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Utopie

Gernot Wagner: Mit Technik den Klimawandel stoppen?

von Marilena 21. Februar 2023

Was, wenn es eine Lösung gäbe, die sowohl günstig, als auch mit einfachen Mitteln die Erderwärmung weltweit stoppen könnte? Es gibt sie bereits, sagt Klimaökonom Gernot Wagner. Und sie nennt sich “Solares Geoengineering”. In seinem neuen Buch: “Und wenn wir einfach die Sonne verdunkeln?” warnt er allerdings vor einem leichtsinnigen Einsatz der Technologie. Wieso und vor allem, um besser zu verstehen, was solares Geoengineering überhaupt ist, hat sich Marilena Berends mit Gernot Wagner unterhalten.

Shownotes:

Macht [einen] Sinneswandel möglich, indem ihr Steady Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr meine Arbeit auch via Paypal.me/sinneswandelpodcast. Danke.

► Gernot Wagner auf Twitter.
► “Und wenn wir einfach die Sonne verdunkeln? Das riskante Spiel, mit Geoengineering die Klimakrise aufhalten zu wollen” , oekom 2023.

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art



Transkript:

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Dürre, Überflutungen, Extremwetter: Schon heute erleben wir die Auswirkungen des Klimawandels – in Deutschland und weltweit. Und doch werden die notwendigen Maßnahmen, um die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, nur zögerlich, um nicht zu sagen, gar nicht umgesetzt. Zu teuer oder zu kompliziert hört man oft. Dabei kostet uns die Klimakrise allein in Deutschland schon jetzt rund 6,6 Milliarden Euro jährlich. Das heißt, auch wenn uns die Emissionsreduktion eine Menge kosten wird, ist es immer noch teuer, nichts oder weiterhin zu wenig zu tun. So viel steht fest.

Aber was, wenn es eine Lösung gäbe, die sowohl günstig, als auch mit einfachen Mitteln die Erderwärmung weltweit stoppen könnte? 

Es gibt sie bereits, sagt Klimaökonom Gernot Wagner. Und sie nennt sich “Solares Geoengineering”. Oder anders ausgedrückt: Wir müssen “einfach die Sonne verdunkeln” und schwupps, hätte sich innerhalb weniger Jahre die globale Temperatur abgekühlt. Klingt wahnwitzig, ist es auch, wenn es nach Gernot Wagner geht. Und trotzdem ist es ein reales Szenario, an dem bereits geforscht wird. Der Ökonom selbst ist Gründungsdirektor des Harvard Solar Geoengineering Research Programs und unterrichtet Klimaökonomie an der Columbia Business School. In seinem neuen Buch: “Und wenn wir einfach die Sonne verdunkeln? Das riskante Spiel, mit Geoengineering die Klimakrise aufhalten zu wollen” (2023) warnt er allerdings vor einem leichtsinnigen Einsatz der Technologie. Wieso und vor allem, um besser zu verstehen, was solares Geoengineering überhaupt ist, habe ich Gernot Wagner ein paar Fragen gestellt. 

Bevor wir beginnen, noch kurz vorweg: Wenn ihr diesen Podcast gerne hört, freue ich mich, wenn ihr meine Arbeit unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder indem ihr mir an Paypal.me/Sinneswandelpodcast einen Betrag eurer Wahl schickt. Unter allen Unterstützer*innen verlosen wir außerdem ein Exemplar von Gernot Wagners aktuellem Buch. Alle Links dazu findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank!

[Gespräch]

Outro

Vielen Dank euch fürs Zuhören. Wenn euch das Gespräch mit Gernot Wagner gefallen hat, teilt es gerne mit euren Freunden. Und falls ihr meine Arbeit via Steady oder Paypal supporten wollt, findet ihr dort auch alle Links und Infos. Das war’s von mir! Danke an euch fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal im Sinneswandel Podcast.

21. Februar 2023

Markus Gabriel: [Why] are we animals? [live]

von Marilena 3. November 2022

„What is to be human?“, this question Kant already asked himself hundreds of years ago. And exactly this question, the philosopher Markus Gabriel raises again in his new book, “Der Mensch als Tier” (“The Human animal – Why we still do not fit into nature”). Because it is on this question, or rather its answer, that our life depends on. Why, the author explains in this podcast episode, which was recorded  on the 26th of October 2022 during a live event at THE NEW INSTITUTE in Hamburg.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

► Markus Gabriel: “Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen”. Ullstein 10.22.
► THE NEW INSTITUTE Hamburg.

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

 

Transkript:

Hello and welcome to the Sinneswandel Podcast. My name is Marilena Berends and I’m happy that you decided to listen to today’s episode.

Some of you are probably already wondering: Why all of a sudden in English? First of all, this is an exception. The reason is that today’s episode was recorded during an event with international guests – a live podcast sort of thing. And my guest at this event was none other than the philosopher Markus Gabriel. Since he just recently published his new book, „The Human Animal. Why we still do not fit into nature,“ there was a public book launch at THE NEW INSTITUTE in Hamburg. And I had the pleasure of hosting it. After the talk, a vivid discussion followed, which we however are not allowed to publish due to data protection rights. But I’m sure, the conversation with Markus Gabriel already offers a lot. We will get to that in a moment. First of all, I would like to apologize for the sound quality. Due to the location, there is a bit more noise than usual. But I hope you will excuse that and you can nevertheless or maybe because of that dive deeper into the atmosphere of the conversation.

If you want to delve deeper into the topic: We are giving away a personally signed copy of „The Human Animal“ among all those who support Sinneswandel and thus also me and my work, as Steady members. For more information and how you can participate, please check out the show notes. And now let’s begin!

Outro:

Thank you very much for listening. I hope you could take something away from the conversation with Markus Gabriel and get a small impression of what he is talking about in his book. If so, I would be happy if you support my work by sharing this podcast and/or by supporting it financially. You can do that easily via Steady or Paypal. More info on that is found in the show notes. That’s it for today. See you next time at the Sinneswandel Podcast.

3. November 2022

Samira El Ouassil: Können Geschichten die Welt verändern?

von Henrietta Clasen 16. November 2021

Eine Geschichte kann die Welt retten, ebenso, wie sie zerstören. Eine Geschichte kann Wahlen entscheiden, Kriege auslösen, aber auch Menschen miteinander verbinden. Das behaupten zumindest Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Die zwei Autor*innen haben ein Buch geschrieben: „Erzählende Affen“. Es handelt von Mythen, Lügen, Utopien – eben Geschichten, die unser Leben bestimmen. Früher, als wir noch um das Lagerfeuer herum saßen und unsere Erlebnisse teilten, wie auch heute, wenn wir twittern oder Zeitung lesen. Der Mensch sei nun mal ein “homo narrans”, so lautet Samiras und Friedemanns These. Mit ihrem neuen Buch wollen sie aufzeigen, welche kollektiven Erzählungen uns heute gefährden und weshalb es an der Zeit ist für neue Narrative. 

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Der Sponsor der heutigen Episode ist FLSK. Unter dem Motto „Made for movement“ produziert FLSK innovative und designorientierte Trinkflaschen und seit kurzem auch den CUP Coffee to go-Becher. Mit dem könnt ihr euren Kaffee unterwegs nachhaltiger genießen. Mit „sinneswandel15“ erhaltet ihr bis Ende diesen Jahres 15 Prozent auf alle FLSK-Produkte, ohne Mindestbestellwert.

► Samira El Ouassil, Friedemann Karig: “Erzählende Affen – Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen”, Ullstein (2021).
►Samira und Friedemann findet ihr auch auf Twitter.
►Hörenswert: Piratensender Powerplay, der wöchentlich am Samstag erscheinende Podcast von Samira und Friedemann.

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16. November 2021

Laut gedacht: Wieviel Idealismus ist realistisch?

von Henrietta Clasen 21. September 2021

Wir alle haben Ideale oder zumindest eine Idee davon, wie die Welt aussehen sollte. Eine Welt ohne eine Ideale, ist schwer vorstellbar, prägen sie doch ganz entscheidend die Wirklichkeit – zumindest, wenn es nach den Idealisten geht. Doch inwieweit lassen sich Ideen verwirklichen? Oder noch ein Schritt zurück: Wieviel Raum ist überhaupt vorhanden, um Ideen zu entwickeln? Braucht es dazu nicht zumindest Zeit und Muße? Zwingt uns der Kapitalismus gar zum Realismus? Als Sinneswandel Redaktion, haben wir uns unter anderem diese Fragen gestellt und gemeinsam laut darüber nachgedacht. Zu diesem Gedankenexperiment möchten wir, Ariane, Katharina, Edu und ich, euch heute einladen. 

Shownotes:

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Die heutige Episode wird präsentiert von Vodafone. Ihr könnt ab jetzt mit bis zu 1000 grünen Mbit/s im Vodafone Netz surfen – mit Strom aus 100 % erneuerbaren Energien – ab 39,99€ dauerhaft. Mehr Infos auf vodafone.de/greengigabit und im Vodafone Shop.

► Avishai Margalit: Über Kompromisse – und faule Kompromisse, Suhrkamp (2011).
► Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus – Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Reclam.
► Jacques Derrida: Gesetzeskraft: Der »mystische Grund der Autorität«, Suhrkamp (1991).
► Isaiah Berlin: Freiheit – Vier Versuche, Fischer Verlag (2006).

