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Ricarda Manth

Ricarda Manth

Kann Kunst Gesellschaft verändern? Ja, sagt Beuys!

von Ricarda Manth 23. Februar 2021

Die Gesellschaft als “Soziale Plastik”. Ein Begriff, den der Künstler Joseph Beuys verwendete, um den Aspekt der Gestaltung und das Partizipative hervorzuheben, was er u.a. durch ein Zuviel an Bürokratie bedroht sah. Daher rief er mit seiner Kunst, wie auch mit seinem politischen und gesellschaftskritischen Engagement dazu auf, selbst aktiv zu werden, das eigene kreative Potenzial zu nutzen – im Sinne eines “erweiterten Kunstbegriffs”. In dieser zweiten Episode, anlässlich Beuys 100. Geburtstag, habe ich mit dem Autor und Verleger Rainer Rappmann gesprochen, der den Künstler persönlich kannte.

SHOWNOTES:

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► beuys2021: Programm und Infos.
► Fiu-Verlag.
► Verein Soziale Skulptur.
► Museum Ulm: “Ein Woodstock der Ideen – Joseph Beuys, Achberg und der deutsche Süden”.

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✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

23. Februar 2021

Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

von Ricarda Manth 18. Februar 2021

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. In ihrem Essay plädiert Gastautorin Katharina Walser für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen.

SHOWNOTES:

Diese Episode wurde gesponsort durch Naturata, welche biologisch erzeugte und fair gehandelte Lebensmittel vertreiben. Auf naturata-shop.de erhaltet ihr bis zum 15.03.2021 mit dem Code „mehralsbio“ 20% Nachlass auf euren Einkauf, ab einem Bestellwert von 40€.

► „Aufschwung des utopischen Denkens“ Sighard Neckel, Deutschlandfunk.
► „Narrative für eine Nachhaltige Entwicklung“ Sascha Meinert, bpb.
► Betty Sue Flowers: „The American Dream and the Economic Myth“.
► „Erzähl!“ Thomas Kniebe, Süddeutsche Zeitung.
► „Was das Modewort ‘Narrativ’ verrät“ Kolumne von Dorothee Krings, Rheinische Post.
► Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“.
► „Deutschland spricht“ Projekt der ZEIT.
► „Utopiastadt“ Wuppertal.

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Transkript: Fortschritt neu denken – wir brauchen neue Narrative!

Höher, schneller, weiter, besser – hauptsache mehr! So lautet das Narrativ modernen Fortschritts bis heute. Wachstum durch Effizienzsteigerung als Allheilmittel für mehr Wohlstand. Nur hat sich dieser Wohlstand, wie sich herausstellt, nicht ganz ebenmäßig verteilt. Der sogenannte “Trickle-Down-Effekt” bleibt aus. Die Armen werden ärmer. Die Reichen unerreichbar. Doch nicht nur die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Auch die planetaren Grenzen unserer Erde scheinen maßlos ausgeschöpft. Wir wissen es alle bereits: So kann es nicht weitergehen! Die alten Fortschritts Erzählungen grenzenlosem Wachstums haben ausgedient. Doch wo sind sie, die “neuen Narrative”? Nur selten ließt oder hört man von Geschichten des Gelingens, von Vorstellungen wünschenswerter Zukünfte, geschweige denn von Utopien. Stattdessen dominieren Untergangszenarien, Apokalypsen und Dystopien den Diskurs. Horrorzahlen verkaufen sich besser. Doch damit muss Schluss sein, argumentiert Gastautorin Katharina Walser. In ihrem Essay plädiert sie für eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen. Denn die gegenwärtigen Krisen lassen sich nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen bewältigen. 

Am 28. November 2019 ruft  das EU-Parlament den Klimanotstand aus. Ein Beschluss den man heute, 2,5 Jahre später, vor allem als symbolischen Akt deuten kann, denn fundamentale und einheitliche Gesetzgebungen zum Schutze des Klimas lassen nach wie vor auf sich warten. Drei  Wochen nach dem Ausruf des Parlaments ist der Soziologe Sighard Neckel im Deutschlandfunk zu hören. Die Klimakrise beschreibt er  als apokalyptisches Szenario, das im Zentrum einer modernen Wirklichkeitserfahrung steht. Im Zentrum steht sie deshalb, da durch sie „die elementaren Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, jedenfalls wie wir es bisher gekannt haben, zur Disposition gestellt sind.“ Gerade diese Erfahrung, in der wir erkennen müssen, dass die Art unseres westlichen Lebens ein Ablaufdatum hat, hinterlässt ein umfassendes Gefühl der Verunsicherung – eine Verunsicherung, die wir vielleicht als die moderne Erfahrung schlechthin bezeichnen können.

Ja, es stimmt. Viele Prinzipien unserer Lebensverhältnisse stehen zur Disposition. Wie wir wirtschaften und uns vernetzen wird sich in einer ernst zunehmenden Klimapolitik verändern müssen. Allerdings sind dystopische Zugänge zur Zukunft, die den Fokus auf ein Versagen des Systems richten und ständig eine neue Apokalypse ausrufen, gerade deshalb so verheerend, weil sie nicht anschlussfähig sind. Die Rede von der Endzeit steht ihrem Zweck, nämlich neue und nachhaltige Handlungen hervorzubringen möglicherweise sogar gänzlich entgegen. Weil sie den Blick von Wegen in eine nachhaltige und wünschenswerte Zukunft ablenkt und im schlimmsten Fall Ängste verbreitet, die weiter zu einer Lähmung von Handlungsfähigkeit führen. 

Diese Ängste haben nämlich ganz real-politische Folgen und sind unter anderem, wie Neckel schreibt, auch Auslöser für eine “Sündenbock-Logik”, wie sie innerhalb von identitärer Politik seit Jahren zu beobachten ist. Statt Konzerne und politische Entscheidungsträger:innen in die Verantwortung zu ziehen, werden Vertreter:innen des Klimaschutzes dafür kritisiert, dass sie einem, die vermeintlich so unproblematische Normalität wegnehmen wollen. Ein solches Misstrauen gegenüber Maßnahmen zum Zweck des Klimaschutzes speist sich nach dem Politikwissenschaftler Sascha Meinert aus einer Zukunftsvision von Nachhaltigkeit in deren Zentrum vor allem eines steht: Mangel. Es fehlt an einer Vorstellung von klimagerechtem Handeln, das eine Zukunft des positiven Fortschritts darstellt und nicht im Zeichen des kollektiven Verzichts steht. Die bisherigen europäischen Klimaschutz-Maßnahmen, wie die Bemühungen um einen Green Deal, reichen Neckel zufolge längst nicht aus, um einer solchen Umcodierung einer nachhaltigen Zukunft beizukommen. Er merkt deshalb zurecht an, dass solchen Klimaschutz-Konzepten starke sozialpolitische Entwürfe fehlen und stattdessen ausschließlich auf Marktregulierungen und technologische Innovation gesetzt werde. Die notwendige Reaktion auf ein Zeitalter der Verunsicherung, wie wir es aktuell erleben und das allerhand soziale Spaltungen fördere, sieht er deshalb in einem „Aufschwung des utopischen Denkens“. Im Angesicht der vielfältigen Krisen unserer Gegenwart brauche es daher eine aktive Neubesetzung von Zukunftsvorstellungen! Man muss  anerkennen, so Meinert, dass wir es mit einer allumfassenden „Krise unserer narrativen Umwelt“ zu tun haben. Also mit einer Problemlage, der wir nur mithilfe neuer und nachhaltiger Erzählungen begegnen können.

Ein neues, gemeinsames Narrativ durch das wir Krisen der Moderne überwinden können klingt verlockend, aber: Wie genau sieht sie denn aus, die moderne Krise und was soll eigentlich so ein “soziales Narrativ” sein?

Wer von vielfältigen Krisen der Gegenwart spricht, betrachtet diese Phänomene als voneinander unabhängige Konflikte. Eine solche Vorstellung geht davon aus, dass Klimakrise, die sogenannte Migrationskrise und die pandemische Krise, alle separate Ereignisse wären. Letztlich lassen sich diese Krisenherde jedoch gerade im Hinblick auf die Krise unserer Umwelt unter einem Phänomen subsumieren, das die Literaturprofessorin Betty Sue Flowers als „Mythos des Ökonomischen“ bezeichnet. Dieser Mythos unserer Lebenswelt funktioniert nach den Dogmen der monetären und dinglichen Maximierung, „wobei Mehr stets besser ist als Weniger“. Innerhalb dieses Systems, das nur nach den Prinzipien von „Vorteilsmaximierung und Aufwandsminimierung“ funktioniert, bedeutet gelungene, menschliche Identität vor allem eines: Expansion. Und da sich diese Erzählung des Wachstums insbesondere in international zugänglicher Sprache – nämlich in Zahlen ausbuchstabiert, von Umsatzzahlen bis Aktienkursen, wurde die ökonomische Sinnstiftung zum ersten globalen Narrativ. Dieser globale Mythos bröckelt nun, da zunehmend sichtbarer wird, dass er davon lebt „möglichst effizient auf vorhandene Bestände zuzugreifen, und wenn notwendig – und das ist es oft – von anderen zu nehmen oder von der Zukunft zu borgen, um die eigenen Ansprüche der Gegenwart zu bedienen“. Wenn wir also die Krisen der Gegenwart unter ein Problem, nennen wir es “Ursprungskrise”, zurückdenken wollen, so muss die Begründung unserer Krisenerfahrungen in der fehlerhaften Vorstellung von unbegrenztem Wachstum selbst liegen – in der Krise kapitalistischer Normen. 

Vor diesem Hintergrund plädiert Meinert für einen „Mythos der nachhaltigen Entwicklung“. Gelingen könne ein solches Vorhaben, indem man sich die narrativen Elemente unser Lebenswirklichkeit vor Augen führt und bewusst ein neues Narrativ von Zukunft schreibt. Eine neue Erzählung, in der sich nachhaltige Entwicklung nicht mehr durch ein „Zu Wenig“ oder durch einen „Verzicht“ auszeichnet, sondern mit wünschenswerten Lebensmodellen verknüpft wird und damit als Bereicherung empfunden werden kann. Es müsste gelingen eine solche Zukunft vorstellbar zu machen und Gestalt annehmen zu lassen, um den Weg der regressiven Wiederherstellung von einem veralteten Ideal von ungebremster wirtschaftlicher Expansion eine Alternative zur Seite zu stellen. Was wir also brauchen ist eine neue Rahmenerzählung, in der wir unser Handeln nach wünschenswerten Zukünften neu ausrichten können!

Was heißt es nun aber, ein neues Narrativ zu schaffen?

In den vergangenen Jahren hat der Begriff des “Narrativs” einen geradezu explosionsartigen modischen Aufschwung erfahren. Von politischer Imagepflege der EU bis zu Marketing Kampagnen für große Wirtschaftsunternehmen, alle sprachen sie davon “neue Narrative” schaffen zu wollen. Gerade bei einer solchen Überstrapazierung des Wortes, lohnt sich ein Schritt zurück und der Versuch einer Verhältnisbestimmung dessen, was ein Narrativ überhaupt ist. Ein Begriff, der noch vor einigen Jahren den meisten einfach als schicker, akademischer Ausdruck für Erzählung bekannt war. Tobias Kniebe versucht in der Süddeutschen Zeitung diesen Trend besser zu verstehen und sucht die Antwort in einer negativen Bestimmung des Begriffs. Er fragt erst einmal danach was denn eigentlich nicht narrativ funktioniere und kommt sowohl im Falle der bildenden Künste, als auch der Musik an seine Grenzen. Er stellt fest: “Wo immer Worte, Bilder oder Töne aufeinanderfolgen […] formen unsere inneren Narrationsmaschinen Erzählungen, Geschichten, Entwicklungen, Lebenslinien.“ Der Mensch ist also nicht umgeben von Narrativen, er bringt sie selbst hervor. Bereits die assoziativen Denkmuster unserer  Wahrnehmung betreiben tagtäglich narrative Prozesse. Neue Sinneseindrücke ordnen wir immer wieder aufs neue in unseren eigenen Wissenskanon ein und schreiben so eine Geschichte der Umwelt und unserer Position darin. Der Mensch erzeugt in seiner Suche nach Sinnzusammenhängen seine eigenen Erzählungen von der Welt. Ein Narrativ ist also eine Form der übergeordneten Metaerzählung. Es wird weniger erfunden, als vielmehr geschaffen. Im sozialpolitischen Kontext ist ein Narrativ dann eine große Rahmenerzählung, in der sich das Individuum in sein gesellschaftliches Umfeld einordnen kann. Eine Rahmenerzählung, die als gemeinsames sinnstiftendes Referenzsystem einer Gesellschaft funktioniert. 

Wieso also die Rufe nach Narrativen wenn wir sie doch selbst hervorbringen? Die Germanistin Dorothee Krings betont, dass Modewörter mehr sind als nur nachgemachte schöne Sprache. Ihr Auftreten verrate oft einen Sinneswandel, “der plötzlich Ausdruck findet”. Wenn sich also die öffentlichen Rufe um Narrative verstärken, so ließe das einen direkten Rückschluss auf eine Orientierungslosigkeit der Gesellschaft zu, auf einen Hunger nach Sinn. Eine solche Orientierungslosigkeit oder Verunsicherung, wie ich es zuvor genannt habe, lässt sich im Angesicht des verfallenen Narrativs von grenzenlosem Wachstum zweifelsohne diagnostizieren. 

Wie ist nun mit dem Plädoyer, diesem Aufruf zu neuen Zukunftsnarrativen, umzugehen? Was tun mit der Idee einer Metaerzählung, die sich nicht nur aktiv gegen das Narrativ des Verzichts stellt, sondern sich jenseits des Dogmas von grenzenlosem Wachstum positioniert?  

