhängt, dass es sich – gerade durch die Impulse von Kunst und einer Kultur der kollektiven Auseinandersetzung mit ihr – zu wandeln vermag? Was wenn Menschen ohne Kultur nichts sind und das heißt: Kultur für uns alles ist? 

Doch was ist denn eigentlich Kunst? Diese Frage sprengt natürlich jeden Rahmen. Und das ist zugleich ihr erstes Kennzeichen. Kunst sprengt Rahmen. In diesem Sinne hat etwa der Philosoph Jacques Derrida in „Die Wahrheit der Malerei“ die Frage nach dem Rahmen als wesentliches Moment der Kunst bezeichnet. Kunstwerke rahmen immer wieder neu. Sie lassen uns spielerisch bestimmen, wovon sie handeln, was sie einrahmen und was sie ausklammern. Was sie zeigen, was sie verhüllen und was undarstellbar bleibt. Sie lassen uns darüber streiten, worum es geht und wie es darüber geht. Kein Kunstwerk ist einfach da, genauso wenig wie kein Mensch einfach ist. Kunstwerke und Menschen fordern Gespräche, wenn sie verstanden werden wollen, und das heißt, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, dass man sich auf sie einlässt. Sich dem Spiel des guten und offenen gemeinsamen Gesprächs hingibt und nicht der Intention, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren und auf jeden Fall recht zu behalten. Kunst und Kultur eröffnen empathische Gesprächsräume unter Gleichen. Sie halten die Demokratie am Laufen. Sie trainieren den Diskurs als einen gemeinsamen, pluralen und wertschätzenden – und das ist dann tatsächlich Fitness für das 21. Jahrhundert.

In der Kunst lernen wir aber nicht nur zu verhandeln, sondern auch ganz praktisch zu handeln. Denn Kunst bricht immer neu mit Routinen. Und Handeln, wenn es nicht automatisiert und in blinden Prozessen verläuft, ist unsere Fähigkeit, mit Unterbrüchen und Überraschungen umzugehen, auf die Veränderungen der Welt zu antworten, in dem wir eben – handeln. Dass das nicht immer glückt und mitunter tragisch sein kann, genau das zeigt die Kunst. Aber sie tut es, wie der deutsche Ästhetiker Martin Seel sinngemäß einmal gesagt hat, indem sie, was ein Kreislauf der Gewalt ist, in ein Spiel von Formen übersetzt. Schmerz wird zu Lust. Angst zu Optimismus. Kunst ist Krise in Permanenz, aber immer produktiv und positiv. So ist Kunst ein Tool, aber, wie der amerikanische Gegenwartsphilosoph Alva Noë sagt: ein “strange tool”, das heißt eines, das uns herausfordert, zuerst einmal herauszufinden, wofür es zu gebrauchen ist und das heißt: was wir überhaupt tun könnten. Kunst und Kultur sind keine Freizeit-, sondern Zukunftsgestaltung. Der Ort, wo wahre Innovation ihren Anfang nimmt. 

Das Problem ist: Wenn Kunst heute im politischen Alltagsgeschäft um systemrelevante Betriebe und finanzielle Unterstützung in Vergessenheit gerät, dann liegt das auch an einer Tradition, die Kunst seit der Moderne als autonom versteht. Autonomie hieß nämlich zu oft, die Kunst habe spezielle Gesetzmäßigkeiten, sie sei ihr eigenes System und nicht auf anderes übertrag- und schon gar nicht funktionalisierbar. Noch viel zu viel verstecken sich Künstler:innen selbst hinter dieser Parole, wenn sie gefragt werden, was ihre Kunst bewirken soll: “Nichts. Ich irritiere nur”, war zu lange eine Standardantwort, die sich der praktischen Relevanz enthebt und sich vor Verbindungen mit dem Außerhalb der Kunst scheut. Die Krise bietet nun die Chance, das Auratische, die Verklärung der Kunst zum Aussergewöhnlichen, zu nivellieren und anders zu denken. Kunst ist zunächst nämlich eine menschliche Praxis, in der wir uns in unterschiedlichen Weisen und mit unterschiedlichen Mitteln immer wieder selbst neu gestalten, so der Berliner Philosoph Georg W. Bertram. 

Wenn Kultur die Summe unserer gemeinsamen Auseinandersetzungen ist, die durch Kunst im weitesten Sinne angestoßen werden, dann ist der Vergleich mit dem Freizeitpark, den der Bundesbeschluss evoziert, mehr als schief. Kunst und Kultur sind nicht an der Peripherie der Stadt, sie sind mitten drin in der Gesellschaft. Jeder Mensch, der Fragen stellt, Annahmen und Handlungsmuster erneuert, ist – frei nach dem Künstler Josef Beuys – Künstler und Künstlerin. Kunst ist der Name für das, was passiert, wenn Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und spielerisch transformiert werden. Egal ob in Unternehmen, im Kanon der moderne Kunstwerke oder in der Diskussion über “das System”. Kunst ist ein demokratisches Werkzeug. Es macht deutlich: So muss es nicht sein. So kann es werden. Oder mit dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty gesagt: Malerei und Kunst im Allgemeinen “ordnen die prosaische Welt neu”. 