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21. September 2021

Irritation – wieso brauchen wir Dissens?

von Henrietta Clasen 13. Juli 2021

Social Bubbles, von denen so oft die Rede ist, es gibt sie bei weitem nicht nur im World Wide Web. Auch im analogen Raum existieren sie. Oder anders gesagt, die Vielfältigkeit und damit auch die Andersartigkeit – zumindest das, was wir als das von uns Andere empfinden – ist uns nicht immer zugänglich. Suchen wir uns doch bewusst, wie unbewusst das aus, was zu uns passt. Ob Freunde, Hobbies, Jobs – gleich und gleich gesellt sich gern. Nur der öffentliche Raum, das, was gemeinhin als Gesellschaft bezeichnet wird, lässt uns erahnen, dass es da noch etwas Anderes gibt. Diese Öffentlichkeit scheint nun mit den Öffnungen von Cafes, Restaurants und Theatern zurückzukehren. In ihrem Essay erzählt die Gastautorin Katharina Walser von ihren Eindrücken seit der Wiedereröffnung vieler Orte, die in Zeiten der Pandemie ihre Türen schließen mussten und wieso sich die Rückkehr, trotz Irritation und Verunsicherung, lohnt.

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr [Fördermitglieder] (https://steadyhq.com/de/sinneswandel) werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via [PayPal] (https://paypal.me/Sinneswandelpodcast) oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Mit Ihrer Kampagne unter dem Motto „Veränderung beginnt bei uns“ will das Unternehmen für die Vermeidung von Retouren sensibilisieren – weil es nicht egal ist, wie und wo wir bestellen. Mehr Infos erhaltet ihr hier.

► Ilona Hartmann: “Ein ganz normaler Frühling, nur anders” ZEIT Magazin, 06.2021.
► Ewald Palmetshofer:“Vom Fehlen der Anderen Orte” Residenztheater München, 03.2021.
► Michel Foucault: “Die Heterotopien”. Suhrkamp.
► Carolin Emcke: “Journal”. Suhrkamp.
► Carolin Emcke: “Streitraum“.
►Kammerspiele München: What is the City?.

Kontakt:
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Transkript: Irritation – wieso brauchen wir Dissens?

Es ist eigentlich egal, welche der sozialen Plattformen, auf denen ich angemeldet bin, ich öffne: ob Twitter, Instagram oder LinkedIn, sobald ich mich einlogge, entsteht bei mir der Eindruck, alle wollen sie die Zukunft retten. Mein Feed suggeriert mir, die Welt bestehe nur aus Idealisten und Utopisten. Aus grünen Wähler*innen, Gutmenschen und Aktivist*innen. Scrolle ich mich durch diesen “Social Feed” – im wahrsten Sinne des Wortes – ist die Welt für einen kurzen Moment wieder heil. Keine Bruchstelle. Kein Dissenz. Kein Gegenargument. Die hat der Algorithmus bereits fein säuberlich aussortiert, um mein bereits labiles Nervenkostüm nicht unnötig überzustrapazieren. Natürlich hält der Schein aber nicht lange Stand, sobald ich etwas tiefer grabe, oder vielmehr scrolle. Dann entdecke ich sie natürlich, die Anderen, die gefühlt nicht ins Bild passen, in diese vermeintlich heile Welt. An guten Tagen, halte ich dem Stand, dem Anderen, verkrieche mich nicht in meine Bubble, die mir die Konfrontation erspart und mich wohlig weich bettet.

Doch diese Social Bubbles, von denen so oft die Rede ist, es gibt sie bei weitem nicht nur im World Wide Web. Auch im analogen Raum existieren sie. Oder anders gesagt, die Vielfältigkeit und damit auch die Andersartigkeit – zumindest das, was wir als das von uns Andere empfinden – ist uns nicht immer zugänglich. Suchen wir uns doch bewusst, wie unbewusst das aus, was zu uns passt. Ob Freunde, Hobbies, Jobs – gleich und gleich gesellt sich gern. Nur der öffentliche Raum, das, was gemeinhin als Gesellschaft bezeichnet wird, lässt uns erahnen, dass es da noch etwas Anderes gibt. Eine Welt außerhalb unserer Bubble. Wie die Kunst, mit ihren manchmal verstörenden und anstößigen Motiven uns vor Augen führt, dass unser Blick auf die Welt nicht der Alleinige und einzig Wahre ist. 

Diese Art der Erfahrung macht auch gerade Katharina Walser. In ihrem Gastessay beschreibt sie ihre Eindrücke seit der Wiedereröffnung vieler Orte, die in Zeiten der Pandemie ihre Türen schließen mussten. Natürlich ist die Freude zunächst groß, dass der Espresso wieder draußen im Café genossen werden, das Theater wieder besucht und in Restaurants wieder geschlemmt werden kann. Aber zu diesem Hochgefühl anlässlich diesen neuen alten Genusses, gesellt sich ein Weiteres: die Irritation. Nicht mehr in der Bubble der heimischen vier Wände zurückgezogen, sind wir nun konfrontiert mit dem Anderen. Das mag die ein oder andere von uns durchaus überfordern. Dass der Schritt der Öffnung, das Begehen dieser neuen alten Räume jedoch lohnenswert ist – selbst, wenn unser Bauchgefühl uns rät, lieber den Rückzug anzutreten – davon erzählt Literaturwissenschaftlerin Katharina Walser in ihrem Gastessay.

Mein Alltag ist im Moment, wie bei so vielen, geprägt von ersten Malen. Nicht ersten Malen nach der Pandemie, aber eben ersten Malen seit der Pandemie. Arbeiten im Lieblingscafé, Treffen auf ein Bier im Park, ein Theaterbesuch, sogar auf einer Hochzeitsfeier war ich vor kurzem. Man kommt so langsam zurück in den öffentlichen Raum. Aber ganz so einfach funktioniert die Umstellung auf das “alte Normal” irgendwie doch nicht. 

So ist deutlich spürbar, dass wir das alles nicht nur einfach geträumt haben. Zwischen Plastik-Trennwänden zu anderen Gästen eines Lokals, oder während wir mal wieder versuchen mit dem letzten bisschen Datenvolumen in die Luca App einzuloggen, ist es sehr klar: die Pandemie ist nicht vorbei und nur weil wir wieder tun was wir kennen, sind wir trotzdem noch weit entfernt von einem unbeschwerten Zusammenkommen mit Anderen. Im Café sitzend versuche ich das alles kurz zu vergessen, den Moment zu genießen, endlich einmal etwas anderes tun zu können als die vergangenen Monate. Ich sehe mir die vorüberschlendernden Menschen an, genieße die Anonymität der Öffentlichkeit, genieße es zu lesen, während andere um mich herum lachen oder in ihre Laptops vertieft sind. Dann kommt der Kellner mit der Rechnung, die Realität bricht herein und zeigt mir wieder, dass ich so einiges erst wieder lernen muss – zum Beispiel schnell zu reagieren. Als ich versuche auszurechnen, wie viel Trinkgeld zu der Rechnung hinzu kommt, scheinen ganze Minuten zu vergehen. “Sorry, irgendwie brauche ich kurz”, sage ich und ich meine ein Schmunzeln unter seiner Maske erkennen zu können. Vielleicht bin ich nicht die erste, die das heute in leichter Überforderung zu ihm sagt, denke ich. 

Irgendwie liegt eine Wolke aus Irritation in der Luft, wenn wir zurückkommen an die Begegnungsorte – ob Lieblingscafe, Bibliothek, Stammlokal oder Fitnessstudio. Es macht auch sehr viel Sinn, dass uns das nicht leicht fallen will. Denn wir imitieren das Leben vor der Pandemie, indem wir wieder machen, was vorher üblich war, obwohl wir wissen, dass es nicht vorbei ist. Das heißt es liegt ohnehin schon eine Sorge über uns, dass es für all das zu früh sein könnte. Zusätzlich müssen wir nun Abläufe und Gesprächsmuster scheinbar wieder neu erlernen, die vor der Pandemie unhinterfragt zum täglichen Leben gehörten. Einige soziale Codes und Verhaltensweisen scheinen wir uns schlicht wieder antrainieren zu müssen, nachdem wir sie lange Zeit nicht brauchten. Vielleicht müssen wir unsere Rolle im öffentlichen Raum, wie von einem langen Winterschlaf, erst einmal langsam zum Leben erwecken. 

Die Autorin Ilona Hartmann berichtet seit Beginn der Pandemie für die ZEIT über “Pandemie Gefühle”. In ihrem letzten Beitrag schreibt sie auch über dieses Gefühl der Zerrissenheit und über die Herausforderung, sich wieder an das Außen anpassen zu müssen. Dazu gehört zum einen das Gefühl der eigenen Abstumpfung: “Vor einem Jahr hat man sein Handy noch ständig desinfiziert, jetzt reicht es wieder, es seitlich an der Hose abzuschmieren”. Hartmann schreibt auch über das Gefühl in die bekannten Räume zurückzukehren, und doch zu merken, dass es eben immer noch nicht so ist wie vor deren Schließung: “Der Frühling dieses Jahr fühlt sich an wie eine Party, auf die man sich ewig gefreut hat, aber dann ist die Bar überfüllt, die Musik zu leise, und ständig sagt jemand ‘Bitte da nicht anlehnen’“. Und sie schreibt über ein Phänomen, das in letzter Zeit ganze Gruppen von Comic-Künstler*innen und Twitter-User*innen zu dem Moment des derzeitigen Lebensgefühls erklärt haben. Nämlich die Schwierigkeit wieder öffentlich ins Gespräch zu kommen: “Hey Siri, was sind gute Small-Talk-Themen außer Impfstoffe?” Es scheint also nicht nur mir so zu gehen. Überforderung, Sehnsucht, ein wenig Sorge, alles mischt sich. Wie es scheint brauchen wir also überraschend mehr Anstrengung, um an einem öffentlichen Leben teilzunehmen, als wir vermutet hätten, nachdem wir uns zwei Jahre lang nach diesem Moment gesehnt haben.