Ein Konzept, das vielleicht zum nachdenken anregen kann, stellt Bruno Latour in seinem Terrestrischem Manifest vor. Latour plädiert darin für ein neues Selbstverständnis des Menschen auf unserem Planeten, das sich auch in einer neuen Politik niederschlagen müsse. Die zentrale Empfindung, welche auch er der Gegenwart zuschreibt, ist die einer fehlenden „Bodenhaftung“. Ausgelöst sei sie durch die unheimliche Erfahrung, dass der Mensch konfrontiert wird mit einer Welt, in der die Folgen seines Fortschrittstrebens immer deutlicher zutage treten und schlussendlich seine ganze Existenz bedrohen. Das Ziel der Globalisierung zeige immer deutlicher seinen Preis und habe so die große Metaerzählung der vergangenen 50 Jahre erschüttert. Latour kategorisiert im Zuge dieser elementaren Erfahrung der Moderne alle relevanten Fragen der Zukunft als „geopolitische Fragen“ und argumentiert, dass die vermeintlich einzelnen Krisen der Gegenwart unter der Krise des Klimas einen gemeinsamen Nenner finden. So heißt es in seinem Manifest man verstünde nichts „von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind, kann man weder die Explosion der Ungleichheiten [verstehen], noch das Ausmaß der Deregulierungen, weder die Kritik an der Globalisierung noch, [und] vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaats“.

Zwischen der Gewissheit, dass es nicht weitergehen kann, wie bisher und auch kein Rückzug in Vergangenes möglich ist, gerät der Mensch auf seinem Kurs ins Straucheln. In die Vorstellung linearen Fortschritts bricht so eine Bedrohung herein, die auf einen früh getroffenen Fehlschluss menschlicher Entwicklung zurückweist. Dieser Fehlschluss begründet sich für Latour in der Trennung von Kultur und Natur bzw. in einer grundsätzlichen Haltung des Menschen außerhalb der Natur zu stehen und unabhängig von Folgen in ihr operieren zu können. Unter dem Begriff des “Terrestrischen” versucht sich Latour also an einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Ökonomie, Mensch und Ökologie, in welcher die Erde selbst nicht nur als die Objekthafte, sondern als eigene Akteurin gedacht werden muss.

Eine solche problematische Grundhaltung, in der sich der Mensch als von der Welt unabhängig versteht, diskutieren auch einige Naturwissenschaftler:innen und Anthropolog:innen unter dem Begriff des “Anthropozäns”. Ihre These lautet, dass wir  Menschen so prägend in den Lauf der Natur eingegriffen haben, dass wir sogar von einem neuen Erdzeitalter sprechen müssen. Dieses Zeitalter der Anthropozäns, sei dasjenige, welches das Holozän ablöse – jene Jahre, während denen sich die Kultur der Menschen entfaltet hat ohne irreversible Schäden in seiner Umwelt zu hinterlassen!  

Anders jedoch als die Vertreter:innen des Anthropozäns, sieht Latour keine zureichenden Lösungsansätze in einer technischen Gegenbewegung zu den Problemen des Klimawandels, wie sie in den Bereichen des sogenannten “Geoingeneerings” erprobt werden. Es ginge nicht ohne eine radikale Überwindung der Denkmuster, in denen sich der Mensch als  von der Natur abgesondert wahrnimmt. Latour geht es dabei weniger um Innovationen oder schnelle Lösungen unseres Umwelt Problems, als vielmehr um eine Suchbewegung nach einer neuen Sinnhaftigkeit menschlichen Strebens, das sich nicht in der Überwindung einer Krise bestärkt sieht, sondern darin, sich auch über die Krise hinaus neu zu seiner Umwelt zu positionieren.  

Diese Suche nach neuer Sinnhaftigkeit müsste mit  einer neuen Rahmenerzählung menschlichen Strebens, einem Narrativ fern von dem bisherigen, hohlen Wachstumsdogma verbunden sein. Das bedeutet neue Ziele vorstellbarer und mögliche Umsetzungen greifbarer zu machen. Das umfassende Potenzial in einer solchen Neuerfindung des Menschen wird in Latours Argumentation in der Betrachtung deutlich, in welcher er die verschiedenen Krisen, die wir aktuell erfahren, als miteinander verwoben beschreibt. Man muss nicht unbedingt mitgehen, wenn er die pauschalisierende Aussage trifft, dass alle Probleme der Neuzeit von identitärer Politik, bis zu allen Formen von Fluchtbewegungen, ihren Ursprung in der Klimakrise finden. Wenig bestreitbar ist jedoch, dass die Klimakrise mit Besitz- und Verteilungsfragen der Zukunft unauflöslich verstrickt ist. Gerade wenn immer mehr Landstriche der Erde nicht bewirtschaftbar oder unbewohnbar werden.  In diesem unüberschaubaren Geflecht von Problemen müssen wir in Zukunft politisch und sozial am richtigen Faden ziehen, wenn wir auf eine Entwirrung und schließlich Auflösung der Krisen hoffen. Dieser Faden, so Latour, muss seinen Ursprung in der vorherrschenden Vorstellung von  Mensch und Natur finden. Gerade weil die Klimakrise Auslöser für die zentrale Verunsicherung unserer Zeit ist, ließen nachhaltige soziale Zukunftsentwürfe Lösungen für die verschiedensten Krisen der Moderne zu. Es gilt nach dem terrestrischen Manifest nicht eine feste Lösung für Erderwärmung, Migrationsprozesse und identitäre Politik zugleich zu finden, sondern sich auf die Suche nach einem festen Boden zu begeben. Und vor allem anzufangen, in Zukunftsvisionen Strukturen der Sicherheit zu schaffen. 

Strukturen, die sich, wenn sie auf nachhaltigen Erfolg setzen, zunächst in einem gedanklichen Widerstand formulieren müssen. In einem Widerstand, der die gängigen Narrative menschlichen Strebens überdenkt und neue Entwürfe greifbar macht.

Aber wie kann so ein Widerstand in Gedanken Formen annehmen, ein Widerstand, der sich in den Formen der menschlichen Selbstnarration begründet? Wie integrieren wir einen so abstrakten Anspruch  wie den von Latour in unsere Lebenswelt? Dafür müssten die Forderungen nach neuen Narrativen konkrete Gestalt annehmen. Also fragen wir nochmal: Wie schreibt man denn nun ein neues Narrativ?

Zunächst macht es Sinn den Status quo, in dem Verunsicherungen und Ängste verspürt werden kritisch zu hinterfragen. Also die Narrative, in die wir bisher eingeschrieben waren oder es noch sind, zur Diskussion zu stellen. Das kann aussehen wie in Texten, die Dogmen des Wachstums bewusst auf ihre Verbindungen zu unserem alltäglichen Leben hinterfragen, wie es unter anderen Eva Illouz zeigt, wenn sie sich in “Der Konsum der Romantik“ der Frage widmet, wie Paradigmen des Kapitalismus beeinflusst haben wie wir heute lieben. Solche Auseinandersetzungen können konkret fordern, die Verbundenheit von unserer Umwelt und unserem Leben sichtbar zu machen. In diesem Fall hebt die Autorin die Verbindungsstellen zwischen Ökonomischem und Privatem hervor. Aber es reicht nicht Texte zu lesen, die problematische Narrative aufdecken, um einen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu bringen. Um den Blick von veralteten Erzählungen hin zu neuen und wünschenswerten Zukünften zu richten, braucht es als zweiten Schritt der Orientierung, gemeinsame Gespräche. Denn wie der Politologe Meinert anmerkt:  Zukunft  „kann nie alleine geschrieben werden“, zumindest dann nicht, wenn sie eine transformative und transregionale Kraft entfalten soll. Das bedeutet auch, dass ein Dialog Format, das bewusst dazu anregen will Zukunft neu zu denken, über soziale Blasen hinaus funktionieren muss. Wie so etwas aussehen kann zeigt zum Beispiel das Deutschland spricht Projekt der Zeit, das seit Sommer 2017 regelmäßig stattfindet. Die Idee dahinter ist, Menschen mit möglichst diversen politischen Interessen und Ansichten zusammenzubringen und zum Dialog zu inspirieren. Die Durchführung dabei ist so simpel, wie überzeugend: Die Teilnehmer:innen beantworten online, ähnlich wie beim Wahlomat, ein paar Fragen zu tagesaktuellen Themen und werden dann einer Person vorgestellt, welche in ihrer Nähe wohnt, jedoch möglichst andere Ansichten vertritt. Mit solchen Dialog Formaten könnte ein gemeinsamer und gesellschaftlicher Denkprozess in Gang gesetzt werden, indem Zukunftsvorstellungen unter Einbezug von möglichst diversen Wünschen und Perspektiven in Gedanken Gestalt annehmen. Um diese Transformation greifbar und vor allem erfahrbar zu machen, braucht es eine gesellschaftliche Praxis, ein Austesten von Gestaltungsmöglichkeiten, gewissermaßen explorative Begegnungsräume, in denen man üben kann Zukunft neu zu formen. So könnte man der allgemeinen Unsicherheit gegenüber einer unsicheren Zukunft erfahrbare Alternativen zu Seite stellen. Bei einer solchen Praxis müsste es dann vor allem darum gehen, sich neu in der Gegenwart zu orientieren und einen gemeinsamen „Referenzrahmen“ für die eigenen Handlungen zu schaffen. Eine solche Vorstellungs-Praxis könnte aussehen, wie es unter dem Namen Utopia Stadt bereits seit einigen Jahren erprobt wird. Aus einem restaurierten und umfunktionierten Bahnhofsgelände in Wuppertal ist dort ein Ort entstanden, der Projekten der Nachhaltigkeit, wie gemeinsamer Agrarfläche oder Upcycle Konzepten, ebenso einen Raum bietet, wie Salongesprächen und Vorlesungsreihen.  Fragen der Nachhaltigkeit und der transformativen Gesellschaft werden hier als Gemeinsame gedacht. Die Verwobenheit der verschiedenen Aufgaben der Gegenwart wird dort im wahrsten Sinne zusammengeführt und in der Praxis mit Bürger:innen gemeinsam neu geformt.

Nachdem die alte gemeinsame Erzählung von Wachstum an allen Enden auseinanderbricht, täte ein gedanklicher Reset gut, von dem aus wir neue Geschichten wünschenswerter Zukünfte erzählen können. Dafür braucht es Orte, in denen wir Zukünftiges zusammen denken können und Räume, in denen wir uns in der gemeinsamen Erprobung von neuen Zukunftsvisionen wieder auf einen festen Boden stellen können. Vielleicht wären es diese Orte, wo wir gemeinsam neue Zukünfte denken können, an denen wir den Anfang machen von einem gedanklichen Sinneswandel zu neuen Paradigmen unseres menschlichen Zusammenlebens und der Interaktion mit unserer Umwelt.

Wie euch vielleicht aufgefallen ist, hat diese Episode einen Sponsor. Das liegt daran, dass wir finanziell noch nicht ganz auf eigenen Beinen stehen. Natürlich wünschen wir uns, dass Sinneswandel eines Tages 100% werbefrei arbeiten kann. Aber, dafür brauchen wir eure Unterstützung! Unser Ziel sind zunächst 1.500€ monatlich. Das klingt erstmal viel, ist es jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass wir alle, die am Podcast beteiligt sind, wie Redakteure, Autor:innen und Produzenten, für ihre Arbeit honorieren möchten. Daher freuen wir uns, wenn ihr uns etwas unter die Arme greift. Unterstützen könnt ihr uns via paypal.me/sinneswandelpodcast oder via Steady. Mehr dazu in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald!

18. Februar 2021

Jeder Mensch, ein Künstler – Was macht Beuys aktuell?

von Ricarda Manth 11. Februar 2021

„Kunst ist die einzige Kraft, die die Menschheit von jeglicher Unterdrückung befreit“, so der Künstler Joseph Beuys. Dabei wollte er die Kunst keinesfalls auf das Schwingen eines Pinsels reduziert wissen. Für Beuys war sie weitaus mehr: Kunst, als die Grundlage allen Gestaltens und damit auch das der Gesellschaft, wenn man sie als “soziale Plastik” begriff. Angesichts Beuys 100. Geburtstag, der in diesem Jahr stattgefunden hätte, wollen wir sein Denken und Schaffen in die Gegenwart holen. Was macht Beuys auch, oder gerade heute aktuell? Wir sprechen u.a. mit Menschen, die Beuys persönlich kannten, genauso, wie mit Künstler*innen, die im weitesten Sinne in seine Fußstapfen treten. Den Anfang des Beuys-Spezials macht Bettina Paust, Leiterin des Wuppertaler Kulturbüros und davor langjährige künstlerische Direktorin des Joseph Beuys Archivs Schloss Moylands. 

Shownotes:

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► beuys2021: Programm und Infos.
► Utopiastadt: Zukunftsort und Kreativprojekt in Wuppertal.
► Joseph Beuys-Handbuch – Leben Werk Wirkung erscheint im Juli 2021 im metzler Verlag.
► Wuppertaler Performance Festival im Rahmen von beuys2021.

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11. Februar 2021

Frank Adloff: Denkbar, eine post-neoliberale Welt?

von Ricarda Manth 4. Februar 2021

Wie können wir in Zeiten der Globalisierung miteinander leben, uns unterscheiden und Konflikte haben, ohne uns zu massakrieren? Erst kürzlich, im September 2020, erschien das zweite konvivialistische Manifest, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine „post-neoliberale Welt“ plädieren. Der Soziologe und Mitinitiator Frank Adloff erklärt im Gespräch was es mit dem Konzept des Konvivialismus auf sich hat und welche Ziele es verfolgt. 

Shownotes:

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  • Die Deutsche Website der Konvivialisten.
  • Die Französische Website Convivialisme.
  • Das erste sowie das zweite Konvivialistische Manifest finden sich auf der Website des transcript Verlages als Open Source Dateien zum kostenlosen Download.
  • Das Forschungskolleg “Zukünfte der Nachhaltigkeit” der Universität Hamburg.