Nun nochmal zurück zur aktuellen Situation, der Coronapandemie und dem Shutdown der Kunst. „Vielleicht sollten wir mal ein bisschen zurücktreten und uns nicht so hyperüberschätzen.“, sagt Amelie Deuflhard, Künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg. Und sie fragt: „Können wir uns nicht irgendwo in einem anderen gesellschaftlichen Bereich sinnstiftend betätigen? Für eine Zwischenzeit Schauspielerinnen und Schauspieler zu alten, vereinsamten Menschen schicken, in Gesundheitsämtern aushelfen?“

Natürlich ist in Krisen jede Hilfe gefragt. Auch ein Beitrag der Kunst- und Kulturszene – aber wenn, dann am besten künstlerisch, mit Fragen, mit kreativen Ideen, dem Aushaltenkönnen, Verlangsamen und jener Resilienz, die Künstler:innen immer schon hatten, weil sie nicht das System interessiert, sondern vor allem das, was es am Laufen hält, es unterbricht und umwirft, aber ohne das kein System der Welt je Bestand hat: das Leben selbst. 

Was könnte in diesem Moment sinnstiftender sein, als der Kultur neue Räume zu erschließen, statt alte zu schließen? Wo es in Schulen zu eng ist, könnten Museen einspringen – und gleich eine neue Form einer Schule des Sehens und Denkens mit Bildern erproben. Wo es an Betreuung fehlt und Jugendliche zu oft allein an Playstations sitzen, könnten neue Filmclubs entstehen oder gerne auch Clubs, in denen Games, ihre Erzählungen, Figuren und Themen gemeinsam diskutiert werden. Wo nach interdisziplinären und innovativen Lösungen gerufen wird, könnte man endlich auch Künstler:innen mit an den Tisch sitzen, sie sind nämlich gerade faktisch arbeitslos. Insgesamt bietet die Krise die Chance, dass wir mit Kunst und Kultur wieder mehr lernen, dass produktive Dissonanz Lust bedeutet und kein Niederbrüllen, und echtes Querdenken sehr viel sozialer, integrativer und – das sei erlaubt – einfach auch schlauer ist als jene meinen, die es am lautesten für sich reklamieren. 

Kunst und Kultur sind super. Wie vieles andere auch. Sie sind ein fantastisches Element unserer Kultur – neben anderen. Sie eröffnen Räume, in denen wir Welt neu in den Blick nehmen und Ideen entwickeln. Jedes System, das sich auf eine reine instrumentelle Mittel-Zweck-Beziehung und die Macht der Effizienz und Funktionalität reduziert, fährt gegen die Wand. Denn gerade Krisen zeigen: was überhaupt ein Mittel ist und was Ziele, die uns inspirieren, braucht Gespräch. Dissonanz. Demokratie. Offenheit. Culture of Failure. Ambivalenz. Widerspruch. Freude. Oder sagen wir einfach: überhaupt Kultur.


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18. November 2020

Clara Mayer: Was hat Klimagerechtigkeit mit Feminismus zu tun?

von Marilena 7. Oktober 2020

Zwei Jahre gehen sie nun auf die Straße und protestieren. Lassen dafür sogar die Schule sausen. Weil ihr Anliegen ihnen so wichtig und weitreichend erscheint, dass sie keine Kompromisse eingehen können und wollen. Sie fordern einen radikalen Wandel – jetzt und nicht morgen. Denn die Klimakrise lässt nicht auf sich warten. Doch es geht nur schleppend voran. Die Ziele, die einst im Pariser Klimaabkommen festgelegt wurden, wie auch die Maßnahmen des Klimapakets, scheinen nur zweitrangig zu sein. Dabei müsste Klimagerechtigkeit doch ganz eindeutig an oberster Stelle stehen. Diese Meinung vertritt auch Clara Mayer. Sie ist Pressesprecherin von Fridays For Future Berlin. Bezeichnet sich selbst als Klimaaktivistin und “feminist monster”.

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7. Oktober 2020

Christian Felber: Ist unsere Wirtschaft krank?

von Marilena 18. Januar 2020

Mein heutiger Gast ist nicht nur der Überzeugung, dass unser derzeitiges Wirtschaftssystem als auch die Art und Weise, wie wir Wirtschaft lehren und denken, krank ist, sondern zudem uns Menschen und den Planeten krank machen. Darum benötigt es ihm zufolge eine Revolution der Wirtschaftswissenschaft. Wozu er auch in seinem erst kürzlich erschienenen Buch „This is not economy“, aufruft. Christian Felber, von dem hier die Rede ist, kritisiert die Wirtschaft allerdings nicht nur in seinen Büchern. Als Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie und Gründungsmitglied von Attac Österreich, setzt er sich auch selbst aktiv für die Umsetzung seiner Forderungen ein. Wie die Abschaffung der Sichtweise auf den Mensch als Homo oeconomicus, die Verantwortungsübernahme von Unternehmen für Mensch und Natur und damit eine Wirtschaft, die dem Gemeinwohl dient, anstatt es zunehmend zu zerstören. Ob und wie eine solche Revolution gelingen kann, das wollte ich von Christian Felber erfahren und habe mich zu diesem Zweck mit ihm in Hamburg getroffen.

Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern Wolfgang Brucker, Sebastian Brumm, Christian Danner, Maike Gemba, Claudia Grimm, Bastian Groß, Johannes Hönicke, Ole Jasper, Pauline Keller, Pascale Röllin, Nicolas Ruland und Anja Schillig, die den Podcast in diesem Monat mit 10€ oder mehr unterstützen.

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  • Lesenswert: Christian Felbers aktuelles Buch This is not economy: Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft
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18. Januar 2020
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