Während wir Anfang des Jahres nur von der Öffentlichkeit träumen konnten, beschreibt der Dramatiker Ewald Palmetshofer in einem Beitrag zur Reihe “Tagebuch eines geschlossenen Theaters”, des Residenztheaters Münchens im März diese Sehnsucht. Sein Impuls-Vortrag trägt den Titel “Vom Fehlen der Anderen Räume” und zeigt, was alles an diesen Orten hängt, in die wir uns nun vorsichtig zurück tasten. Denn mit der Schließung öffentlicher Orte, fehlten auch die Räume für all das, was Gesellschaft und damit Kultur ausmacht: von Vergnügungsorten über Diskussions- und Bildungsstätten – also Orte des Miteinander-Seins. Orte, “an denen das geschehen kann, was nicht Teil des Notwendigen, der Bewältigung des Alltags, der täglichen Sorgen, der Ermüdung, der häuslichen Pflege oder Erziehung, der kräfteraubenden Aufrechterhaltung des gerade noch Möglichen ist.” Was fehlt das ist der Andere Raum. 

Was kann man sich vorstellen unter diesem Anderen Raum? Er ist nach Palmetshofer zunächst einmal überall dort, wo man nicht beschränkt ist auf die eigenen vier Wände – und das ist auch wichtig, nicht beschränkt ist auf die Rolle, die man dort spielt. Der Philosoph Michel Foucault zeigt in seinem Text “Die Heterotopien”, wie sich dieser Ort näher bestimmen lässt. Heterotopien, das sind aus dem griechischen abgeleitet, “die anderen Orte”. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen etwas anders funktioniert als im übrigen Raum. Es sind Orte, die eigenen Ordnungsprinzipien folgen und an denen eine Form der Andersartigkeit, der Differenz erkennbar wird. Das mag erst einmal kompliziert und abstrakt klingen. Anschaulicher werden diese Anderen Orte bei Foucault, sobald er Beispiele für solche Ordnungsgefüge nennt: Eine Heterotopie, das ist der Friedhof ebenso wie das Kino. In diesen Orten treffen und verdichten sich mindestens zwei Welten räumlich, wie zeitlich – Verschiedenes tritt miteinander in Beziehung: im Falle des Friedhofs ist es die Welt der Toten mit jener der Lebenden, im Kino ist es der lokale Publikums-Saal und die Leinwand als Fenster zur Welt. Diese Orte machen also das was für uns ungreifbar und auch schwierig vorstellbar ist, sichtbar und erfahrbar. Sie helfen uns eine Vorstellung davon zu entwickeln, was sonst sehr weit weg von unserer eigenen Lebensrealität geschieht. Deshalb, so Foucault, seien sie besonders wertvoll, da sie gesellschaftliche Normen und Codierungen verhandelbar machen. Denn wenn wir uns an diesen Heterotopien, dieser Anderen Orte, das Andere vorstellen können, dann wird es uns möglich, die eigene Lebensrealität zu diesem Anderen in Beziehung zu setzen. So können wir überhaupt erst das Eigene, als auch das Andere, kritisch hinterfragen. An diesen Anderen Orten entsteht gewissermaßen eine Kontrastfolie zu unserer subjektiven Wahrnehmung. 

Was heißt das für die speziellen Anderen Räumen, an die wir nun zurückkehren? Was bedeutet es für die öffentlichen Begegnungsräume? In der Irritation, die wir verspüren und die Hartmann so schön beschrieben hat, zeigt sich, dass der Außenraum “Reibestellen” erzeugt. Und das ist es auch, was ihn vom heimischen, dem bekannten Raum abhebt. Denn im Privaten, da ist jeder Winkel bekannt, wir kennen jedes Möbelstück genau, der Kaffee schmeckt immer gleich, und der Algorithmus der Entertainment und Informationsmedien liefert uns passend zu unseren bisherigen Interessen immer ähnlichere Inhalte, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten sollen. Das Private ist also gewissermaßen ein glatter Raum, an dem eben nichts, oder wenig Neues hinzu kommt. Nicht, dass es nicht auch gerade Zuhause soziale Reibepunkte gäbe, oder Potenzial zu Irritation – aber der Außenraum konfrontiert uns auf ganz andere Weise mit einer Zufälligkeit. Er hält unbekannte Wahrnehmungen bereit, die in der Isolation nicht zu uns durchdringen können. Er erzeugt Differenzen zu dem bekannten, glatten Raum. Und eben diese Differenzen tragen einen nicht zu unterschätzenden Wert in sich. Gerade angesichts der gemischten Gefühle, mit denen wir der Welt da draußen gerade begegnen, lohnt es sich noch einmal genauer hinzusehen, wo und weshalb dieser Raum so wichtig für uns ist. In Foucaults Gedanken klingt sie schon an, die immense Rolle, die der öffentliche Raum für gemeinschaftliches Leben bedeutet. Und zwar auch, aber eben nicht nur, wegen des freudvollen Beisammenseins. Sondern durch die Momente, die er stiftet, in denen etwas nicht passt. In denen wir mit der Nase auf etwas gestoßen werden, das der Algorithmus nicht vorgesehen hat, das uns überrascht, das außerhalb unserer Bubble liegt – eine neue Idee, etwas Anderes eben. Das Gewohnte und das Eigene bekommt im öffentlichen Raum Konkurrenz. Ein Zustand, in dem das Gewohnte überhaupt erst sichtbar wird. 

Die Autorin und Publizistin Carolin Emcke kommentierte die Gleichförmigkeit des Corona-Alltags und die Irritationsmomente im Außenraum, auf einer Lesung für ihr jüngst erschienenes Pandemie Tagebuch “Journal”. Im Gespräch mit der Journalistin Teresa Bücker zählt sie auf, was sie alles in der Zukunft nach Corona wieder machen will, wie es vermutlich die meisten in den vergangenen Monaten immer wieder getan haben. Während ich an dieser Lesung von meinem Schreibtisch aus über Zoom teilnehme, kann ich die meisten ihrer Wünsche gleich nachvollziehen: Sie spricht von einer großen Feier mit Freunden, von einer Lesung mit echtem Publikum, von ihrer Lieblingseisdiele. Aber ein Punkt überrascht mich: So erzählt Emcke, sie sehne sich sehr danach, einmal wieder in einer vierstündigen Theaterproduktion ausharren zu müssen, die sie sich nicht selbst ausgesucht habe und die ihr nicht gefällt – also quasi das absolute Konterprogramm zur algorithmischen Unterhaltungskultur auf Knopfdruck. Steckt also vielleicht doch mehr in all den kleinen Situationen, die uns jetzt wieder störend auffallen?  Wie die sich stetig räuspernde Frau im Zugabteil, der Kollege, der beim Tippen leise summt? Mir wird klarer, was so ein Ereignis, wie eine langweilige Inszenierung, bedeuten kann, als Emcke betont, dass in so einer Produktion, die einen so gar nicht abholen will, sehr viel mehr passieren könne als Langeweile. Denn diese Zufälligkeiten und die öffentlichen Räume können uns helfen uns zu üben. Uns darin zu üben, das nicht selbst Ausgesuchte auszuhalten. Das manchmal unpassende Außen zu akzeptieren, was auch bedeutet, Kompromisse mit unserer Umwelt einzugehen. 

Eine typische Szene für diesen aufreibenden Außenraum ist vielleicht Folgende: ich sitze wieder einen ganzen Abend am Nebentisch einer unbekannten Gruppe, kann nicht richtig weghören, ihre Gespräche sind zu laut, die Stimmen zu dominant. Immer wieder werde ich dadurch von den Worten meiner Begleitung abgelenkt, lausche worüber nebenan gesprochen wird. Vor allem deshalb, weil ich mit dem Gesagten am Nebentisch so absolut gar nicht einverstanden bin. Die Dame erzählt ihrer Begleitung laut, weshalb die Jugend so schrecklich unpolitisch sei. Ich will aufspringen, mich einmischen, eine Diskussion führen. Ich merke, dass etwas in mir passiert, nur dadurch, dass ich konfrontiert bin mit den Gedanken einer Person, die sich mit meinen eigenen Vorstellungen nicht decken. Ich forme Argumente in meinem Kopf, frage mich welche Erlebnisse sie wohl zu ihrer Annahme gebracht haben. So entstehen in der Reibung durch den Außenraum Gedanken, Zweifel, Vergleiche und ein Gefühl für die Ideen und Werte der Anderen. Darüber hinaus, erfahren wir in einer solchen, oder eigentlich jeder anderen öffentlichen Situation, nicht nur das Andere, sondern auch uns selbst als Andere. Die eigenen Gedanken werden durch das Spiegelbild der Gesellschaft, in der Konfrontation mit dem Anderen, wieder hinterfragbar, denn man kann sie zu etwas anderem in Beziehung setzen.

Emckes ironische Anekdote über öde Inszenierungen hat, glaube ich, sehr viel mit diesem Abend zu tun. Denn sie zeigen beide wie politisch diese öffentlichen Räume sind, in die wir nun langsam zurückkehren. Denn an ihnen wird durch das Aushalten von Anderem auch Akzeptanz für Pluralität geübt, da sie das Verschiedene zusammenführen. Diese Orte, die nun ihr Wiedereröffnen feiern, sind also weit mehr als Vergnügungsorte. Es sind, mit Palmetshofers Worten, “Orte des ungezwungenen Gesprächs, der Zwischentöne, des Witzes, die Orte der Debatte und der gemeinsamen inhaltlichen Durchdringung, der Lehre und Bildung (ob Kaffeehaus, Hörsaal, Volkshochschule oder Foyer) und die Orte der Betrachtung künstlerischer Hervorbringungen (im Theater, Museum, Kabarett, in der Oper, der Konzerthalle)”. Diese Orte der Zwischentöne, produzieren sowohl Vielfalt als auch Kompromiss, mit uns und unseren Mitmenschen – und das ist etwas, das direkt mit dem Erhalt demokratischer Prinzipien zu tun hat. 