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4. Februar 2021

Rutger Bregman: Wieso sollten wir an das Gute im Menschen glauben? (EN)

von Ricarda Manth 26. Januar 2021

Homo homini lupus – der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Der Philosoph Thomas Hobbes war längst nicht der Einzige, der fest davon überzeugt war, der Mensch sei im Grunde schlecht – ein im innersten Kern wildes und grausames Wesen. Eines, dass stets sein eigenes Interesse voranstellt und im Zweifel bereit ist, andere dafür zu unterdrücken. Ein homo oeconomicus, das Bild des Eigennutzenmaximierers, das auch heute noch die moderne Welt und Wirtschaft bestimmt. Doch was, wenn all diese Annahmen falsch wären? Wenn wir gar nicht so übel, sondern gar im Grunde gut wäre? Was würde ein solches, neues, vielleicht sogar realistischeres Menschenbild für unsere Zukunft bedeuten? Diese Frage hat sich auch der niederländische Historiker, Autor und Aktivist, Rutger Bregman gestellt und sich, um Antworten zu finden, auf eine lange Reise begeben. In seinem Buch plädiert er für einen “neuen Realismus”, der damit beginnt, dass wir vom Guten ausgehen. 

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SHOWNOTES:

  • Rutger Bregman: Im Grunde gut Rowolth Verlag (03/2020).
  • Website von Rutger Bregman.
  • Rutger Bregman auf Twitter.

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Transkript: Rutger Bregman: Wieso sollten wir an das Gute im Menschen glauben? Übersetzung des Gesprächs auf Deutsch


Marilena Berends: Glauben Sie, dass es in unserer heutigen Welt schwieriger ist, ein Optimist zu sein als ein Pessimist?

Rutger Bregman: Nun, wissen Sie, ich habe das Wort Optimismus nie wirklich gemocht. Denn für mich suggeriert es eine Form von Selbstgefälligkeit, bei der man sagt: “Weißt du, mach dir keine Sorgen, die Dinge werden sich schon zum Guten wenden, sei einfach ein Optimist! Schaut euch all dieses wunderbare Wachstum an, das zeigt, dass die extreme Armut zurückgeht, schaut euch all diese außergewöhnlichen Innovationen und den technischen Fortschritt an. Alles wird gut werden, mach dir keine Sorgen.” Und ich glaube, diese Art von Erzählung macht die Menschen faul. Nun ist das Gegenteil von Optimismus, Pessimismus, vielleicht auch eine Form von Faulheit, besonders wenn Pessimismus zu Zynismus wird. Dann kommt man in die Position, wo man sagt: “Weißt du, es ist sowieso sinnlos. Die Dinge gehen bergab, wir können die Welt nicht retten, lass uns einfach unser Leben genießen, solange es noch geht.” Worüber ich also gerne mehr sprechen möchte, ist die Bedeutung der Hoffnung. Ich denke, dass Hoffnung wirklich das richtige Wort ist und dass wir die Hoffnung dem Optimismus und Pessimismus vorziehen sollten. Denn Hoffnung hat mit der Möglichkeit der Veränderung zu tun. Es ist die Erkenntnis, dass die Dinge anders sein können. Dass es nicht so sein muss. Dass wir unsere Gesellschaft wirklich neu organisieren können. Unsere Wirtschaft reorganisieren. Dass es nichts Unvermeidliches am Status quo gibt. Und das ist auch der Grund, warum ich denke, dass die Geschichte die subversivste aller Sozialwissenschaften ist, weil sie immer und immer wieder zeigt, dass die Dinge anders sein können. Dass es nichts Natürliches an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge gibt, an der Art und Weise, wie wir sie im Moment arrangiert haben. Wenn man ein bisschen raus zoomt und sich die Besteuerung in den 50er und 60er Jahren ansieht, als wir Grenzsteuersätze für Reiche von 80 oder 90 % hatten – da denkt man: “Hm, ich dachte, das ist unmöglich?!”. Die Ökonomen haben mir immer gesagt, dass die Wirtschaft zerstört werden würde, wenn wir das machen. Aber tatsächlich haben wir das in den 50er und 60er Jahren gemacht, und wir hatten damals viel mehr Fortschritt im Wirtschaftswachstum. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Hoffnung uns von der Gegenwart befreien und uns zeigen können, dass es anders sein kann.

MB: Wenn Sie also der Überzeugung sind, dass sowohl Optimismus als auch Pessimismus uns faul machen, würden Sie sich dann als “Possibilisten” bezeichnen? Also jemand, der nicht naiv ist, aber auch nicht rein realistisch, der sich mit einem Sinn für Realismus ein Fenster zum Träumen offen hält?

RB: Ja, ich habe das Wort “Possibilist” immer gemocht, aber es funktioniert in beide Richtungen. Also, wenn man sich anschaut, was zum Beispiel in den USA passiert, ist es für viele Leute schwer vorstellbar, aber was wir hier sehen, ist der Zusammenbruch eines ganzen demokratischen Systems. Denn, wissen Sie, die Demokratie stirbt nicht just in einem Monet. Sie bekommt keinen Herzinfarkt und dann bumm! ist sie weg. Es passiert allmählich, dass die Gesellschaft vergiftet wird, dass die Menschen die Rechtsstaatlichkeit aufgeben und dass das Misstrauen wächst und wächst. Wenn Sie den Deutschen in den 1920er Jahren gesagt hätten, wo sie in den 1940er Jahren landen würden, ich meine, viele Leute hätten es nicht geglaubt.  Aber wenn man viele kleine Schritte macht, dann hat man am Ende eine große Strecke zurückgelegt. Der Fortschritt funktioniert auf die gleiche Weise. So war es für viele Menschen in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts unvorstellbar, dass es einen Tag geben würde, an dem wir die Sklaverei abgeschafft, eine parlamentarische Demokratie eingeführt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau etabliert haben und sogar über Tierrechte nachdenken würden – das wäre für viele der Philosophen der Aufklärung unvorstellbar gewesen, obwohl sie schon darüber sprachen, aber wirklich zu glauben, dass es in der Praxis passieren könnte, das ist eine andere Sache. Ich denke also, dass es wirklich wichtig ist, das im Hinterkopf zu behalten. Und auch hier hilft einem die Geschichte, denn sie hilft einem, heraus zu zoomen. Ich glaube, wir überschätzen zu oft das Ausmaß der Veränderungen, die in den nächsten paar Monaten oder vielleicht in den nächsten zwei Jahren passieren können, aber wir unterschätzen das Ausmaß der Veränderungen, die in einem oder zwei Jahrzehnten passieren können. 

MB: Bevor wir darüber sprechen, welche Art von Veränderung Ihrer Meinung nach notwendig ist, möchte ich Sie zunächst etwas Privates fragen. Was glauben Sie, hat Sie dazu gebracht, in Ihrem Leben mehr zu einem Optimisten mit Realitätssinn, also einem Possibilisten, zu werden?

RB: Ich denke, meine religiöse Erziehung hat etwas damit zu tun. Mein Vater ist ein protestantischer Pfarrer hier in den Niederlanden, aber er ist kein dogmatischer Mensch. Er sagt nicht: “Oh, Jesus ist am Kreuz für seine Sünden gestorben, und du solltest an dies und das glauben, und wenn du das nicht tust, kommst du in die Hölle.” Er ist nicht diese Art von Mann, aber von klein auf wurde ich mit dem Gefühl erzogen, dass es wichtige, große Fragen über das Leben gibt und dass manchmal das, was wir glauben, auch wahr werden kann, weil wir es glauben, das, was Soziologen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung nennen. Als ich etwa 18 oder 19 Jahre alt war, war ich sehr besessen von der Frage, ob ich an Gott glauben soll, ja oder nein? Und damals las ich diese sogenannten „neuen Atheisten“, Leute wie Christopher Hitchens und Richard Dawkins, der Biologe, die alle darüber sprachen, dass Religion so etwas Schlechtes sei und dass sie unsere Gesellschaft vergiftet und ich war damals sehr angetan davon. Aber als ich älter wurde, interessierte ich mich mehr, nicht nur für die Frage „Was ist Wahrheit?“ – Sie wissen schon, „ist dies eine Tatsache? Existiert Gott? Gibt es ein Leben nach dem Tod?“, sondern auch, welche Auswirkungen es hätte, wenn wir an dieses oder jenes glauben würden. Die performative Kraft von Ideen. Das ist etwas, das man besonders bei Theorien über die menschliche Natur sieht. Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen egoistisch sind, dann werden wir eine Gesellschaft schaffen, in der die Menschen sehr egoistisch sein werden, weil wir alles darum herum entwerfen. Wir werden Schulen und Demokratien und sogar Gefängnisse schaffen, die das Schlimmste in den Menschen hervorrufen werden. Wenn man das nun umdreht, wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen tief im Inneren recht anständig sind und dass es etwas gibt, das man zum Beispiel „survival of the friendliest“ nennt, dann könnte das tatsächlich wahr werden, wenn man es annimmt. Ich bin an beiden Seiten interessiert, wie man die Wahrheit und Ideen betrachten kann. Auf der einen Seite ist mein Buch eine Art Überblick über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir über die menschliche Natur haben und über die sich verändernde Wissenschaft, die wirklich in die Richtung weist, dass wir nicht so schlecht sind, wie wir dachten. Aber es geht auch darum, was passieren kann, wenn wir es tatsächlich glauben und dass es sogar noch wahrer werden könnte, sobald wir diese Idee umsetzen. Ich denke, dass dieser Ansatz etwas mit meiner religiösen Erziehung zu tun haben könnte.  

MB: Sie sagen also, Ihr Buch sei eine Art Analyse des Bildes, das wir bisher von der Menschheit gezeichnet haben. Etwas, das ich beim Lesen Ihres Buches „Im Grunde gut“ sehr interessant fand, ist, dass es keineswegs nur von dem Guten im Menschen handelt. Ein sehr großer Teil erzählt sogar von dem Gegenteil: Von Gewalt, Kriegen, Massenmorden. Und mir scheint, als gäbe es weitaus mehr Hinweise auf die Grausamkeit von Menschen, als Zeugnisse des Guten in uns, oder täuscht mich meine Wahrnehmung?

RB: Nun, das ist natürlich die Ironie! Wenn man ein Buch über den menschlichen Anstand schreibt, muss man sich zunächst hunderte von Seiten mit all den Gräueltaten in der breiten Geschichte befassen. Es gibt natürlich eine gewisse Voreingenommenheit bei der Auswahl. Ich meine, Historiker sind hauptsächlich an Kriegen interessiert, wissen Sie, manchmal scheint es, als ob das Studium der Geschichte das Studium von Krieg, Krieg, Krieg und noch mehr Krieg ist und wenn es keinen Krieg gibt, nennen wir es das “Interbellum” – die Zeit zwischen den Kriegen. Es ist ein bisschen wie mit den Nachrichten. In den Nachrichten geht es meist um die Ausnahmen, um Dinge, die schief laufen. Korruption, Krisen, Terrorismus et cetera. Wenn man also die Nachrichten verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, die meisten Menschen seien egoistisch und die Regierungen korrupt. Dafür gibt es sogar einen Begriff. Psychologen sprechen vom „Böse-Welt-Syndrom“, bei dem man, weil man viel Nachrichten sieht, das Gefühl bekommt, dass die Menschen schlecht seien und man wird immer ängstlicher und depressiver. Die Nachrichten sind wirklich eine Gefahr für die psychische Gesundheit. Und manchmal sehe ich einen ähnlichen Mechanismus in der Geschichte. Es ist so, dass die Leute oft depressiv werden, weil sie Geschichte studieren und nicht merken, dass sie sich auf einen sehr kleinen Teil von allem konzentrieren, was in den letzten 300.000 Jahren passiert ist. Also, ja, ich versuche, ein bisschen heraus zu zoomen. Aber Sie haben absolut Recht, ich muss mich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir nicht nur eine der kooperativsten Spezies im Tierreich sind, sondern auch ganz klar die grausamste Spezies. Wir tun furchtbare Dinge. Krieg, Völkermord, “ethnische Säuberung” – Dinge, die allen Tieren nicht im Traum einfallen würden. Ich habe noch nie von einem Pinguin gehört, der sagt: „Lasst uns eine Gruppe von Pinguinen einsperren, lasst sie uns alle ausrotten!”. Das ist eine sehr menschliche Sache. Wie ich schon sagte,es ist eine der Ironien, wenn man ein Buch über menschlichen Anstand schreibt, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Und ich habe keine einfache Erklärung, ich habe eine sehr vielschichtige Erklärung. Was ich versuche zu zeigen, ist, dass die Erklärung, die so lange gegeben wurde, dass Menschen so etwas einfach tun, weil sie schlecht sind, weil wir uns so entwickelt haben, dass wir egoistisch sind – dass das eindeutig falsch ist. Tatsächlich tun wir sehr oft furchtbare Dinge im Namen des Guten. Weil wir denken, dass wir eigentlich anderen Menschen oder zumindest den eigenen Leuten helfen. Wir begehen Gräueltaten oder beteiligen uns an Kriegen im Namen der Loyalität, im Namen der Kameradschaft und Freundschaft – das ist wirklich eine sehr dunkle Seite der menschlichen Natur. 

MB: Über die Natur des Menschen, die Sie auch ansprechen, wird ja bereits seit vielen Jahren diskutiert. Ein Zitat in diesem Zusammenhang, das vielen bekannt sein dürfte, lautet „homo homini lupus“. Also, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, des Philosophen Thomas Hobbes, über den Sie auch in Ihrem Buch schreiben. Er ging davon aus, dass die Menschen im Naturzustand im Grunde wie wilde Tiere sind, die sich gegenseitig bekämpfen und nur ein starker Staat in Form eines Königs, den Hobbes “Leviathan” tauft, Frieden unter die Menschen bringen kann. Warum überzeugt Sie Hobbes Bild des menschlichen Naturzustands nicht?