Wenn wir nun also zurückkehren an diese Orte, halte ich es für umso wichtiger, dass wir uns diese Funktion in Erinnerung rufen und nicht vergessen, wie fahrlässig sie hinter den Labels des Vergnügens, als nicht systemrelevant abgetan wurden. Diese Orte, die geschlossen blieben, während der Erhalt von Großraumbüros nicht einmal zur Debatte stand. Und, dass wir uns weiterhin, natürlich unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen, den Anstrengungen des Außenraums stellen. Uns nicht wieder zurückziehen hinter private Mauern, wo es uns unter Umständen leichter auszuhalten scheint. Ein wichtiger Teil davon wird sein, Projekte und Formate zu verfolgen und zu unterstützen, die sich dem Erhalt des öffentlichen Raums widmen, genauso wie dem Erhalt pluraler Begegnungsformen. Wie geht das in diesem Zwischenzustand, in dem wir nun mit einem Bein in der Pandemie stehen und uns mit dem anderen zurück in die Welt wagen? 

Ein Format, dass diese Fragen diskutiert, ist zum Beispiel Carolin Emckes “Streitraum” an der Berliner Schaubühne, der sich die Stärkung von Debattenkultur zu Aufgabe macht. Im “Streitraum” diskutiert Emcke mit Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Kunstschaffenden unter dem Titel “Die andere Schock-Therapie – welche Gesellschaft wollen wir »nach« COVID-19 sein?”. Es geht unter anderem darum, wie es sich verhindern lässt, dass die aus der Pandemie gewonnen gesellschaftlichen Lehren, wie die nach der Relevanz des öffentlichen Raums, nicht sofort wieder in Vergessenheit geraten, sobald die Krise »vorbei« ist, und welche politischen und sozialen Utopien es braucht, um eine “andere Normalität” möglich zu machen. 

Aber zusätzlich zu diesen Formaten, an denen wir eben immer noch nur digital teilnehmen können, lohnt es sich auch einen Blick auf Projekte zu werfen, die in der Pandemie mit dem Raum erfinderisch umgegangen sind. Die Begegnungs- und Gesellschaftsräume neu denken wollen und dabei konkrete kulturpolitische Fragen in den Blick nehmen: In welchen Räumen, unter welchen Umständen können wir uns treffen, ohne uns und andere einem Risiko auszusetzen? Wie kann Kultur stattfinden, ohne lediglich die bekannte Form in den digitalen Raum zu verlegen? Wie können wir Begegnung möglich machen, auch in Zeiten, in denen physischer Kontakt erschwert ist? Wo können wir politisch in den Austausch kommen, wie Öffentlichkeit wieder gestalten? Diesen Fragen geht zum Beispiel ein Projekt der Münchner Kammerspiele nach, das in Form einer Stadtraum-Performance mit dem Titel “What is the City?”, die Fragen von mögliche Begegnungsorte auf die Open Air-Bühne holt: Auf einem 60 Meter langen Laufsteg auf dem Königsplatz, werden 150 Münchner*innen inszeniert: Ex-Operndiven, Manager*innen, Arbeitssuchende, Braumeister*innen, Dragqueens, Eisbachsurfer*innen, Obststand Betreiber*innen, während online Texte gesammelt werden, die sich mit den drängenden Fragen des Stadtraums in der Pandemie beschäftigen.

Mein Wunsch ist also, dass wir zuhören und zusehen, was solche Veranstaltungen leisten und überlegen, wie wir diesen wiedergewonnenen Raum gemeinsam und verantwortlich nutzen können. Zu Beginn der Pandemie hingen in meinem Wohnviertel in überall Zettel, auf denen Nachbar*innen ihre Hilfe anboten: “Brauchen Sie Hilfe beim Einkaufen?” Vielleicht frage ich jetzt vor einer Verabredung: “Wollen wir ein bisschen Gesellschaft üben?” Denn wie Palmetshofer formuliert: “Das Politische findet nicht bloß in den Räumen demokratischer Institutionen statt, sondern – unverzichtbar – auch ganz konkret in den Begegnungszonen”, also an den Anderen Orten, die in Zukunft von der Politik indiskutabel mitgedacht werden müssen. 


Vielen Dank fürs Zuhören. Wie ihr wisst, ist es unser Bestreben, möglichst unabhängig und werbefrei produzieren zu können. Das müssen wir uns allerdings auch leisten können. Daher, wenn ihr Sinneswandel gerne hört, freuen wir uns, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle Infos zur Episode, Quellen und weiterführendes Material findet ihr, wie immer in den Shownotes. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast!

13. Juli 2021

Zukunft, (un)denkbar?

von Henrietta Clasen 22. Juni 2021

Die alte Zukunft hat keine Zukunft. Und doch scheinen wir sie uns nicht einmal vorstellen zu können – eine bessere Zukunft. Wir lobpreisen die Gegenwart, die Achtsamkeit des Augenblicks – doch wären wir uns wirklich selbst so bewusst, wie wir vorgeben zu sein, müssten wir dann nicht erkennen, dass die Gegenwart nicht zukunftsfähig ist?! Wie kann es sein, dass bis heute, trotz des exponentiellen Anstiegs an Informationen, aus all den Fakten keine Praxis entsprungen ist? Und doch kopieren wir immer wieder das, was wir bereits kennen – aus Angst vor der Zukunft?

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Danke auch an Jonte Mutert, der unseren neuen Jingle produziert hat. Sowie an Hannes Wienert, der uns seine Stimme für die Zitate von Roger Willemsen lieh.

► Roger Willemsen: “Wer wir waren” (2016).
► Springer: “The development of episodic future thinking in middle childhood”(2018).
► PNAS: “Reducing future fears by suppressing the brain mechanisms underlying episodic simulation”(2016).
► Frankfurter Rundschau: “Historisches Urteil zur Klimaklage: Jetzt müssen die Emissionen so schnell wie möglich runter”, (05/2021).
► Dietmar Dath: “Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine”, Matthes & Seitz. Berlin (2019).
► Ernst Bloch: “Geist der Utopie”, Suhrkamp (1918).

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: Zukunft, (un)denkbar? – Können wir uns ein besseres Morgen vorstellen?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Es ist Zeit für einen Wandel! Das haben wir uns auch in der Podcast Redaktion gedacht, und daher vor einigen Wochen einen Aufruf gestartet, in dem wir euch gebeten haben, uns eure Vorschläge für einen neuen Sinneswandel Jingle zu schicken. Vielen Dank an alle, die das getan haben. Wir sind wirklich überwältigt von der Vielfalt an Ergebnissen und davon, wie viel Zeit und Mühe ihr in die Produktion gesteckt habt. Die Auswahl ist uns alles andere als leicht gefallen – aber, wie ihr vermutlich schon gehört habt, ist sie gefallen. Der neue Jingle kommt von Jonte Mutert, der noch in diesem Jahr sein Studium der Filmmusik in Babelsberg aufnehmen wird. Wir hoffen, euch gefällt der neue Sound ebenso gut, wie uns. Schickt uns gern euer Feedback an redaktion@sinneswandel.art.

Um Wandel soll es auch in der heutigen Episode gehen. Oder vielmehr darum, welches Denken die Realisation von Wandel voraussetzt. Bevor wir beginnen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass wir uns freuen, wenn ihr unsere Arbeit finanziell unterstützt. Bereits 200 Fördermitglieder zählen wir auf Steady – was großartig ist und wofür wir sehr dankbar sind – damit wir aber weiterhin und vor allem langfristig möglichst unabhängig produzieren können, seid ihr gefragt! Unterstützen könnt ihr uns, wie gesagt ganz einfach mit einer Mitgliedschaft über Steady oder auch, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/SinneswandelPodcast schickt – das geht auch schon ab 1€ und steht alles noch mal in den Shownotes. Das war’s, ich wünsche euch viel Freude beim Zuhören!

“Mag die Welt auch vor die Hunde gehen, die Zukunft hat dennoch ein blendendes Image”, schreibt Publizist Roger Willemsen in “Wer wir waren”, der letzten Rede vor seinem viel zu frühen Tod im Februar 2016. “Selbst verkitscht zu Wahlkampf-Parolen, verkauft sie sich so gut, als wäre sie wirklich noch ein Versprechen”. So warb Armin Laschet in seiner Rede für das CDU-Programm zur Bundestagswahl mit einem „Jahrzehnt der Modernisierung“ und die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, sprach auf dem Grünen-Parteitag davon, dass eine Ära zu Ende gehe und wir nun die Chance hätten, eine neue zu begründen. Jetzt sei der Moment, unser Land zu erneuern, so Baerbock. Doch längst nicht nur die Politik hat die Zukunft für sich entdeckt. So warb die niederländische Versandapotheke Doc Morris 2018 mit “Gestalten wir die Zukunft, bevor sie da ist“, einem Slogan, der ebenso gut von einer Partei hätte kommen können. Zukunft ist längst nichts mehr, das einfach passiert. Nicht umsonst zerbrechen sich Zukunftsforscher*innen an renommierten Instituten die Köpfe darüber, in welcher Welt wir einmal leben werden. Das Morgen wird schon heute vorausgedacht. 

Man könnte also den Eindruck gewinnen, die Zukunft stehe vor der Tür. Dabei könnten wir kaum weiter von ihr entfernt sein. Vielmehr stehen wir vor dem Abgrund einer ganz und gar ungewissen Zukunft, was wir nur zu verdrängen scheinen. “Die Zukunft, das ist unser röhrender Hirsch über dem Sofa, ein Kitsch, vollgesogen mit rührender Sehnsucht und Schwindel. Die Zukunft der Plakate existiert losgelöst von den Prognosen unseres Niedergangs und hat in der Kraft ihrer Ignoranz keinen Bewegungsspielraum, sie verharrt hingegen. Was nicht neu ist, das ist die Zukunft”, so Willemsens These. Dabei wissen wir doch eigentlich schon lange, dass es nicht mehr weitergehen kann wie bisher. Und doch kopieren wir immer wieder das, was wir bereits kennen, und pflegen eine nostalgische Beziehung zur Vergangenheit – aus Angst vor der Zukunft? “Where is the wisdom we lost in knowledge?”, fragt T.S. Eliot bereits 1934 in seinem Theaterstück “The Rock”. Wie kann es sein, dass bis heute, trotz des exponentiellen Anstiegs an Informationen, aus all den Fakten keine Praxis entsprungen ist? Ist es das schlechte Gewissen gegenüber künftigen Generationen, was uns schließlich handeln lässt? Oder bedarf es erst der Justiz, die uns ermahnt, die Zukunft mitzudenken? Es bleibt noch abzuwarten, ob auf das erst kürzlich im April getroffene Urteil des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge das Klimaschutzgesetz in Teilen verfassungswidrig sei, sprich nicht mit den Grundrechten vereinbar, die gewünschte Umsetzung folgen wird. Als “Zeitenwende. Bahnbrechend. Und wirklich historisch”, bezeichnete Energieökonomin Claudia Kemfert das Urteil.  Denn zum ersten Mal wird auf oberster Ebene Generationengerechtigkeit in puncto Klima juristisch mitgedacht. Worauf sich Karlsruhe dabei beruft, ist das sogenannte Vorsorgeprinzip des Staates laut Grundgesetz Artikel 20a, demzufolge die Regierung verpflichtet ist künftige Generationen vor dem Klimawandel zu schützen und Kosten nicht unnötig auf unsere Enkelkinder schieben darf. Das Urteil konsequent zu Ende gedacht bedeutet: Rasches Handeln ist erforderlich. Nichtstun oder einfach so weitermachen wie bisher, ist deutlich teurer als endlich zu Handeln. Die wahre Schuldenbremse, so Kemfert, sei der Klimaschutz. Was jetzt passieren muss, sei eine 180 Grad Wende: Raus aus dem fossilen Zeitalter und grünes Licht für die erneuerbaren Energien! Wachstum allein, ist längst kein Indikator mehr für Wohlstand und Zufriedenheit – war es vermutlich nie. Was nun zählt, ist Wachstum enkeltauglich zu gestalten. Wachstum, um des Wachstums Willen, das ist ein Relikt der Vergangenheit!

Die alte Zukunft hat keine Zukunft. Und doch scheinen wir sie uns nicht einmal vorstellen zu können, eine bessere Zukunft. Wir lobpreisen die Gegenwart, die Achtsamkeit des Augenblicks – doch wären wir uns wirklich selbst so bewusst, wie wir vorgeben zu sein, müssten wir dann nicht erkennen, dass die Gegenwart nicht zukunftsfähig ist?! “Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, […] randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. […] Wir waren die, die verschwanden. […] So bewegten wir uns in die Zukunft des Futurums II: Ich werde gewesen sein.” So lautet zumindest Roger Willemsens wenig hoffnungsvolle Vision.  

Dabei ist die Zukunft im Kopf durchzuspielen eine zentrale menschliche Fähigkeit, die unser alltägliches Handeln bestimmt. Selbst kleinste Entscheidungen treffen wir, indem wir im Geiste simulieren, was passieren könnte. Etwa wenn wir morgens beim Bäcker an der Theke stehen und  uns fragen, ob wir lieber das Schoko-Croissant oder doch das belegte Dinkelbrötchen wählen sollten. “Zukunftsdenken hilft uns, Ziele zu setzen und zu planen, und gibt uns die Motivation, unsere Pläne auch umzusetzen”, sagt Roland Benoit, Kognitions- und Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut in Leipzig. Forscher*innen gehen davon aus, dass wir bereits im Alter von drei bis fünf Jahren beginnen, über den gegenwärtigen Moment hinaus, in die Zukunft zu denken. Eine besondere Rolle dabei spielt ein Netzwerk, das aus dem Hippocampus und Teilen der Großhirnrinde besteht. Es überlappt sich mit dem sogenannten “Default Mode Network”, also dem Ruhezustandsnetzwerk, das immer dann aktiv wird, wenn wir gerade nichts zu tun haben. Was, wenn wir ehrlich sind, angesichts all der Ablenkungen und Reize unserer vernetzen und schnelllebigen Welt, nur noch allzu selten vorkommt. Im Zeitalter der Zerstreuung seien wir, so Willemsen, nie ganz in der Gegenwart. Auch die Zukunft sei uns damit abhanden gekommen, nur noch rein gegenständlich vorstellbar und reduziert auf Technikutopien, die uns Menschen mehr entmündigten, als befreiten. “Verstand sich der Mensch Anfang des 20. Jahrhunderts eher als Subjekt der Moderne, erkennt er sich hundert Jahre später eher als ihr Objekt. Wie aber soll er, von der Zeit vorangeschoben, unter diesen Bedingungen die Zukunft denken können?” 

Sind wir also, angetrieben durch Effizienzstreben und Wachstumsdrang, defacto zu bequem geworden, uns eine andere Welt, als die bereits Existierende, vorzustellen? Ist dies der Grund, weshalb wir uns schon mit kleinsten Updates zufriedengeben, uns gar euphorisch in die Warteschlange einreihen, wenn die x-te Version des “neuen” iPhones auf dem Markt erscheint? Dabei sollte die Postmoderne doch eigentlich die Moderne ablösen, indem sie ihr zu mehr Vielfalt und Kritik verhilft. “Mehr Demokratie wagen.” Weg von Funktionalität, hin zum kreativen Chaos. Stattdessen scheinen wir gefangen in einer Welt des Machbaren, anstelle des Wünschbaren. Hitzig wird über die Erhöhung von Benzinpreisen diskutiert, die Arm und Reich, so heißt es, weiter werden spalten. Die Zukunft muss mehrheitsfähig sein, um Zukunft zu haben. 

Vielleicht ist es aber auch ein menschlicher “Gen-Deffekt”, ganz einfach Teil unserer menschlichen Natur, dass wir uns die Zukunft nicht vorstellen, sie nicht anders  denken können? Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte, so könnte dieser Eindruck durchaus verstärkt werden:  “Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze auf das Pferd”, verkündete Kaiser Wilhelm II. 1904 stolz. Auch Wilbur Wright, ein Pionier der Luftfahrt, sollte sich irren, als er 1901 sprach: “Der Mensch wird es in den nächsten 50 Jahren nicht schaffen, sich mit einem Metallflugzeug in die Luft zu erheben”. Ebenso, wie im Jahre 1926 Lee De Forest, der Erfinder des Radios: “Auf das Fernsehen sollten wir keine Träume vergeuden, weil es sich einfach nicht finanzieren lässt.” Und auch Thomas Watson, CEO von IBM, konnte sich 1943 scheinbar noch nicht die Welt von heute vorstellen: “Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt. Es gibt keinen Grund, warum jeder einen Computer zu Hause haben sollte.” Die Liste menschlicher Irrungen ließe sich beliebig weiterführen, und es scheint beinahe, als sei der Mensch dort am altmodischsten, wo er versucht, sich selbst zu überschreiten.  Offenbar können wir uns selbst nicht entkommen.

Im Jahr 2016 fanden Neurowissenschaftler*innen des Leipziger Max-Planck-Instituts, gemeinsam mit britischen Kollegen, allerdings heraus, dass es manchmal sogar ratsam sein kann, Zukunftsgedanken zu unterdrücken. Eine Überlebensstrategie gewissermaßen. Die Forscher*innen ließen Probanden zukünftige Szenarien auflisten, die ihnen Sorgen bereiteten. Wer sich diese anschließend im Geiste vorstellen sollte, reagierte deutlich ängstlicher als Teilnehmende, die Gedanken an die negativen Ereignisse bewusst vermieden. Es macht demnach für unsere emotionale und kognitive Grundhaltung, wie auch für unsere Entscheidungen und Handlungspläne, einen großen Unterschied, ob wir mit negativen Vorahnungen in die Zukunft blicken, oder Positiv-Szenarien im Kopf entwerfen. Damit Letztere jedoch nicht in der  “Utopien-Schublade” verstauben, benötigt unser Gehirn ein „Wie“ und ein „Warum“. Die Verortung der eigenen Rolle in der mentalen Simulation, lässt die Zukunft für uns zu einem Möglichkeitsraum werden, in dem wir selbst eine gestalterische Rolle einnehmen. Fühlen wir uns handlungsfähig, lässt der Eindruck nach, von den Ereignissen überrollt zu werden. Ohne aktive kognitive Beteiligung und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, schauen wir hingegen nur passiv vom Zuschauerrand zu. Es ist die emotionale Färbung, die unseren Ausblick auf die Zukunft, aber auch unser Erleben in der Gegenwart bestimmt. Und wie wir wissen, geschieht die Weichenstellung für die Zukunft im Hier und Jetzt.

Science-Fiction ist eigentlich das beste Beispiel dafür, dass es funktioniert. Dass wir Menschen in der Lage sind, uns das schier Unmögliche vorzustellen. Weshalb, das hat Schriftsteller Dietmar Dath in seinem Buch “Niegeschichte” sehr treffend formuliert: „Es gibt nicht nur Dinge, die zwar denkbar sind, aber nicht wirklich, sondern umgekehrt auch solche, die wirklich sind, aber für Menschen schwer bis überhaupt nicht denkbar.“ Science-Fiction zeigt: Was undenkbar ist, muss noch lange nicht unmöglich sein. Das klingt abstrakt, aber abstrakt ist schließlich auch unser Verhältnis zur Welt, in der wir leben. Wer hätte sich vor kurzem schon vorstellen können, dass ein klitzekleines, kronenförmiges Virus das gesamte soziale Leben einmal lahmlegen würde? 