RB: Nun, lassen Sie uns zunächst etwas über die Wölfe sagen, denn Wölfe sind eigentlich sehr kooperative Wesen. Sie sind wirklich gut darin, zusammenzuarbeiten und sich umeinander zu kümmern. Daher dachte ich immer, es sei ironisch, dass Wölfe als diese egoistischen Bestien gesehen werden, die nur töten und morden wollen – die meisten Biologen würden dem widersprechen. Nun, diese Ansicht, dass Menschen tief im Inneren nur egoistisch sind oder noch schlimmer, dass wir tief im Inneren Bestien sind – geht in der westlichen Kultur sehr weit zurück. Es gibt einen Primatenforscher namens Frans de Waal, der das als „Fassaden-Theorie“ bezeichnet, also die Vorstellung, dass unsere Zivilisation nur eine dünne Fassade ist, eine dünne Schicht, und dass darunter die rohe menschliche Natur liegt. Dass, wenn man das “zivilisierte Leben” entfernt, es einen Bürgerkrieg oder eine Naturkatastrophe gibt und die Institutionen zusammenbrechen. Dass Menschen dann zeigen, wer sie wirklich sind, dass wir tief im Inneren nur Bestien und egoistisch sind. Dass sie beginnen zu plündern und zu brandschatzen und sehr gewalttätig werden. Diese Idee kommt immer und immer wieder zurück. Und ich glaube, eines der wichtigsten Beispiele dafür war in der Tat der Philosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert das Buch geschrieben Leviathan geschrieben hat,  in dem er argumentiert, dass wir im Naturzustand, in der Zeit, als wir noch Nomaden waren, einen so genannten „Krieg aller gegen alle“ geführt haben und das Leben damals „fies, brutal und kurz“ gewesen sein soll. Und davor wurden wir laut Hobbes bewahrt, weil wir irgendwann sozusagen einen Leviathan gewählt haben, einen allmächtigen Herrscher, benannt nach einem biblischen Seeungeheuer. Ich denke, die Idee hier ist, dass wir wählen müssen. Dass wir zwischen Freiheit und Sicherheit wählen müssen und dass wir nicht beides haben können. Wenn man also Freiheit hat, sind die Ergebnisse schrecklich, denn wenn man den Menschen Freiheit gibt, benehmen sie sich daneben, sie zeigen, wer sie “wirklich” sind. Was es demnach braucht, ist, seine Freiheit aufzugeben, und dafür bekommt man Sicherheit. Das ist sozusagen das klassische Hobbessche Argument. Man sagt, wir brauchen Hierarchien, Manager, CEOs, Prinzen, Prinzessinnen, Könige und Königinnen, weil sie die Bevölkerung kontrollieren. Denn wenn es keine Kontrolle gibt, dann gibt es Anarchie, was angeblich schrecklich ist. Denn dann geschehen all diese Gräueltaten. Also ja, man könnte mein Buch quasi als ein großes Argument gegen die “Fassadentheorie” zusammenfassen.

MB: Überrascht es Sie dann, dass jetzt, während der Corona-Krise, viel über die Möglichkeit von Home-Office gesprochen wird und einige Unternehmen gerade jetzt erkennen, dass sie ihren Mitarbeitern mehr Freiheiten zumuten können, als sie dachten? Überrascht Sie das?

RB: Nun, es gibt hier offensichtlich eine Spannung, denn es geht in beide Richtungen. In den ersten Wochen der Pandemie kam die Fassadentheorie wieder auf, als alle über Leute sprachen, die Toilettenpapier hamstern und die Leute darüber nachdachten, wie lange wir wohl in der Lage wären, das zu tun. Ich habe ziemlich viele Artikel gelesen, die sagten „nur ein paar Monate Pandemie und die Zivilgesellschaft bricht zusammen“, es ist übrigens lustig, diese Artikel jetzt wieder zu lesen. Aber in der Tat, ich denke, für viele Arbeitgeber*innen war es vielleicht ein bisschen überraschend, dass man seine Mitarbeiter*innen zu Hause lassen kann und sie tatsächlich weiterarbeiten. Eigentlich war das Problem in vielen Fällen sogar eher, dass die Menschen zu viel arbeiten, wenn sie dies von zu Hause aus tun, weil der Unterschied zwischen Ihrem Arbeitsleben und Ihrem Privatleben verschwindet. Grundsätzlich, denke ich, ist es aber ein gutes Zeichen. Es gibt eine Verschiebung in der Management-Philosophie, weg von der Idee, dass man seine Mitarbeiter*innen kontrollieren und ihnen ständig Anweisungen geben muss und dass sie, wenn man nicht da ist, nichts tun. Es gibt inzwischen viele Beispiele von Unternehmen rund um den Globus, die ihren Mitarbeiter*innen viel mehr Freiheiten lassen und die sich mehr auf das verlassen, was Psycholog*innen „intrinsische Motivation“ nennen. Dass man etwas nicht nur wegen des Geldes oder des Status tun will, sondern weil es einem wichtig ist. Weil Sie neugierig sind, weil Sie etwas beitragen wollen, weil Sie anderen Menschen helfen wollen. Einfach für das Wohl der Sache selbst. Nun ist natürlich die Frage, wie bedeutsam diese Bewegung ist, und manchmal sind so etwas wie selbstgesteuerte Teams oder dass man den Leuten die Möglichkeit gibt, von zu Hause aus zu arbeiten, nicht so bedeutsam, weil man den Leuten im Grunde mehr Freiheit gibt, sich zu Tode zu arbeiten. Ich muss hier also ein bisschen kritisch sein, aber es ist ein interessantes Phänomen. 

MB: Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1762) lässt sich gewissermaßen als die Antithese zu Hobbes beschreiben. Für ihn war es gerade der Staat, die Kultur, die Sozialisierung, die den Menschen verdirbt. Nur seine eigentlich Natur, die hinter der Maske verborgen ist, sei Rousseau zufolge gut. Aber, ist es nicht gerade der gesellschaftliche Wohlstand, der auch dazu geführt hat, dass wir Menschen heute friedlicher miteinander umgehen und uns nicht permanent niedermetzeln? 

RB: Nun, zum einen haben Sie absolut Recht, dass wir im Moment in der friedlichsten aller Zeiten leben und wahrscheinlich hat der Wohlstand viel damit zu tun. Wir haben ein unglaubliches Wirtschaftswachstum und eine verbesserte Gesundheit rund um den Globus erlebt, und das macht es viel einfacher, friedlich zu sein. Es ist jedoch interessant, dass, wenn wir zur Hobbesschen Weltsicht zurückgehen, dass wir im Naturzustand, damals, als wir nomadische Völker waren, diese unglaublich gewalttätigen Leben führten und uns in einem “Krieg aller gegen alle” befanden. Tatsächlich ist das, was Archäologen jetzt denken, das Gegenteil. Sie haben in zahlreichen Studien bewiesen, dass der Krieg eine relativ neue “Erfindung” der letzten 10.000 Jahre ist und dass wir während des größten Teils der Menschheitsgeschichte, als wir als nomadische Völker den Globus durchstreiften, nicht wirklich in Gruppengewalt verwickelt waren. Natürlich gab es auch dann bereits Aggression und diese Dinge, wie man kann sie bei Tieren sehen kann. Gewalt ist also keine neue Erfindung, aber die Gräueltaten, die Gruppengewalt, der Völkermord usw. scheinen wirklich recht neue Phänomene zu sein. Wenn ich mir also die Geschichte des Krieges oder die Geschichte der menschlichen Gewalt anschaue, dann sehe ich etwas anderes als viele andere, denke ich. Für eine sehr lange Zeit haben wir die Geschichte dieses Marsches des Fortschritts gemalt, bei dem wir als Wilde anfingen, aber dann wurden wir allmählich zivilisierter. Zuerst wurden wir sesshaft, dann erfanden wir die Landwirtschaft, dann zogen wir in die Städte, dann erfanden wir das Rad. Jeder Schritt war ein Mäuseschritt der Zivilisation, den wir feiern können. Ich denke, dass die Geschichte der Zivilisation eigentlich so ziemlich das Gegenteil davon ist, wo der größte Teil der Geschichte oder der Zivilisation eigentlich eine totale Katastrophe war. Über Jahrtausende hinweg hatten wir ein relativ friedliches Leben. Wir wissen, dass wir als Nomaden relativ friedlich waren, wenn Sie zum Beispiel zeitgenössische Nomadenvölker studieren. Und auch wenn man sich die archäologischen Aufzeichnungen ansieht, gibt es sehr wenig oder so gut wie keine Beweise für Gruppengewalt zum Beispiel. Wir wissen auch, dass diese Gesellschaften ziemlich egalitär waren, ziemlich gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern, man kann sie sogar proto-feministisch nennen. Die Menschen waren relativ gesund. Sie hatten zum Beispiel keine Infektionskrankheiten wie die Pest, Masern und COVID-19, denn diese Infektionskrankheiten sind das Produkt von Menschen, die zu nahe an Tieren leben, oft an domestizierten Tieren. Irgendwann wurden die Menschen sesshaft und sie erfanden die Landwirtschaft, was zum Beispiel der Geograf Jared Diamond als „den schlimmsten Fehler der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet hat. Die Folgen davon waren einfach schrecklich. Die Lebenserwartung sank, das Gebiet der Kriegsführung wurde eingeweiht, die Menschen wurden viel kränklicher. Es gab viel mehr Hierarchie, der Bereich des Proto-Feminismus ging zu Ende, und man bekam all diese Infektionskrankheiten. Die meisten dieser Infektionskrankheiten sind relativ neu aus den letzten 10.000 Jahren entstanden. Das war der Zustand der Welt für etwa 10.000 Jahre. Wenn Sie die Möglichkeit hätten zu wählen, ob Sie als Nomade oder als zivilisierter Mensch leben wollen, dann ist es besser, das Nomadenleben zu wählen, denn offensichtlich haben wir zwar enorme Fortschritte gemacht, aber das ist erst seit kurzem der Fall. Global gesehen sind es erst die letzten paar Jahrzehnte. Aber noch vor zwei Jahrhunderten war fast jeder, global gesehen, von der gesamten Weltbevölkerung, der Sklave eines anderen. War ein Diener, war in irgendeiner Weise Untertan eines mächtigen Herrschers. Wenn man es aus historischer Perspektive betrachtet, ist das eigentlich noch gar nicht so lange her. 

MB: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist es weder die Vergesellschaftung, also das, was wir als modernen Fortschritt bezeichnen, noch ist es der Mensch an sich, den Sie als böse bezeichnen, sondern es gibt so etwas wie einen dritten Weg, in dem Sie das Bild des Menschen rekonstruieren möchten. Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt eine “ursprüngliche menschliche Natur”, die entweder gut oder böse ist, oder existiert eine Art dritte Möglichkeit?

RB: Ich denke, das ist tatsächlich eine sehr interessante und schwer zu beantwortende Frage. Sehr lange Zeit haben vor allem Denker auf der Linken gesagt, dass die menschliche Natur als solche nicht wirklich existiert. Dass wir eher eine Art unbeschriebenes Blatt sind. Dass alles von den Umständen und der Kultur und den Machtverhältnissen usw. abhängt und dass es sogar gefährlich sei, über die menschliche Natur zu sprechen. Ich denke, einer der Gründe dafür war, dass uns die evolutionäre Anthropologie vor allem in den 70er Jahren eine ziemlich düstere Botschaft darüber vermittelte, was „survival of the fittest“ bedeutete. Damals gab es ein Buch, „Das egoistische Gen“ von Richard Dawkins. Und ich schätze, dass viele Leute das auf eine ziemlich dunkle Weise interpretiert haben. Ich meine, Dawkins hat das selbst in einem der ersten Kapitel seines Buches gesagt, wo es heißt, dass wir den Menschen Großzügigkeit und Altruismus beibringen müssen, weil wir egoistisch geboren werden. Dann bekamen die Leute Angst, dass die evolutionäre Anthropologie benutzt werden könnte, um den Kapitalismus zu bekämpfen. Wo man sagen würde: „Nun, die Menschen sind einfach grundsätzlich egoistisch und so ist es nun mal. Lasst uns die Regierung aus dem Weg schaffen und einfach die Herrschaft der Märkte einführen“. Deshalb hielt man es wohl lange Zeit für verdächtig, über die menschliche Natur zu sprechen. Aber das hat sich geändert. Es hat eine massive Verschiebung in der evolutionären Anthropologie und Biologie gegeben, wo jetzt Biologen argumentieren, dass das, was den Menschen besonders macht, nicht ist, dass wir so klug sind, oder, dass wir so mächtig oder stark sind. Nein, es ist, dass wir freundlich sind. Sie sprechen sogar vom „survival of the friendliest“. Es gibt starke Beweise, die zeigen, dass seit Jahrtausenden tatsächlich die Freundlichsten unter uns, die meisten Kinder hatten und damit die größte Chance, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Und dass dies uns zu einer Fähigkeit der Kooperation befähigt hat, die kein anderes Tier hat. Das lässt immer noch eine riesige Menge an Raum für Kultur. Man könnte sogar sagen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kulturell zu sein. Denn es liegt in der menschlichen Natur, voneinander zu lernen, einander zu imitieren, miteinander zu kopieren, sich aber auch voneinander zu unterscheiden. Und genau das sieht man, wenn man Nomadenvölker rund um den Globus studiert. Auf der einen Seite sieht man auffallende Unterschiede in ihren Kulturen; die Art, wie sie die Welt sehen, die Art der Religionen, die sie haben, wie sie sich verhalten, die Beziehungen, das ist alles sehr unterschiedlich. Andererseits gibt es auch auffällige Gemeinsamkeiten. Es gibt zum Beispiel einen Anthropologen namens Christopher Böhm, der mehr als dreihundert Nomadenvölker rund um den Globus untersucht hat und herausgefunden hat, dass so ziemlich alle von ihnen ein politische System hatten, das sehr egalitär war. Er nennt es eine „umgekehrte Dominanzhierarchie“, bei der die Gruppe die Anführer sozusagen kontrolliert und es für die Anführer absolut wichtig ist, so bescheiden wie möglich zu sein, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir heute in vielen Ländern erleben. Also, es ist eine komplexe Frage. Ich denke, es gibt so etwas wie die menschliche Natur. Es liegt in der menschlichen Natur, neugierig zu sein, sich nach Verbindung zu sehnen, dass wir nicht einsam sein wollen, dass wir Teil einer größeren Gruppe sein wollen. Das sind alles Dinge, die in uns stecken, von einem sehr frühen Alter an. Aber das lässt dann immer noch sehr viel Raum für unterschiedliche menschliche Kulturen.

MB: Da bereits das Wort “Kapitalismus” fiel – was ich mich frage, ist, wie wirken sich die Institutionen, die wir in unserer heutigen Welt haben, mit der Zeit auf das Bild aus, das wir von uns selbst haben? Wenn ich an den homo oeconomicus denke – das Bild des Menschen als Eigennutzenmaximierer, dann hat das doch sicherlich Auswirkungen auf das, was wir über uns selbst und andere denken und wie wir miteinander und mit der Natur umgehen?! Als Antithese dazu etablieren Sie den Begriff „homo puppy“, der ziemlich niedlich und domestiziert klingt – was wollen Sie mit diesem Wort ausdrücken? Ist der “homo puppy” das Gegenteil vom homo oeconomicus?

RB: Auf jeden Fall. Wenn man sich die Geschichte dieses Konzepts, des homo oeconomicus, ansieht, ist es wirklich interessant. Es ist eigentlich eine Theorie, die aus den Wirtschaftswissenschaften stammt, die aber lange Zeit nicht empirisch nachgewiesen wurde. Also bauten die Ökonomen eine ganze Kathedrale von Theorien auf, und sie hatten alle möglichen politischen Rezepte, die auf dieser Theorie basierten, wie die Menschen wirklich seien. Wir haben viele Gesetze, die heute noch in Kraft sind, die im Grunde alle auf dieser Sicht der menschlichen Natur beruhen. Erst im Jahr 2000 hat ein Anthropologe, Joseph Hendrik, er ist wirklich einer der größten Anthropologen unserer Zeit, diese faszinierende Studie gemacht, in der er anfing, eine Art kognitiver Tests mit Menschen aus der ganzen Welt durchzuführen, mit Bauern, Nomadenvölkern, Menschen, die in reichen Städten lebten, und er versuchte zu sehen, ob sich die Menschen nach dem Standardmodell des homo oeconomicus verhalten, das heißt – ob sie egoistisch genug sind. Und das Lustige ist, dass er nirgendwo auf der Welt Menschen finden konnte, die sich so verhielten, wie die Ökonomen sagten, dass wir uns verhalten sollten, gemäß ihren Modellen und Theorien. Er schien nicht wirklich zu existieren. Lustigerweise gelang es ihm ein paar Jahre später, den homo oeconomicus zu finden, aber es stellte sich heraus, dass es sich um eine andere Spezies handelte – Schimpansen verhalten sich meist nach den Modellen der Ökonomen, aber nicht wir Menschen. Das ist ziemlich lustig. Er machte die Bemerkung, dass die ganze theoretische Arbeit nicht umsonst war, wir haben sie nur auf die falsche Spezies angewendet. Aber offensichtlich ist die Tragödie hier, dass wir seit Jahrzehnten einer Theorie der menschlichen Natur verhaftet sind, die einfach falsch ist. In der Tat sollten wir zu einer anderen, realistischeren, genaueren, wissenschaftlicheren Sichtweise dessen, was wir sind, übergehen. Und wie Sie bereits erwähnt haben, ist eine der aufregendsten neuen Theorien hier die Theorie der “Selbstzähmung”. Diese Vorstellung, dass wir uns als Spezies selbst domestiziert haben, dass wir uns gewissermaßen selbst verdorben haben, dass wir im Vergleich zu unseren hominiden Vorfahren die Welpen sind. Was Wölfe für Hunde sind, das sind wir im Vergleich zu den Neandertalern. Wir sind einfach diese Wesen, die sich wirklich nach Verbundenheit und Freundschaft sehnen und zusammenarbeiten wollen und das ist nicht unsere Schwäche, es ist unsere Superkraft. Denn es ermöglicht uns eine Fähigkeit zur Kooperation, die keine andere Spezies im Tierreich hat. 

MB: Denken Sie nicht, dass vielleicht der Wohlstand, der auch mit dem Kapitalismus kam, natürlich nicht nur Wohlstand, aber denken Sie nicht, dass dieser Prozess auch dazu geführt hat, dass wir heute domestizierter sind und vielleicht mehr einem homo puppy, als ein homo oeconomicus ähneln?

RB: Offensichtlich ist der Kapitalismus ein sehr junges Phänomen. Zumindest der moderne Kapitalismus, so wie wir ihn jetzt haben, also nach der industriellen Revolution, ist eine Sache, die wir erst seit zwei Jahrhunderten haben. Der war offensichtlich nicht in der Lage, die menschliche Natur zu verändern, weil Evolution nicht so schnell passiert. Evolution kann ziemlich schnell passieren, Sie können zum Beispiel Veränderungen im menschlichen Genom sehen, das dauert nur ein paar Jahrtausende, aber zweihundert Jahre sind wirklich nichts. Wie sollten wir das betrachten? Es ist sehr seltsam. Auf der einen Seite haben wir diesen unglaublichen Fortschritt gemacht, wie ich schon sagte. Wir sind reicher, wir sind wohlhabender, wir sind gesünder als je zuvor. Ich meine, wir sind im Moment sehr besorgt über diese Pandemie, aber noch einmal, aus historischer Sicht ist es erstaunlich, dass die Wissenschaftler*innen so schnell mit mehreren Impfstoffen aufwarten konnten. Impfstoffe sind übrigens wahrscheinlich die großartigste Erfindung in der gesamten Menschheitsgeschichte, denn unter Pandemien leiden wir schon seit Jahrtausenden. Wir haben alle von der Pest gehört, sie hat im Mittelalter ein Drittel der Bevölkerung in Europa getötet. Und jetzt, in nur einem Jahr, können wir mehrere Impfstoffe entwickeln. Die Frage ist allerdings, wie nachhaltig dieser Fortschritt wirklich ist. Tanzen wir auf dem Gipfel eines Vulkans? Das ist die eigentliche Frage, denn wir wissen auch, was mit dem Klima passiert, und wir wissen, was mit den Arten passiert, dass wir uns in einem Aussterbeprozess befinden. Es ist also im Grunde das größte “Glücksspiel” der Menschheitsgeschichte – das ist die Zivilisation, und es ist einfach zu früh, um das zu sagen. Wir wissen noch nicht, ob es eine gute Idee war. Vielleicht hätten wir im Zustand der nomadischen Völker bleiben sollen. Schließlich überleben sie seit Hunderttausenden von Jahren durch Jagen und Sammeln. Den Homo Erectus gab es schon vor einer Million Jahren. Vielleicht haben wir nur ein Experiment gestartet und sind in hundert Jahren weg, oder in zwei Jahrhunderten. Und dann, wenn man heraus zoomt, war es offensichtlich der schlimmste Fehler in der gesamten Menschheitsgeschichte.  

MB: Was ich mich frage, ist auch, dass Sie in Ihrem Buch schreiben, dass die Distanz zu einer größeren Bereitschaft führt, skrupellos zu sein. Wie in Kriegen, wenn wir Bomben aus der Ferne schießen. Würden Sie sagen, dass die Globalisierung dazu geführt hat, dass wir eher bereit sind, Menschen auszubeuten? Zum Beispiel diejenigen, die im globalen Süden leben. Und ein anderes Beispiel wäre, dass wir uns als Menschen von der Natur entfernt haben, uns nicht mehr als Teil von ihr sehen und deshalb bereit sind, sie schamlos auszubeuten. Das wäre eine These. Was denken Sie darüber?

RB: Die Globalisierung ist natürlich ein mehrseitiges Phänomen. Man könnte auch argumentieren, dass sie die Distanz zwischen den Menschen verringert hat. Gerade jetzt passiert etwas Schreckliches im Libanon, und wir alle hören sofort in den Nachrichten davon. Das ermöglicht uns, mehr Empathie für Menschen zu empfinden, die viel weiter von uns entfernt sind. Aber auf der anderen Seite stimme ich absolut zu, dass, wenn man sich zum Beispiel den globalen Markt anschaut, diese neoliberale Form der Globalisierung es uns wirklich ermöglicht hat, ziemlich schreckliche Dinge zu tun, ohne dass wir uns deswegen schlecht fühlen. Wir tragen also Kleidung, die oft auf ganz kriminelle Weise produziert wird. Wo Kinderarbeit involviert ist oder noch Schlimmeres. Ich denke, das gilt auch besonders, wenn wir uns anschauen, wie wir mit Tieren umgehen. Die wenigsten Menschen würden noch Fleisch essen wollen, wenn sie ein Video von dem Tier sehen müssten, das sie essen. Sie könnten es einfach nicht tun, aber wir haben sozusagen ein System geschaffen, bei dem man nicht mehr darüber nachdenken muss. Man sieht das Tier nicht mehr wirklich. Es gibt einige Leute wie Yuval Noah Harari zum Beispiel, der argumentiert, dass die globale Fleischindustrie das größte Verbrechen in der modernen Menschheitsgeschichte ist. Und ich denke, dafür kann man wirklich gute Argumente anführen, denn wenn man nur an das unglaubliche Ausmaß an Leid denkt und wenn man auch an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kognition von Tieren denkt, dass sie viel klüger und viel raffinierter sind, als wir lange Zeit dachten. Es ist wirklich schrecklich, sich das vorzustellen, allein das Ausmaß des Verbrechens.

MB: Wäre die Lösung dann nicht mehr Empathie? Wenn wir uns besser in die Lage anderer Menschen versetzen könnten? Würde das nicht zu einem friedlicheren Miteinander führen, das sich letztlich auch positiv auf unser Menschenbild auswirken könnte?

RB: Die Schwierigkeit ist, dass Empathie eine so begrenzte Emotion oder eine begrenzte Fähigkeit des Menschen ist. Auch hier sind also Tiere ein gutes Beispiel. Eine Menge Leute lieben ihre Haustiere. Menschen, die Haustiere haben, lieben ihre Haustiere. Sie würden es schrecklich finden, wenn ihr Hund oder ihre Katze so eingesperrt würde, wie wir unsere Kühe einsperren und gequält, misshandelt und ermordet werden. Sie würden das schrecklich finden. Aber sie haben kein Problem damit, Kühe zu essen, die auf diese Weise behandelt wurden. Ich denke, das zeigt, dass Empathie wie ein Scheinwerfer funktioniert, wie ein Suchscheinwerfer. Man konzentriert sich einfach auf die Dinge, die einem nahe sind, die einen emotional erregen. Was wir tatsächlich brauchen, ist vielleicht eine rationalere oder distanziertere Haltung, bei der wir heraus zoomen und uns nicht nur von unseren Emotionen leiten lassen, von dem, was wir für diejenigen empfinden, die uns nahe stehen – unsere Haustiere, unsere Freunde, unsere Mitarbeiter*innen, Nachbarn, sondern wir erkennen tatsächlich, dass die gesamte Menschheit unser Mitgefühl verdient.

MB: Halten Sie das für realistisch? Ich meine, ist das mit unserer Psychologie der menschlichen Natur möglich?

RB: Ich will hier ehrlich sein. Es ist schwer. Und in gewisser Weise geht es gegen die menschliche Natur. Auf der einen Seite haben wir uns entwickelt, um freundlich zu sein, kooperativ zu sein, zusammenzuarbeiten, aber die dunkle Seite der menschlichen Natur ist offensichtlich unsere Tendenz zum “Stammesdenken”. Wir neigen dazu, in einer Gruppe gegen eine andere Gruppe zu denken, und weil man zu dieser Gruppe gehört, mag man die andere Gruppe nicht. Das kann man schon bei Babys sehen, ab dem Alter von einem Jahr. Es gibt verschiedene psychologische Studien, die zeigen, dass es wirklich etwas tief in der menschlichen Natur liegt. Wir haben fremdenfeindliche Tendenzen, ganz tief in uns. Das ist nicht unvermeidlich. Es gibt Möglichkeiten, das zu umgehen. Kontakt hilft wirklich, mehr Vielfalt im Leben, wenn Sie mehr kulturelle Vielfalt in Ihren Institutionen oder Schulen haben, dann gewöhnen sich Menschen an Unterschiede. Sie werden viel weniger fremdenfeindlich. Und, wenn man sich die Geschichte anschaut, haben wir es geschafft, einige Fortschritte zu machen, ob wir nun über die Emanzipation der Sklaven sprechen oder auch über die Art und Weise, wie wir über Tiere sprechen. Es gibt einen Philosophen, Peter Singer, der das den „effective altruism“ nennt – es geht darum, dass wir im Laufe der Menschheitsgeschichte einen neuen Kreis geschaffen haben. Zuerst haben wir uns hauptsächlich um unseren eigenen Stamm gekümmert, dann haben wir uns auf die Stadt ausgeweitet und dann auf einen Nationalstaat, und jetzt haben wir Kollektive von Nationalstaaten, die zusammenarbeiten, wie die EU usw. Jetzt ist der nächste Schritt die Ausweitung auf alle Lebewesen. Also, ja, Fortschritt ist möglich, aber wie ich am Anfang unseres Gesprächs sagte, er ist nicht dauerhaft und er ist nicht unvermeidlich, er ist etwas, das immer erneuert und aufrechterhalten werden muss.

MB: Was, glauben Sie, braucht es dazu? Was brauchen Menschen und Gesellschaften, um diesen Paradigmenwechsel, diesen „Sinneswandel“ voranzutreiben? Um einen Nährboden zu schaffen, auf dem er gedeihen kann?