“Nur Zeiten, die viel zu wünschen übrig lassen, sind auch stark im Visionären”, schreibt Roger Willemsen. Hat die Corona-Pandemie, als Zeit der Entbehrung, also vielleicht ein Fenster geöffnet, einen Raum für das Visionäre geschaffen – gar für einen Neuanfang? So oder so, ist jetzt die richtige Zeit, oder vielmehr die letzte Chance, die wir noch haben, um das Neu- und Andersdenken von Zukunft wieder zu erlernen. Wenn es nach dem Schriftsteller Ernst Bloch geht, so sind es Bilder und Fantasien, die den Gedanken vorausgehen, und die Gedanken wiederum den Forderungen und der politischen Praxis. Indem wir uns das Morgen ausmalen, erkennen wir, wo es in der Gegenwart hakt. Die Utopie ist das Hinausgehen über die faktische Welt und auch, wenn sie reine Projektion bleibt, hat allein der Diskurs, der durch das Imaginieren entsteht, die Welt und wie wir sie wahrnehmen, bereits verändert. Denn im offenen Dialog und in immer neuen Selbst-und Weltbeschreibungen werden Vorstellungen vom gelungenen Leben zur Diskussion gestellt. Und dort, wo Entwürfe wünschenswerter Zukünfte entwickelt werden, beginnt auch ihre Realisation. Oder mit Roger Willemsens Worten: “Ja, die Zukunft wird schneller sein, und sie hat längst begonnen.”

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22. Juni 2021

Kann Kunst Gesellschaft verändern? Ja, sagt Beuys!

von Ricarda Manth 23. Februar 2021

Die Gesellschaft als “Soziale Plastik”. Ein Begriff, den der Künstler Joseph Beuys verwendete, um den Aspekt der Gestaltung und das Partizipative hervorzuheben, was er u.a. durch ein Zuviel an Bürokratie bedroht sah. Daher rief er mit seiner Kunst, wie auch mit seinem politischen und gesellschaftskritischen Engagement dazu auf, selbst aktiv zu werden, das eigene kreative Potenzial zu nutzen – im Sinne eines “erweiterten Kunstbegriffs”. In dieser zweiten Episode, anlässlich Beuys 100. Geburtstag, habe ich mit dem Autor und Verleger Rainer Rappmann gesprochen, der den Künstler persönlich kannte.

SHOWNOTES:

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► beuys2021: Programm und Infos.
► Fiu-Verlag.
► Verein Soziale Skulptur.
► Museum Ulm: “Ein Woodstock der Ideen – Joseph Beuys, Achberg und der deutsche Süden”.

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23. Februar 2021

Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

von Ricarda Manth 18. Februar 2021

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. In ihrem Essay plädiert Gastautorin Katharina Walser für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen.

SHOWNOTES:

Diese Episode wurde gesponsort durch Naturata, welche biologisch erzeugte und fair gehandelte Lebensmittel vertreiben. Auf naturata-shop.de erhaltet ihr bis zum 15.03.2021 mit dem Code „mehralsbio“ 20% Nachlass auf euren Einkauf, ab einem Bestellwert von 40€.

► „Aufschwung des utopischen Denkens“ Sighard Neckel, Deutschlandfunk.
► „Narrative für eine Nachhaltige Entwicklung“ Sascha Meinert, bpb.
► Betty Sue Flowers: „The American Dream and the Economic Myth“.
► „Erzähl!“ Thomas Kniebe, Süddeutsche Zeitung.
► „Was das Modewort ‘Narrativ’ verrät“ Kolumne von Dorothee Krings, Rheinische Post.
► Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“.
► „Deutschland spricht“ Projekt der ZEIT.
► „Utopiastadt“ Wuppertal.

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Transkript: Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Der sogenannte “Trickle-Down-Effekt” bleibt aus. Die Armen werden ärmer. Die Reichen unerreichbar. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. Doch wo sind sie, die “neuen Narrative”? Nur selten ließt oder hört man von Geschichten des Gelingens, von Vorstellungen wünschenswerter Zukünfte, geschweige denn von Utopien. Stattdessen dominieren Untergangszenarien, Apokalypsen und Dystopien den Diskurs. Horrorzahlen verkaufen sich besser. Doch damit muss Schluss sein, argumentiert Gastautorin Katharina Walser. In ihrem Essay plädiert sie für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen. 

Am 28. November 2019 ruft  das EU-Parlament den Klimanotstand aus. Ein Beschluss den man heute, 2,5 Jahre später, vor allem als symbolischen Akt deuten kann, denn fundamentale und einheitliche Gesetzgebungen zum Schutze des Klimas lassen nach wie vor auf sich warten. Drei  Wochen nach dem Ausruf des Parlaments ist der Soziologe Sighard Neckel im Deutschlandfunk zu hören. Die Klimakrise beschreibt er  als apokalyptisches Szenario, das im Zentrum einer modernen Wirklichkeitserfahrung steht. Im Zentrum steht sie deshalb, da durch sie „die elementaren Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, jedenfalls wie wir es bisher gekannt haben, zur Disposition gestellt sind.“ Gerade diese Erfahrung, in der wir erkennen müssen, dass die Art unseres westlichen Lebens ein Ablaufdatum hat, hinterlässt ein umfassendes Gefühl der Verunsicherung – eine Verunsicherung, die wir vielleicht als die moderne Erfahrung schlechthin bezeichnen können.

Ja, es stimmt. Viele Prinzipien unserer Lebensverhältnisse stehen zur Disposition. Wie wir wirtschaften und uns vernetzen wird sich in einer ernst zunehmenden Klimapolitik verändern müssen. Allerdings sind dystopische Zugänge zur Zukunft, die den Fokus auf ein Versagen des Systems richten und ständig eine neue Apokalypse ausrufen, gerade deshalb so verheerend, weil sie nicht anschlussfähig sind. Die Rede von der Endzeit steht ihrem Zweck, nämlich neue und nachhaltige Handlungen hervorzubringen möglicherweise sogar gänzlich entgegen. Weil sie den Blick von Wegen in eine nachhaltige und wünschenswerte Zukunft ablenkt und im schlimmsten Fall Ängste verbreitet, die weiter zu einer Lähmung von Handlungsfähigkeit führen. 

Diese Ängste haben nämlich ganz real-politische Folgen und sind unter anderem, wie Neckel schreibt, auch Auslöser für eine “Sündenbock-Logik”, wie sie innerhalb von identitärer Politik seit Jahren zu beobachten ist. Statt Konzerne und politische Entscheidungsträger:innen in die Verantwortung zu ziehen, werden Vertreter:innen des Klimaschutzes dafür kritisiert, dass sie einem, die vermeintlich so unproblematische Normalität wegnehmen wollen. Ein solches Misstrauen gegenüber Maßnahmen zum Zweck des Klimaschutzes speist sich nach dem Politikwissenschaftler Sascha Meinert aus einer Zukunftsvision von Nachhaltigkeit in deren Zentrum vor allem eines steht: Mangel. Es fehlt an einer Vorstellung von klimagerechtem Handeln, das eine Zukunft des positiven Fortschritts darstellt und nicht im Zeichen des kollektiven Verzichts steht. Die bisherigen europäischen Klimaschutz-Maßnahmen, wie die Bemühungen um einen Green Deal, reichen Neckel zufolge längst nicht aus, um einer solchen Umcodierung einer nachhaltigen Zukunft beizukommen. Er merkt deshalb zurecht an, dass solchen Klimaschutz-Konzepten starke sozialpolitische Entwürfe fehlen und stattdessen ausschließlich auf Marktregulierungen und technologische Innovation gesetzt werde. Die notwendige Reaktion auf ein Zeitalter der Verunsicherung, wie wir es aktuell erleben und das allerhand soziale Spaltungen fördere, sieht er deshalb in einem „Aufschwung des utopischen Denkens“. Im Angesicht der vielfältigen Krisen unserer Gegenwart brauche es daher eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen! Man muss  anerkennen, so Meinert, dass wir es mit einer allumfassenden „Krise unserer narrativen Umwelt“ zu tun haben. Also mit einer Problemlage, der wir nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen begegnen können.

Ein neues, gemeinsames Narrativ durch das wir Krisen der Moderne überwinden können klingt verlockend, aber: Wie genau sieht sie denn aus, die moderne Krise und was soll eigentlich so ein “soziales Narrativ” sein?

Wer von vielfältigen Krisen der Gegenwart spricht, betrachtet diese Phänomene als voneinander unabhängige Konflikte. Eine solche Vorstellung geht davon aus, dass Klimakrise, die sogenannte Migrationskrise und die pandemische Krise, alle separate Ereignisse wären. Letztlich lassen sich diese Krisenherde jedoch gerade im Hinblick auf die Krise unserer Umwelt unter einem Phänomen subsumieren, das die Literaturprofessorin Betty Sue Flowers als „Mythos des Ökonomischen“ bezeichnet. Dieser Mythos unserer Lebenswelt funktioniert nach den Dogmen der monetären und dinglichen Maximierung, „wobei Mehr stets besser ist als Weniger“. Innerhalb dieses Systems, das nur nach den Prinzipien von „Vorteilsmaximierung und Aufwandsminimierung“ funktioniert, bedeutet gelungene, menschliche Identität vor allem eines: Expansion. Und da sich diese Erzählung des Wachstums insbesondere in international zugänglicher Sprache – nämlich in Zahlen ausbuchstabiert, von Umsatzzahlen bis Aktienkursen, wurde die ökonomische Sinnstiftung zum ersten globalen Narrativ. Dieser globale Mythos bröckelt nun, da zunehmend sichtbarer wird, dass er davon lebt „möglichst effizient auf vorhandene Bestände zuzugreifen, und wenn notwendig – und das ist es oft – von anderen zu nehmen oder von der Zukunft zu borgen, um die eigenen Ansprüche der Gegenwart zu bedienen“. Wenn wir also die Krisen der Gegenwart unter ein Problem, nennen wir es “Ursprungskrise”, zurückdenken wollen, so muss die Begründung unserer Krisenerfahrungen in der fehlerhaften Vorstellung von unbegrenztem Wachstum selbst liegen – in der Krise kapitalistischer Normen. 