RB: Offensichtlich braucht man eine ganze Reihe von Dingen. Man braucht Hoffnung, man braucht den Glauben, dass die Dinge tatsächlich anders sein können. Man braucht auch die Bereitschaft, sich gegen den Status quo zu stellen. Das ist wirklich interessant. In der zweiten Hälfte meines Buches spreche ich über all jene Menschen, die versuchen, diese neue Sicht der menschlichen Natur umzusetzen. In den Schulen, in der Art und Weise, wie wir Demokratie machen, oder am Arbeitsplatz – sie wollen mit einer anderen Sichtweise beginnen, wer wir als Spezies sind. Das Interessante dabei ist, dass die Menschen, die das tun, oft ein bisschen “anders” sind. Sie haben den Mut, sich unbeliebt zu machen. Ich fand es ironisch, dass diese Leute, die diese „homo puppy“-Sicht der Natur umsetzen, selbst keine wirklichen „homo puppies“ sind. Nachdem ich mit dem Schreiben von „Im Grunde gut“ fertig war, habe ich vor allem über den Widerstand während des Zweiten Weltkriegs gelesen und recherchiert. Wie Sie wissen, wurde ein großer Prozentsatz der Juden, auch in den Niederlanden, verschleppt und ermordet, wobei viele Niederländer mitschuldig waren und mit den Nazis zusammenarbeiteten. So begann ich mich wirklich für die Frage zu interessieren: „Wer sind die Menschen, die Widerstand leisteten; was ist ihr psychologisches Profil; was unterscheidet sie vom Rest von uns?“. Lassen Sie mich eine Geschichte über einen Mann namens Arnold Douwes erzählen, der eine der wichtigsten Figuren im niederländischen Widerstand war. Er rettete etwa 300-350 Juden, darunter 100 Kinder, unter großer Gefahr für sein eigenes Leben. Wenn man sich seine Biografie anschaut, sieht man einen Mann, der im Grunde ein schreckliches Leben bis zum Zweiten Weltkrieg führte. Er passte nicht in die Gesellschaft. Niemand mochte ihn, er hat sich mit allen geprügelt. Er beendete seine Schule nicht, er wurde rausgeschmissen, dann zog er für 10 Jahre in die USA, dann wurde er als radikaler Kommunist wieder rausgeschmissen und dann begann der Krieg, und es war die “beste Zeit seines Lebens”. Er baute ein riesige Untergrund Netzwerk auf und half eine Menge Juden zu retten. Hauptsächlich, indem er viele andere Leute schikanierte und sagte: „Du musst diesen Juden mitnehmen, du musst diesen Juden verstecken und wenn du es nicht tust, bist du kein richtiger Christ“. Er hat die Leute immer sehr unangenehm berührt. Dann war der Krieg zu Ende und sein Leben war wieder eine Katastrophe. Er zog nach Südafrika, lebte dort für ein paar Jahre, zog in nur 9 Jahren ungefähr 15 Mal um und endete in Streitereien mit jedem. Im Grunde starb er als verbitterter, wütender Mann. Das war sein Leben und das fasziniert mich, dass ein Mensch, der „in normalen Zeiten nicht funktioniert“, in extremen Zeiten zum “Held” wird. Was lehrt uns das über Mut? Manchmal brauchen wir den Mut, unbeliebt zu sein, und das geht eigentlich gegen unsere menschliche Natur, denn wir alle wollen gemocht werden. Das ist die menschliche Natur, wir wollen Teil einer Gruppe sein. Wir hassen es, einsam zu sein, wir finden das sehr bedrohlich. Aber manchmal ist es genau das, was wir tun müssen. Und wenn es stimmt, dass wir uns jetzt auf einen Klimakollaps zu bewegen, dass unsere Demokratie bedroht ist, dann müssen wir vielleicht ein bisschen mehr wie dieser Typ sein, der Arnold Douwes heißt. Vielleicht nur 5 % mehr Mut, unbeliebt zu sein und gegen unser sehr menschliches Bedürfnis, gemocht zu werden, anzugehen. 

MB: Was hilft Ihnen, den Mut zu haben, unbeliebt zu sein? Ich meine, ich vermute, dass nicht jeder Ihr Buch gut heißt?

RB: Ich weiß nicht wirklich, ob ich ein gutes Beispiel dafür bin. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin ein bisschen misstrauisch, denn eigentlich läuft mein Buch relativ gut, das ist vielleicht kein gutes Zeichen. Es ist einfacher, etwas zu tun, wenn die Leute sagen: „Na ja, es ist toll, was du da machst“, oder?

MB: Was ich meinte, war nicht, dass es Leute gibt, die Ihr Buch nicht mögen – aber meine Vermutung wäre, dass es einige Leute gibt, die den Paradigmenwechsel nicht mögen, der vermutlich mit einer optimistischeren Sichtweise auf die Menschheit und einer egalitären Welt einhergehen würde.

RB: Das ist absolut richtig. Eine hoffnungsvollere Sicht der menschlichen Natur ist für die Machthaber geradezu bedrohlich, denn sie bedeutet, dass wir wahrscheinlich ohne sie auskommen könnten. Und dass wir zu einer egalitären Gesellschaft übergehen können. Das ist der Grund, warum im Laufe der Geschichte diejenigen, die an der Spitze standen, für Zynismus plädiert haben. Zynismus ist das größte Geschenk, das man den Reichen und Mächtigen machen kann. Denn wenn man ein Zyniker ist, wenn man den Menschen nicht trauen kann und wir tief im Inneren einfach egoistisch sind, dann brauchen wir sie. Dann brauchen wir die Könige, die Königinnen, die Monarchen und die Prinzen und die CEOs – sie müssen uns in Schach halten. Aber wenn wir uns tatsächlich gegenseitig vertrauen können, dann – Moment mal – brauchen wir sie vielleicht nicht. Vielleicht können wir eine Revolution starten und zu einer ganz anderen Art von Gesellschaft übergehen. Ich denke, das ist der Grund, warum diejenigen, die in der Geschichte für eine hoffnungsvollere Sicht der Natur eintraten, oft verfolgt wurden. Ich denke, die Anarchisten sind hier das beste Beispiel, weil sie wirklich diese klassische Weltsicht haben, wo sie sagen, die meisten Menschen sind ziemlich anständig, aber Macht korrumpiert, denken Sie an den Anarchisten Peter Kropotkin, den russischen Prinzen, der zum Anarchisten wurde. Er wurde vom russischen Geheimdienst rund um den Globus verfolgt. Er war im Gefängnis, weil er dachte. Denn diese mächtigen Leute wissen genau, was auf dem Spiel steht. Wenn die Menschen anfangen, einander zu sehr zu vertrauen, könnte das bedeuten, dass ihre Macht bedroht ist.

MB: Ich möchte zum Schluss noch einen Absatz aus Ihrem Buch zitieren, den ich sehr interessant finde. Sie schreiben: An unsere Verdorbenheit zu glauben ist auf seltsame Weise beruhigend. Eigentlich werden wir dadurch freigesprochen. Wenn die meisten Menschen böse sind, haben Widerstand und Engagement nicht viel Sinn. […] Wer dagegen behauptet, dass der Mensch im Grunde gut ist, muss viel intensiver darüber nachdenken, warum das Böse besteht. Und er muss selbst initiativ werden, denn dann ergeben Widerstand und Engagement durchaus Sinn. Glauben Sie, dass wir mit einem von grund auf optimistischen Bild des Menschen auch Herausforderungen, wie den Klimawandel oder die Corona-Pandemie besser bewältigen könnten?

RB: Es ist nicht genug. Aber es ist eine absolute Voraussetzung, denn wie sollen wir jemals den Klimawandel lösen, wenn wir nicht wirklich aneinander glauben? In meinem Buch erzähle ich die Geschichte der Osterinsel. Die Osterinsel wird schon lange als Warnung für unsere moderne Zivilisation gesehen. Denn hier haben Sie den abgelegensten Ort der ganzen Welt, an dem die Menschen seit hunderten von Jahren leben. Aber dann haben sie angefangen, all diese verrückten Statuen zu bauen, aber um all diese Statuen zu bauen, mussten sie die Bäume fällen. Es gab eine massive Abholzung, sie konnten nicht mehr genug Nahrung produzieren, ein Bürgerkrieg brach aus, sie wurden Kannibalen und zerstörten ihre Gesellschaft. Das ist die Geschichte, die schon sehr lange über die Osterinsel erzählt wird. Und wird als Gleichnis für unsere Zukunft gesehen, dass uns dasselbe Schicksal droht. Was hier interessant ist, ist, dass Archäologen die Beweise der Osterinsel neu untersucht haben und tatsächlich etwas ganz anderes gefunden haben. Was sie gefunden haben, ist Resilienz. Dass es in der Tat eine Abholzung gab, wahrscheinlich wegen einer Rattenplage und nicht wegen der Statuen, aber dass sie danach innovativ waren. Sie entwickelten neue landwirtschaftliche Praktiken, die die Produktion von Nahrungsmitteln auf der Insel tatsächlich erhöhten. Diese Resilienz ist nicht unvermeidlich. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Aber es gibt hoffnungsvolle Anzeichen dafür. Einer der Gründe, hoffnungsvoll zu sein, ist ein Blick auf das, was in den letzten Jahren in Europa passiert ist. Vor nicht allzu langer Zeit war die Europäische Union ein ziemlich deprimierendes Projekt, damals, als vor allem Deutschland und „der kleine Sklave Niederlande“ auf die Griechen einprügelten. Es war eine unglaublich verrückte Zeit, in der wir sagten: „Ihr müsst für eure Schulden bezahlen, deshalb vergrößern wir die Armut in eurem eigenen Land“. Ich fand das sehr deprimierend und habe damals die Hoffnung auf das europäische Projekt verloren. Aber seitdem hat sich viel verändert. Wenn man sich die ehrgeizige Klimagerechtigkeitsbewegung um Greta Thunberg anschaut, dann hat das einen so großen politischen Effekt, dass ich denke, dass die Europäer*innen jetzt die Vorreiter*innen im Kampf gegen den Klimawandel sind. Und wir sind noch nicht annähernd so weit, aber wenn man sich den von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen “Green Deal” anschaut – er ist so viel ehrgeiziger. Ehrgeiziger als alles, was sich die Amerikaner ausgedacht haben. Die Amerikaner sind immer sehr gut darin, Reden zu halten, und wir (Deutsche und Niederländer) sind nicht sehr gut darin, Reden zu halten, aber wir sind viel besser darin, tatsächlich etwas zu tun. Deutschland hat mit der Energiewende wirklich das Lehrgeld der Welt bezahlt. Wenn Sie sich den enormen Rückgang der Solarenergie anschauen, haben wir das Deutschland zu verdanken. Wenn man sich die Windenergie anschaut – ohne Dänemark wäre das nicht passiert, sie waren jahrzehntelang ganz vorne dabei. Es gibt Gründe, hier hoffnungsvoll zu sein. Die gibt es wirklich. Und ich glaube auch, dass eine neue Generation heranwächst, die sehr viel fortschrittlicher, gebildeter und vielfältiger ist als die Generation vor ihr. Man könnte also argumentieren, dass Hoffnung der neue Zynismus ist. Oder: Zynismus ist out und Hoffnung ist in. Die Frage ist nur, ob es schnell genug geht. Denn wie Sie wissen – wir haben nicht mehr viel Zeit. Also müssen wir uns beeilen.

MB: Ich denke, das sind wirklich gute letzte Worte. 

26. Januar 2021

Leben, Improvisation(skunst)?

von Ricarda Manth 19. Januar 2021

Improvisation, von dem lateinischen Wort improvisus, bedeutet “unvorhergesehen” oder auch “ohne Vorbereitung”. Aber, bedeutet “ohne Vorbereitung”, dass eine gelungene Improvisation keiner bestimmten Voraussetzungen bedarf? Kann eine Improvisation misslingen? Wo begegnet uns Improvisation im Alltag und ist sie heute in eine Krise geraten, weil wir mehr Wert auf Rationalität, als auf Emotionalität legen? Zum Einen bedarf es großen Improvisationstalents, um die komplexen und diffusen Herausforderungen unserer Zeit, wie die Corona-Pandemie, erfolgreich meistern zu können. Zum Anderen, werden immer wieder Stimmen laut, die fordern, gerade in der Krise müsse Schluss sein mit Improvisation. Es erweckt den Anschein, als stünde das Improvisieren in Krisenzeiten “zwischen den Stühlen”. Sie ist Möglichkeit und Vorwurf zugleich. Improvisation finden wir natürlich auch in Kunst, Theater und Musik. Allein diese wenigen Sätze zeigen, wie vielseitig sie ist und genau aus diesem Grund, haben wir sie uns heute zum Gesprächsthema gemacht.

SHOWNOTES:

Diese Episode wurde mitfinanziert durch Naturata, die biologisch erzeugte und fair gehandelte Lebensmittel vertreiben. Auf naturata-shop.de erhaltet ihr bis zum 15.03.2021 mit dem Code „mehralsbio“ 20% Nachlass auf euren Einkauf, ab einem Bestellwert von 40€.

► Georg W. Bertram (2010): Improvisation und Normativität. In: Bormann, Hans-Friedrich (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxie des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis. Bielefeld.
► Christopher Dell (2002): Prinzip Improvisation.
► Nana Eger (2015): What works? Arbeitsprinzipien zum Gelingen kultureller Bildungsangebote an der Schnittstelle von Kunst und Schule.
► Karl A.S. Meyer (2006): Dissartation. Improvisation als flüchtige Kunst.
► Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald (2014): Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Schwerpunkt Jazz.
► Spiegel-Online: Genug Improvisiert. Ein Kommentar von Sebastian Fischer.
► Deutschlandfunk: Hartmut Rosa: „Inspiration braucht Irritation“.

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19. Januar 2021

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

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Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn die Episode euch gefallen hat, dann teilt sie doch gerne mit anderen. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder auf Steady unsere Arbeit unterstützt. Oder auch ganz einfach, indem ihr uns einen kleinen Obulus an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle weiteren Infos, wie auch weiterführende Literatur und Quellenhinweise, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

12. Januar 2021

2020: Reflexion einer Welt im Wandel

von Ricarda Manth 28. Dezember 2020

Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.

Shownotes:

► SRF: Sternstunde Philosophie: Annemarie Pieper: Die Wogen des Lebens.
► Wolfram Eilenberger in Deutschlandfunk Kultur: Die Kette(n) des Lebens.
► Hans Rusinek im Politischen Feuilleton von Deutschlandfunk Kultur: Wandel bewältigen. Mit Paul Cézanne neues Denken lernen.
► Sinneswandel Podcast: Maja Göpel: Brauchen wir ein neues Weltbild?.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu Denken. Hugendubel (02/2020).
► 3sat Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020.
► Sinneswandel Podcast: Rahel Jaeggi: Können wir uns selbst finden?.
► Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Suhrkamp (10/2020).
► Tristan Garcia: Das intensive Leben: Eine moderne Obsession. Suhrkamp (04/2017).
► Sinneswandel Podcast: Kübra Gümüsay: Wie beeinflusst Sprache unser Sein?.
► Tupoka Ogette: exit RACISM. Unrast Verlag (09/2020).
► Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Hanser Literaturverlage (09/2019).
► Rutger Bregman: Im Grunde gut. Rowohlt (03/2020).

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Transkript: 2020: Reflexion einer Welt im Wandel

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen, letzten Episode diesen Jahres begrüßen zu dürfen.


Eigentlich war ich der Auffassung, die letzte Episode über das Potenzial des Bruchs eigne sich hervorragend als Abschluss. Um 2020, dieses turbulente Jahr, zu verabschieden. Der Überzeugung bin ich nach wie vor. Nichtsdestotrotz, als ich in den vergangenen Tagen das Jahr für mich noch einmal vor meinem inneren Auge habe vorbeiziehen lassen, hat es mich doch gepackt. Genauer gesagt, der Wunsch, doch noch einmal ein paar persönliche Worte zu verlieren. So möchte ich den Versuch wagen, zumindest ein paar der für mich eindrücklichsten Ereignisse noch einmal Revue passieren und euch an meinen Gedanken teilhaben zu lassen. Zudem möchte ich einen kleinen Ausblick in das noch vor uns liegende 2021 geben. 

Zunächst kann man sich fragen, wozu Reflektieren? Zumindest hat sich mir diese Frage gestellt. Also her mit der begrifflichen Herleitung: Reflexion, aus dem Lateinischen reflectio, was so viel, wie „Zurückbeugung“ bedeutet, lässt sich im philosophischen Sinne als die Rückwendung des Denkens vom Objekt der Erkenntnis auf die eigene Verstandestätigkeit und das sich daran anknüpfende kritische Nachdenken über das eigene Denken verstehen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Wir versuchen zu einer tieferen Erkenntnis vorzudringen. Die Welt, wie auch unser eigenes Sein und Tun zu verstehen. Soweit uns das möglich ist. So war der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz der Auffassung, “Reflexion [sei] nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist.“ Platon sprach von der „Erkenntnis der Erkenntnis“ und Aristoteles nannte die Reflexion das „Denken des Denkens“. Beim Reflektieren lassen wir also nochmals das Vorangegangene vor dem geistigen Auge Revue passieren. Wobei dies zumeist weniger ein rein gefühlsmäßiges Erinnern, als vielmehr eine kritische Prüfung der Situation, eine Beleuchtung aus verschiedenen Standpunkten heraus zum Ziel hat.


Mit diesem Wissen im Hinterkopf, scheint es nur noch wenig verwunderlich, dass wir zum Jahresende noch einmal die Geschehnisse reflektieren, sie kritisch hinterfragen und unsere Rolle in ihnen und der Welt an sich zu verstehen suchen. Die Philosophin Annemarie Pieper sagt in der Sternstunde Philosophie im Schweizer Rundfunk: “Man möchte doch eine Antwort, die darauf hinausläuft, dass man sich sicher ist, es war nicht umsonst.” Eine Suche nach Sinnzusammenhängen, nach Kausalitäten und Selbstwirksamkeit durch das eigene Eingebettet Sein im Kosmos. 

Genau das erweist sich im Jahr 2020 als schier unmöglich. Einem Jahr, in dem Vieles so wenig nachvollziehbar scheint. Oder gerade doch, nur sehr komplex und verkettet. Vielleicht ein Grund mehr, weshalb die Philosophie in diesem Jahr ganz besonders gefragt schien. Der Ausbruch des Covid-19 Virus hat uns die eigene menschliche Verletzbarkeit vor Augen geführt, die beinahe in Vergessenheit geraten schien. Sowie, dass wir Teil der Natur sind und nicht über ihr stehen. Was es braucht, sei eine „Politik des Lebens, statt einer Politik der Menschen“, so der Philosoph Wolfram Eilenberger in einem Beitrag des Deutschlandfunk Kultur über die “Die Kette(n) des Lebens”. Und er richtet damit zugleich den Blick auf die Klimakrise, deren Bewältigung, so scheint es manchmal, aufgrund der Pandemie Bekämpfung zu kurz kommt. Munkelten oder hofften einige gar, sie sei durch selbige gelöst, weil man doch weniger fliege und angeblich Delfine im Canale Grande gesichtet habe. Doch der Eindruck trügt. Die Bedrohung durch den Klimawandel ist oder sollte uns gerade durch die Pandemie noch mehr ins Bewusstsein gerückt sein. Eben, weil alles mit allem zusammenhängt. Dass in Wahrheit nichts und niemand nur für sich, unverbunden, atomar isoliert existiert, sondern eingereiht ist in ein Kontinuum, das jedes einzelne Glied mit jedem anderen verbindet und verknüpft. Es geht also um eine neue Betrachtungsweise der Dinge, einen Sinneswandel.

“Probleme wie den Klimawandel werden wir nicht lösen können, wenn wir uns nicht von erstarrtem Denken verabschieden”, meint auch der Philosoph Hans Rusinek im Politischen Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur. “Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik”, führt Rusinek fort. “Mit einem Blick, mit dem sich überhaupt erst reagieren lässt: gelassen, neugierig, bestimmt. Mit dem man sagen kann, dass unser Handeln nicht nur ein reflexhafter Überlebensmechanismus ist, sondern schon eine neue Art zu leben für eine Welt, die sich immer in Entstehung befindet. Eine Welt, die es nicht in den Griff zu kriegen, sondern offen wahrzunehmen gilt. Eine Welt, die nicht aus Dingen besteht, sondern eben aus Kräften, Bindungen und unzähligen Potenzialen – in der nur eines immer sicher ist, dass nichts bleibt, wie es ist.” „Nichts ist so beständig wie der Wandel“, wie schon der antike Philosoph Heraklit von Ephesus feststellte. Nur erscheinen uns die Dinge oft weniger beweglich, manchmal gar festgefahren. Als wäre die Welt nie eine andere gewesen.

Vielleicht ist mir auch aus diesem Grund das Gespräch im Podcast mit der Transformations- und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel besonders in Erinnerung geblieben. „Ändere die Sicht auf die Welt, und es verändert sich die Welt”, lautet ihr Plädoyer in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Buch “Unsere Welt neu Denken”. „Es sind unsere selbst gemachten Regeln, aus denen die Welt, wie wir sie kennen und uns eingerichtet haben, besteht.“ Es liegt also an uns, so Göpel, den Status-quo zu hinterfragen und unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. „Um in der neuen Realität gut zusammenleben zu können, müssen wir auch unsere Vorstellungen von Fortschritt ändern, sonst verschieben wir Probleme einfach weiter in die Zukunft.“ Das fängt schon damit an, welche Sicht auf die Welt wir den nachwachsenden Generationen vermitteln, meint auch der Philosoph Michael Hampe in einem Interview im Philosophischen Jahresrückblick im Kulturzeit extra. Man solle junge Menschen in Schulen und Universitäten weniger auf die gegenwärtige Gesellschaft vorbereiten, als vielmehr darauf, sie umzugestalten.

Und dafür braucht es Selbstwirksamkeit. „Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist das beste Mittel, um in einer Krise von reaktivem Abwehren auf aktive Lösungsgestaltung zu schalten,“ schreibt auch Maja Göpel. Ein Gefühl, das vielen Menschen abhanden gekommen zu sein scheint. Zumindest ist mir dies nachdrücklich durch das Gespräch im Podcast mit der Philosophin Rahel Jaeggi, in Erinnerung geblieben. Sie ist der Überzeugung, unsere derzeitige kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise verschleiere nicht nur viele Zusammenhänge, sondern erschwere es uns Menschen zudem, selbstbestimmt unsere Lebensentwürfe zu realisieren. Geschweige denn, sie zu hinterfragen. Also laufen wir stur immer weiter geradeaus. Bis wir ganz erschöpft sind, von all der sinnlosen Hetzerei nach Produktivität und Effizienz. Gegen die fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt der Soziologe Hartmut Rosa die Resonanz, als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, so Rosa, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet – ein Moment der Unverfügbarkeit. Eines der Bücher und Gedanken, die mich in diesem Jahr maßgeblich beeinflusst haben.

Wir können also nicht alles besitzen, nicht alles beanspruchen. Sonst geht es uns Verlust, wenn wir den Worten Rosas Glauben schenken. Es braucht Maß und Mitte, Begrenztheit, damit wir das (gute) Leben überhaupt wahrnehmen, geschweige denn genießen können. Ein “immer mehr” im Bezug auf unser Wirtschaftswachstum und den angeblich damit verbundenen Wohlstand für alle, ist den meisten schon als Schwindel aufgeflogen. Doch auch im Hinblick auf unsere eigene Lebensweise, scheinen einige in diesem Jahr auf besondere Art mit dem Reiz des Wenigers in Berührung gekommen zu sein. So war während der ersten Lockdown Phase von einer “wohltuenden Entschleunigung” die Rede. Selbst, wenn sie erzwungen war. Denn die ständige Suche nach Intensität sei auch anstrengend, so der französische Philosoph Tristan Garcia. “Süchtig jagen wir neuen Höhepunkten und Extremen nach, immer unter Strom. Kein Wunder also, dass in unseren »Hochspannungsgesellschaften« das Unbehagen wächst.”
           
Doch schnell wurde deutlich und haben wir gelernt, dass dieses Gefühl einer wohltuenden Entschleunigung, längst nicht allen vergönnt ist. Spätestens, als der Begriff der “Systemrelevanz” in aller Munde war, ist vielen bewusst geworden, dass kein kollektives “Wir” existiert. Auch nicht in der Krise. Denn gerade die hebt die Diskrepanzen hervor. Dass wir längst nicht alle gleichsam von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Ebenso, wie die Klimakrise zuerst Arme, Frauen und Kinder trifft, lässt sich dies auch im Hinblick auf das Virus behaupten. Die Pandemie als Brennglas bestehender Missstände, wie es oft betitelt wurde. Dass wir längst nicht alle in einer Gesellschaft mitdenken, lässt sich auch anhand unserer Sprache verdeutlichen, behauptet die Autorin und Aktivistin Kübra Gümüsay, mit der ich mich ebenfalls in diesem Jahr im Podcast unterhielt. Unsere Sprache beeinflusst unser Sein. Wie wir uns in der Welt bewegen. Wie wir denken und handeln. Von einer gleichberechtigten Welt sind wir noch weit entfernt, so Kübra.

Doch lässt sich durchaus behaupten, wir befinden uns zumindest auf einem Weg der Besserung. Wie insbesondere die Black Lives Matter Proteste im Sommer deutlich gemacht haben. Ausgelöst natürlich von einem tragischen Moment, einem grausamen Akt der Gewalt und des Rassismus: Der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten. Die Welle der Empörung sowie Solidarität, die sich im Anschluss an das Geschehen jedoch zutrug, war überwältigend. Und hat viele Menschen dazu bewogen ihr eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen. So , waren in diesem Jahr Bücher wie “Exit Racism” der Autorin Tupoka Ogette oder “Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ von Alice Hasters in aller Munde. Und, wir wissen, Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung. Wenn auch nicht genug. Taten müssen folgen.

Der Mensch ist ein zoon politikon, so Aristoteles. Was meint, dass der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen ist. Nur scheinen wir das zeitweise zu vergessen. Beziehungsweise, die Welt, in der wir leben, macht es uns nicht immer leicht, uns darüber im Klaren zu sein. Dabei seien wir “im Grunde gut”, schreibt der Autor und Historiker Rutger Bregman, dessen Buch ich erst vor wenigen Tagen las. Und geht man von dieser Prämisse aus, so Bregman, sei es möglich, die Welt und uns Menschen in ihr komplett neu und grundoptimistisch zu denken. Dafür müssten wir uns aber zunächst darüber bewusst werden, wie wir werden konnten, wer wir heute sind. Und da wären wir wieder, bei der Reflexion. Dem Innehalten. Dem kritischen Hinterfragen. Man kann aus der Vergangenheit und aus Fehlern lernen. Wie sich an den Wahlergebnissen im November in den USA sehen lässt. Die Niederlage Trumps, als Sieg der Vernunft?! Vielleicht. Es wird sich zeigen. Aber zumindest, und da pflichte ich Bregman bei, haben wir es zu einem nicht unwesentlichen Teil selbst in der Hand. Den Lauf der Dinge mitzugestalten. “Wir” im Sinne der Gesellschaft, in der wir leben. Wohl auch als Einzelne, aber insbesondere, als Teil des Ganzen, der Zusammenhänge. So schreibt Wolfram Eilenberger: „In Ketten leben“ – zunächst ein Urbild menschlicher Unfreiheit. Auf einer weiteren Bedeutungsebene aber auch kraftvoller Ausdruck einer Vision kosmischer Allverbundenheit”. Das mag für die ein oder andere etwas esoterisch anmuten, beschreibt aber in meinen Augen doch recht treffend das bei mir, in diesem Jahr entstandene, durchaus ambivalente Gefühl. Abhängigkeit und Verbundenheit. Zwei Seiten einer Medaille.