Vor diesem Hintergrund plädiert Meinert für einen „Mythos der nachhaltigen Entwicklung“. Gelingen könne ein solches Vorhaben, indem man sich die narrativen Elemente unser Lebenswirklichkeit vor Augen führt und bewusst ein neues Narrativ von Zukunft schreibt. Eine neue Erzählung, in der sich nachhaltige Entwicklung nicht mehr durch ein „Zu Wenig“ oder durch einen „Verzicht“ auszeichnet, sondern mit wünschenswerten Lebensmodellen verknüpft wird und damit als Bereicherung empfunden werden kann. Es müsste gelingen eine solche Zukunft vorstellbar zu machen und Gestalt annehmen zu lassen, um den Weg der regressiven Wiederherstellung von einem veralteten Ideal von ungebremster wirtschaftlicher Expansion eine Alternative zur Seite zu stellen. Was wir also brauchen ist eine neue Rahmenerzählung, in der wir unser Handeln nach wünschenswerten Zukünften neu ausrichten können!

Was heißt es nun aber, ein neues Narrativ zu schaffen?

In den vergangenen Jahren hat der Begriff des “Narrativs” einen geradezu explosionsartigen modischen Aufschwung erfahren. Von politischer Imagepflege der EU bis zu Marketing Kampagnen für große Wirtschaftsunternehmen, alle sprachen sie davon “neue Narrative” schaffen zu wollen. Gerade bei einer solchen Überstrapazierung des Wortes, lohnt sich ein Schritt zurück und der Versuch einer Verhältnisbestimmung dessen, was ein Narrativ überhaupt ist. Ein Begriff, der noch vor einigen Jahren den meisten einfach als schicker, akademischer Ausdruck für Erzählung bekannt war. Tobias Kniebe versucht in der Süddeutschen Zeitung diesen Trend besser zu verstehen und sucht die Antwort in einer negativen Bestimmung des Begriffs. Er fragt erst einmal danach was denn eigentlich nicht narrativ funktioniere und kommt sowohl im Falle der bildenden Künste, als auch der Musik an seine Grenzen. Er stellt fest: “Wo immer Worte, Bilder oder Töne aufeinanderfolgen […] formen unsere inneren Narrationsmaschinen Erzählungen, Geschichten, Entwicklungen, Lebenslinien.“ Der Mensch ist also nicht umgeben von Narrativen, er bringt sie selbst hervor. Bereits die assoziativen Denkmuster unserer  Wahrnehmung betreiben tagtäglich narrative Prozesse. Neue Sinneseindrücke ordnen wir immer wieder aufs neue in unseren eigenen Wissenskanon ein und schreiben so eine Geschichte der Umwelt und unserer Position darin. Der Mensch erzeugt in seiner Suche nach Sinnzusammenhängen seine eigenen Erzählungen von der Welt. Ein Narrativ ist also eine Form der übergeordneten Metaerzählung. Es wird weniger erfunden, als vielmehr geschaffen. Im sozialpolitischen Kontext ist ein Narrativ dann eine große Rahmenerzählung, in der sich das Individuum in sein gesellschaftliches Umfeld einordnen kann. Eine Rahmenerzählung, die als gemeinsames sinnstiftendes Referenzsystem einer Gesellschaft funktioniert. 

Wieso also die Rufe nach Narrativen wenn wir sie doch selbst hervorbringen? Die Germanistin Dorothee Krings betont, dass Modewörter mehr sind als nur nachgemachte schöne Sprache. Ihr Auftreten verrate oft einen Sinneswandel, “der plötzlich Ausdruck findet”. Wenn sich also die öffentlichen Rufe um Narrative verstärken, so ließe das einen direkten Rückschluss auf eine Orientierungslosigkeit der Gesellschaft zu, auf einen Hunger nach Sinn. Eine solche Orientierungslosigkeit oder Verunsicherung, wie ich es zuvor genannt habe, lässt sich im Angesicht des verfallenen Narrativs von grenzenlosem Wachstum zweifelsohne diagnostizieren. 

Wie ist nun mit dem Plädoyer, diesem Aufruf zu neuen Zukunftsnarrativen, umzugehen? Was tun mit der Idee einer Metaerzählung, die sich nicht nur aktiv gegen das Narrativ des Verzichts stellt, sondern sich jenseits des Dogmas von grenzenlosem Wachstum positioniert?  

Ein Konzept, das vielleicht zum nachdenken anregen kann, stellt Bruno Latour in seinem Terrestrischem Manifest vor. Latour plädiert darin für ein neues Selbstverständnis des Menschen auf unserem Planeten, das sich auch in einer neuen Politik niederschlagen müsse. Die zentrale Empfindung, welche auch er der Gegenwart zuschreibt, ist die einer fehlenden „Bodenhaftung“. Ausgelöst sei sie durch die unheimliche Erfahrung, dass der Mensch konfrontiert wird mit einer Welt, in der die Folgen seines Fortschrittstrebens immer deutlicher zutage treten und schlussendlich seine ganze Existenz bedrohen. Das Ziel der Globalisierung zeige immer deutlicher seinen Preis und habe so die große Metaerzählung der vergangenen 50 Jahre erschüttert. Latour kategorisiert im Zuge dieser elementaren Erfahrung der Moderne alle relevanten Fragen der Zukunft als „geopolitische Fragen“ und argumentiert, dass die vermeintlich einzelnen Krisen der Gegenwart unter der Krise des Klimas einen gemeinsamen Nenner finden. So heißt es in seinem Manifest man verstünde nichts „von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind, kann man weder die Explosion der Ungleichheiten [verstehen], noch das Ausmaß der Deregulierungen, weder die Kritik an der Globalisierung noch, [und] vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats“.

Zwischen der Gewissheit, dass es nicht weitergehen kann, wie bisher und auch kein Rückzug in Vergangenes möglich ist, gerät der Mensch auf seinem Kurs ins Straucheln. In die Vorstellung linearen Fortschritts bricht so eine Bedrohung herein, die auf einen früh getroffenen Fehlschluss menschlicher Entwicklung zurückweist. Dieser Fehlschluss begründet sich für Latour in der Trennung von Kultur und Natur bzw. in einer grundsätzlichen Haltung des Menschen außerhalb der Natur zu stehen und unabhängig von Folgen in ihr operieren zu können. Unter dem Begriff des “Terrestrischen” versucht sich Latour also an einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Ökonomie, Mensch und Ökologie, in welcher die Erde selbst nicht nur als die Objekthafte, sondern als eigene Akteurin gedacht werden muss.

Eine solche problematische Grundhaltung, in der sich der Mensch als von der Welt unabhängig versteht, diskutieren auch einige Naturwissenschaftler:innen und Anthropolog:innen unter dem Begriff des “Anthropozäns”. Ihre These lautet, dass wir  Menschen so prägend in den Lauf der Natur eingegriffen haben, dass wir sogar von einem neuen Erdzeitalter sprechen müssen. Dieses Zeitalter der Anthropozäns, sei dasjenige, welches das Holozän ablöse – jene Jahre, während denen sich die Kultur der Menschen entfaltet hat ohne irreversible Schäden in seiner Umwelt zu hinterlassen!  

Anders jedoch als die Vertreter:innen des Anthropozäns, sieht Latour keine zureichenden Lösungsansätze in einer technischen Gegenbewegung zu den Problemen des Klimawandels, wie sie in den Bereichen des sogenannten “Geoingeneerings” erprobt werden. Es ginge nicht ohne eine radikale Überwindung der Denkmuster, in denen sich der Mensch als  von der Natur abgesondert wahrnimmt. Latour geht es dabei weniger um Innovationen oder schnelle Lösungen unseres Umwelt Problems, als vielmehr um eine Suchbewegung nach einer neuen Sinnhaftigkeit menschlichen Strebens, das sich nicht in der Überwindung einer Krise bestärkt sieht, sondern darin, sich auch über die Krise hinaus neu zu seiner Umwelt zu positionieren.  

Diese Suche nach neuer Sinnhaftigkeit müsste mit  einer neuen Rahmenerzählung menschlichen Strebens, einem Narrativ fern von dem bisherigen, hohlen Wachstumsdogma verbunden sein. Das bedeutet neue Ziele vorstellbarer und mögliche Umsetzungen greifbarer zu machen. Das umfassende Potenzial in einer solchen Neuerfindung des Menschen wird in Latours Argumentation in der Betrachtung deutlich, in welcher er die verschiedenen Krisen, die wir aktuell erfahren, als miteinander verwoben beschreibt. Man muss nicht unbedingt mitgehen, wenn er die pauschalisierende Aussage trifft, dass alle Probleme der Neuzeit von identitärer Politik, bis zu allen Formen von Fluchtbewegungen, ihren Ursprung in der Klimakrise finden. Wenig bestreitbar ist jedoch, dass die Klimakrise mit Besitz- und Verteilungsfragen der Zukunft unauflöslich verstrickt ist. Gerade wenn immer mehr Landstriche der Erde nicht bewirtschaftbar oder unbewohnbar werden.  In diesem unüberschaubaren Geflecht von Problemen müssen wir in Zukunft politisch und sozial am richtigen Faden ziehen, wenn wir auf eine Entwirrung und schließlich Auflösung der Krisen hoffen. Dieser Faden, so Latour, muss seinen Ursprung in der vorherrschenden Vorstellung von  Mensch und Natur finden. Gerade weil die Klimakrise Auslöser für die zentrale Verunsicherung unserer Zeit ist, ließen nachhaltige soziale Zukunftsentwürfe Lösungen für die verschiedensten Krisen der Moderne zu. Es gilt nach dem terrestrischen Manifest nicht eine feste Lösung für Erderwärmung, Migrationsprozesse und identitäre Politik zugleich zu finden, sondern sich auf die Suche nach einem festen Boden zu begeben. Und vor allem anzufangen, in Zukunftsvisionen Strukturen der Sicherheit zu schaffen. 

Strukturen, die sich, wenn sie auf nachhaltigen Erfolg setzen, zunächst in einem gedanklichen Widerstand formulieren müssen. In einem Widerstand, der die gängigen Narrative menschlichen Strebens überdenkt und neue Entwürfe greifbar macht.

Aber wie kann so ein Widerstand in Gedanken Formen annehmen, ein Widerstand, der sich in den Formen der menschlichen Selbstnarration begründet? Wie integrieren wir einen so abstrakten Anspruch  wie den von Latour in unsere Lebenswelt? Dafür müssten die Forderungen nach neuen Narrativen konkrete Gestalt annehmen. Also fragen wir nochmal: Wie schreibt man denn nun ein neues Narrativ?

Zunächst macht es Sinn den Status quo, in dem Verunsicherungen und Ängste verspürt werden kritisch zu hinterfragen. Also die Narrative, in die wir bisher eingeschrieben waren oder es noch sind, zur Diskussion zu stellen. Das kann aussehen wie in Texten, die Dogmen des Wachstums bewusst auf ihre Verbindungen zu unserem alltäglichen Leben hinterfragen, wie es unter anderen Eva Illouz zeigt, wenn sie sich in “Der Konsum der Romantik“ der Frage widmet, wie Paradigmen des Kapitalismus beeinflusst haben wie wir heute lieben. Solche Auseinandersetzungen können konkret fordern, die Verbundenheit von unserer Umwelt und unserem Leben sichtbar zu machen. In diesem Fall hebt die Autorin die Verbindungsstellen zwischen Ökonomischem und Privatem hervor. Aber es reicht nicht Texte zu lesen, die problematische Narrative aufdecken, um einen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu bringen. Um den Blick von veralteten Erzählungen hin zu neuen und wünschenswerten Zukünften zu richten, braucht es als zweiten Schritt der Orientierung, gemeinsame Gespräche. Denn wie der Politologe Meinert anmerkt:  Zukunft  „kann nie alleine geschrieben werden“, zumindest dann nicht, wenn sie eine transformative und transregionale Kraft entfalten soll. Das bedeutet auch, dass ein Dialog Format, das bewusst dazu anregen will Zukunft neu zu denken, über soziale Blasen hinaus funktionieren muss. Wie so etwas aussehen kann zeigt zum Beispiel das Deutschland spricht Projekt der Zeit, das seit Sommer 2017 regelmäßig stattfindet. Die Idee dahinter ist, Menschen mit möglichst diversen politischen Interessen und Ansichten zusammenzubringen und zum Dialog zu inspirieren. Die Durchführung dabei ist so simpel, wie überzeugend: Die Teilnehmer:innen beantworten online, ähnlich wie beim Wahlomat, ein paar Fragen zu tagesaktuellen Themen und werden dann einer Person vorgestellt, welche in ihrer Nähe wohnt, jedoch möglichst andere Ansichten vertritt. Mit solchen Dialog Formaten könnte ein gemeinsamer und gesellschaftlicher Denkprozess in Gang gesetzt werden, indem Zukunftsvorstellungen unter Einbezug von möglichst diversen Wünschen und Perspektiven in Gedanken Gestalt annehmen. Um diese Transformation greifbar und vor allem erfahrbar zu machen, braucht es eine gesellschaftliche Praxis, ein Austesten von Gestaltungsmöglichkeiten, gewissermaßen explorative Begegnungsräume, in denen man üben kann Zukunft neu zu formen. So könnte man der allgemeinen Unsicherheit gegenüber einer unsicheren Zukunft erfahrbare Alternativen zu Seite stellen. Bei einer solchen Praxis müsste es dann vor allem darum gehen, sich neu in der Gegenwart zu orientieren und einen gemeinsamen „Referenzrahmen“ für die eigenen Handlungen zu schaffen. Eine solche Vorstellungs-Praxis könnte aussehen, wie es unter dem Namen Utopia Stadt bereits seit einigen Jahren erprobt wird. Aus einem restaurierten und umfunktionierten Bahnhofsgelände in Wuppertal ist dort ein Ort entstanden, der Projekten der Nachhaltigkeit, wie gemeinsamer Agrarfläche oder Upcycle Konzepten, ebenso einen Raum bietet, wie Salongesprächen und Vorlesungsreihen.  Fragen der Nachhaltigkeit und der transformativen Gesellschaft werden hier als Gemeinsame gedacht. Die Verwobenheit der verschiedenen Aufgaben der Gegenwart wird dort im wahrsten Sinne zusammengeführt und in der Praxis mit Bürger:innen gemeinsam neu geformt.

Nachdem die alte gemeinsame Erzählung von Wachstum an allen Enden auseinanderbricht, täte ein gedanklicher Reset gut, von dem aus wir neue Geschichten wünschenswerter Zukünfte erzählen können. Dafür braucht es Orte, in denen wir Zukünftiges zusammen denken können und Räume, in denen wir uns in der gemeinsamen Erprobung von neuen Zukunftsvisionen wieder auf einen festen Boden stellen können. Vielleicht wären es diese Orte, wo wir gemeinsam neue Zukünfte denken können, an denen wir den Anfang machen von einem gedanklichen Sinneswandel zu neuen Paradigmen unseres menschlichen Zusammenlebens und der Interaktion mit unserer Umwelt.

Wie euch vielleicht aufgefallen ist, hat diese Episode einen Sponsor. Das liegt daran, dass wir finanziell noch nicht ganz auf eigenen Beinen stehen. Natürlich wünschen wir uns, dass Sinneswandel eines Tages 100% werbefrei arbeiten kann. Aber, dafür brauchen wir eure Unterstützung! Unser Ziel sind zunächst 1.500€ monatlich. Das klingt erstmal viel, ist es jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass wir alle, die am Podcast beteiligt sind, wie Redakteure, Autor:innen und Produzenten, für ihre Arbeit honorieren möchten. Daher freuen wir uns, wenn ihr uns etwas unter die Arme greift. Unterstützen könnt ihr uns via paypal.me/sinneswandelpodcast oder via Steady. Mehr dazu in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald!

18. Februar 2021

Jeder Mensch, ein Künstler – Was macht Beuys aktuell?

von Ricarda Manth 11. Februar 2021

„Kunst ist die einzige Kraft, die die Menschheit von jeglicher Unterdrückung befreit“, so der Künstler Joseph Beuys. Dabei wollte er die Kunst keinesfalls auf das Schwingen eines Pinsels reduziert wissen. Für Beuys war sie weitaus mehr: Kunst, als die Grundlage allen Gestaltens und damit auch das der Gesellschaft, wenn man sie als “soziale Plastik” begriff. Angesichts Beuys 100. Geburtstag, der in diesem Jahr stattgefunden hätte, wollen wir sein Denken und Schaffen in die Gegenwart holen. Was macht Beuys auch, oder gerade heute aktuell? Wir sprechen u.a. mit Menschen, die Beuys persönlich kannten, genauso, wie mit Künstler*innen, die im weitesten Sinne in seine Fußstapfen treten. Den Anfang des Beuys-Spezials macht Bettina Paust, Leiterin des Wuppertaler Kulturbüros und davor langjährige künstlerische Direktorin des Joseph Beuys Archivs Schloss Moylands. 

Shownotes:

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► beuys2021: Programm und Infos.
► Utopiastadt: Zukunftsort und Kreativprojekt in Wuppertal.
► Joseph Beuys-Handbuch – Leben Werk Wirkung erscheint im Juli 2021 im metzler Verlag.
► Wuppertaler Performance Festival im Rahmen von beuys2021.

✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

11. Februar 2021

Frank Adloff: Denkbar, eine post-neoliberale Welt?

von Ricarda Manth 4. Februar 2021

Wie können wir in Zeiten der Globalisierung miteinander leben, uns unterscheiden und Konflikte haben, ohne uns zu massakrieren? Erst kürzlich, im September 2020, erschien das zweite konvivialistische Manifest, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine „post-neoliberale Welt“ plädieren. Der Soziologe und Mitinitiator Frank Adloff erklärt im Gespräch was es mit dem Konzept des Konvivialismus auf sich hat und welche Ziele es verfolgt. 

Shownotes:

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  • Die Deutsche Website der Konvivialisten.
  • Die Französische Website Convivialisme.
  • Das erste sowie das zweite Konvivialistische Manifest finden sich auf der Website des transcript Verlages als Open Source Dateien zum kostenlosen Download.
  • Das Forschungskolleg “Zukünfte der Nachhaltigkeit” der Universität Hamburg.

✉ [redaktion@sinneswandel.art] (mailto:redaktion@sinneswandel.art)
► [sinneswandel.art] (https://sinneswandel.art)

4. Februar 2021
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