So hat sich mir sogar gezeigt, dass Verbundenheit manchmal durch eine gewisse Abhängigkeit erst entstehen kann. So wäre dieser Podcast nicht möglich, ohne die Menschen, die an ihm mitwirken. Dazu zählt ganz besonders Edu Alcaraz, der als Co-Redakteur nicht nur meine geschriebenen Worte sorgfältig prüft, sondern auch selbst durch seine klugen Gedanken einen wesentlichen Teil beiträgt. Nicht denkbar, wäre der Podcast zudem, ohne die technische Unterstützung durch Jan-Marius, der durch sein Geschick Schnitt und Ton perfektioniert, wie auch Ricarda, die alle technischen Fäden im Hintergrund zieht. Ganz besonders freuen, tut mich auch die noch recht junge Bereicherung des Podcast, durch eine größer werdende Zahl an Gastautorinnen und -autoren. Dazu zählen in diesem Jahr Manuel Scheidegger, Isabell Leverenz und Katharina Walser. Bedanken möchte ich mich zudem bei allen Gästen, die für Gespräche in diesem Jahr zur Verfügung standen. 25 Stimmen waren es insgesamt – ich habe es nachgezählt. Mein größter Dank gilt aber wohl den Hörerinnen und Hörern des Podcast. Euch, die ihr mir und uns euer Ohr wie Zeit schenkt. Ohne euch wäre Sinneswandel quasi sinnbefreit. 

Und, um noch einmal kurz zum Thema Abhängigkeit und Verbundenheit zurückzukommen, 2020 war zudem auch das erste Jahr, in dem wir uns unabhängig von Werbeeinnahmen gemacht haben. Und zwar durch oder eher dank euch. Dank all denen, die sich dazu entschlossen haben, als Fördermitglieder den Podcast finanziell zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt, an dem ich diese Worte einspreche, zählt Sinneswandel 173 Mitglieder. Nur auf Steady wohlgemerkt. Ebenso dankbar sind wir natürlich auch für die Beiträge, die uns via Paypal oder Überweisung erreichen. Danke, dass ihr (einen) Sinneswandel möglich macht. Dafür verspreche ich auch hoch und heilig, dass wir weiterhin bemüht sein werden, spannende Beiträge, die zum Mitdenken anregen, für euch zu produzieren. 

Vielleicht ein kleiner Ausblick in 2021: Das Jahr einstimmen, werden wir mit einer Lobeshymne auf die Faulheit. Dem folgen, wird ein Plädoyer für Denkräume und neue Narrative wünschenswerter Zukünfte. Gemeinsam werden wir uns fragen, was es eigentlich bedarf, um Wandel voranzutreiben. Dabei werfen wir auch einen Blick in die Welt der Kunst, des Gestaltens schlechthin. Soweit der Plan. Änderungen vorbehalten. Bedeutet auch, wenn ihr Wünsche, Anregungen, Shitstorms und Liebesbrief loswerden möchtet, dann gerne an redaktion@sinneswandel.art. In diesem Sinne, bedanke ich mich fürs Zuhören und wünsche einen hoffentlich erholsamen Ausklang diesen turbulenten Jahres, wie auch einen erfrischenden Auftakt in 2021. Bis dahin, macht’s gut und bis bald, im Sinneswandel Podcast.

28. Dezember 2020

Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

von Ricarda Manth 16. Dezember 2020

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, so der italienische Philosoph und Marxist, Antonio Gramsci. Dieses Interregnum bezeichnet also einen Zustand des Transits in dem sich die neue Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig spricht Gramsci ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig spüren: das Sichtbarmachen. Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen, um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten, so Gastautorin Katharina Walser. Der Bruch könne uns helfen die Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und uns den veränderten Bedingungen anpassen, wieder in das Bewusstsein zu rufen.

Shownotes:
► Antonio Gramsci: Gefägnishefte.
► projektmagazin: Die Krise als Chance zur Transformation des Denkens und Handelns Silke Nierfeld.
► Süddeutsche Zeitung: Wenn das Virus auf gesellschaftliche Vorerkrankungen trifft Jana Anzlinger.
► ZEIT Magazin: Ein ganz normaler Herbst, nur anders Ilona Hartmann.
► vice: Wie du mit der Pandemiemüdigkeit klarkommst Leonardo Bianchi.
► Dlf Kultur: Wie tragfähig ist das neue „Wir“-Gefühl? Carolin Emcke im Gespräch mit René Aguigah.
► Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: Die Zukunft in der Krise Lisa Suckert.
► Süddeutsche Zeitung: Das Ende der Geschichte? Das Ende der Demokratie! Timothy Snyder.
► Dlf Kultur: Mit Paul Cézanne neues Denken lernen Hans Rusinek.
► Maja Göpel: Unsere Welt neu denken.
► Geschichte der Gegenwart: Krisenzeiten: Zur Inflation eines Begriffs Thomas Macho.
► Nikil Mukerji und Adriano Mannino: Covid-19. Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.

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Transkript: Zwischen Vergangenem und Zukünftigem: das Potential des Bruchs

Wir sprechen oft mit größter Selbstverständlichkeit von Zeit. Von Altem, Vergangenem und dem Neuen, dem Zukünftigen. Sowie natürlich von der Gegenwart, dem Hier und Jetzt. Doch, wo, an welcher Stelle vollzieht sich der Übergang zwischen den besagten Zeiträumen? Wo endet die Vergangenheit und beginnt die Gegenwart? Und, liegt die Gegenwart nicht immer längst schon in der Vergangenheit, wenn wir von ihr sprechen? Man könnte meinen, die Zukunft, das, was noch im Werden begriffen ist, sie sei die einzig Greifbare. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit üblicherweise auf das richten, was kommt. Doch entzieht auch die Zukunft sich bei genauerer Betrachtung der Fixierung auf den Moment. So stellt sich die Frage, ob wir uns nicht immerzu in einem Zustand des Übergangs befinden. Im permanenten Wandel. Das Leben wird so gewissermaßen zum Transitraum. Doch liegt der Unterschied zu Wartezimmer oder Abflughalle wohl darin, dass wir uns im Leben an und für sich weniger als Wartende betrachten, als viel mehr als Handelnde oder Gestaltende. So warten wir üblicherweise nicht einfach auf die Zukunft, sondern evozieren sie bewusst. Zumindest, soweit uns das möglich ist. 

Aber genau dies scheint uns in aktuellen Zeiten abhanden gekommen zu sein. Die Zeit steht in gewisser Weise still. Die Zeiger der Uhren, eingefroren. Die Zukunft ungewiss. Die Vergangenheit, auch sie scheint kein Maßstab, keine Blaupause für das noch Kommende zu sein. Und die Gegenwart? Ja, die Gegenwart steht, wie gesagt still. So fühlt es sich zumindest an. Selbst, wenn die Zeit fortschreitet. Als sei die Welt im Interregnum zwischen Vergangenem und Zukünftigem eingefroren. Ein Bruch in der Zeit. Der den Übergang plötzlich sichtbar macht. Das, was wir sonst nur allzu selten wahrnehmen. Vielleicht des schwindelerregenden Impetus unseres Zeitgeist wegens. Blicken wir nun geradewegs in die Öffnung, den Spalt, der sich aufgetan hat. Und, die aufmerksame Hörerin ahnt es wohl bereits, dass der besagte Bruch, so beängstigend er auf den ersten Blick auch scheinen mag, uns keineswegs nur eine Betrachtungsweise offen lässt. Sicherlich, wer angstvoll in eine pechschwarze Schlucht hinab blickt, der mag wohl kaum in der Lage sein, kühne Zukunftsvisionen zu ersinnen. Hilfreicher könnte es dagegen sein, sich Kintsugi ins Gedächtnis zu rufen. Eine traditionelle Japanische Reparaturmethode. Bei dieser Kunstfertigkeit wird gesprungenem oder gar zerbrochenem Keramik im Prozess des Vergoldens neues Leben eingehaucht. Auch, wenn bei dieser kulturellen Praxis wohl vornehmlich die Ästhetik vordergründig ist, so lässt sich die metaphorische Betrachtung des Bruchs als Potenzial eine neue Sichtweise zu etablieren, gar etwas noch Wertvolleres zu schaffen, vielleicht für unsere gegenwärtige Situation nutzbar machen.

Wie das gelingen kann, darüber hat Gastautorin Katharina Walser einen Essay verfasst. Katharina hat allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der LMU München studiert. Seit ihrem Forschungsprojekt zur „Zwischengeschichte“, für das sie ein Semester an der Yale University verbrachte, beschäftigt sie sich intensiv mit den poetischen Dimensionen von Zwischenräumen. Die Faszination für den Bruch und den Wandel begleitet Katharina also bereits eine ganze Weile.

Bevor wir allerdings einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Wie ihr Mitglied werdet und teilnehmt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

Am 16. November 2020, im Jahr der Covid-19 Pandemie, veröffentlicht die Kölner Band AnnenMayKantereit ihr viertes Studio Album mit dem schlichten Titel „12“. Im Rolling-Stone Magazin heißt es das Album sei Corona Verarbeitung „aus Bildungsbürgerhausen“. Man kann von den melancholischen Anklängen und den zuweilen sehr großen Fragen in diesem „Echtzeit Album“ halten was man möchte, doch haben sie unabhängig von einem künstlerischen Werturteil vermutlich recht, wenn sie in ihrem 40-sekündigen Vorspiel in Chant-artiger Manier singen: „So wie es war, so wird es nie wieder sein“. Was hier den Ton angibt ist die Trauer für eine gekannte, vergangenen Welt und die Angst gegenüber einer ungewissen Zukunft, so singen sie an anderer Stelle: „ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“. Der Titel des Albums gibt Aufschluss über die besondere Wahrnehmung der Gegenwart aus welcher die Zeilen sprechen: die Wahrnehmung der Gegenwart als Endzeit. Die warnende Floskel „5 vor 12“ hat ausgedient, es ist bereits „12“. Mit dieser Metapher des Zeniths der Mittagsstunde wird sowohl die Vorstellung des Höhepunkts einer dramatischen Situation auf den Plan gerufen, wie die Bewegung des Übergangs. Um 12 befinden wir uns in der Zwischenzeit, an der Grenze zwischen Vor- und Nachmittag. Doch bleibt die Zeit selbstverständlich auch in diesem Zwischenzustand in Bewegung. So lässt sich diese Zwischenzeit neben der Markierung eines Höhepunkts auch durch das Ereignis des Umschwungs charakterisieren. Eine solche gleichzeitige Bewegung der Zuspitzung und des Übertritts bestimmt auch das Moment des Jahres: das Moment der Krise.

Die Krise, aus dem altgriechischen krísis, heißt zunächst Entscheidung oder auch Meinung. Ursprünglich im Bereich der Medizin wurde mit der Krise dasjenige Moment bezeichnet in welcher eine Symptomatik einen Höhepunkt erreicht. In diesem Moment entscheidet sich der Verlauf der Krankheit zu einer radikalen Verbesserung oder Verschlechterung des Zustands der Patientin. Erst im Laufe des 17.Jahrhunderts findet der Begriff in einem Konflikt zwischen britischem Königshaus und Parlament Einzug in die Sprachwelt der Politik. Erst sehr viel später verwenden wir ihn für wirtschaftliche Wendepunkte oder Dramengeschehnisse im Privaten.

Antonio Francesco Gramsci, ein italienischer Philosoph, Marxist und Politiker, schreibt in seinem Hauptwerk, den sogenannten Gefägnisheften:  „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“. Auch dieses Interregnum bezeichnet also einen Zwischenzustand, zwischen vergangenen und kommenden Strukturen, einen Zustand des Transits in dem sich die Welt zum schlechteren oder besseren Wenden kann. Gleichzeitig sprechen diesen Zeilen Gramcis ein Charakteristikum der Krise an, das wir dieses Jahr allzu häufig zu spüren bekamen: das Sichtbarmachen.

Auch wenn wir noch nicht absehen können in welche Richtung unsere Welt nach dieser akuten Krise kippt, so bleibt im Moment dennoch eines: den Bruch nach bestem Wissen und Gewissen in der Reflexion produktiv zu machen. Dies erfordert eine genaue Betrachtung der Strukturen unserer Gesellschaft, welche unter dem Vergrößerungslas der Krisensituation neu erfahrbar und in ihren Problematiken akzentuiert werden. So versieht die Transformationsexpertin Silke Nierfeld ihren im Mai im projektmagazin veröffentlichten Artikel zur Krise als Chance mit einem Beititel, der sich beinahe als Antwort auf AnnenMayKantereits Tonus der Verabschiedung lesen lässt: „Es soll nicht wieder so werden, wie es vorher war.“ Die Vorbedingung für eine Anerkennung des Potenzials der Krise liegt darin den Bruch und seine Sichtbarmachung zu nutzen um den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft zu richten.

Anfang dieses Jahres, oder, wie es so oft heißt „im ersten Lockdown“, hörte man viele solcher Stimmen, die angesichts der Herausforderungen in der Pandemie schnell von Chancen, Möglichkeiten und Aufschwüngen durch die Verlangsamung der Krise sprachen. Man sprach von Entschleunigung, Rückbesinnung und Fokussierung auf das Wesentliche. Die Journalistin Jana Anzlinger schreibt im Juni über diese verfrühte Ideenschmiede im Angesicht der akuten Probleme mit der Verbreitung des Covid-19 Virus in der Süddeutschen Zeitung: das Gerede von Chancen sei ausschließlich ein Privileg derer, die weniger von der Krise betroffen seien und die das große Leid der Pandemie durch ihre schillernden Zukunftsvisionen verkennen würden. In ihrem Artikel heißt es, es helfe „nicht weiter, wenn Bessergestellte abgehoben von der Krise als Chance schwadronieren – Bessergestellte, die sich bequem ins Home-Office zurückziehen konnten, was all den Kassierern, Krankenpflegern und Paketbotinnen nicht vergönnt war. Menschen in schlechter entlohnten Berufen stehen stärker denn je unter Druck und sind besonders vom Virus gefährdet.“ 

Mit dem Ende des ersten Lockdowns schienen die Reden von Chancen abzuflachen, das Gefühl der Handlungsfähigkeit nahm ab und der Wunsch nach der Welt, die abhanden kam, schien die Stimmungen und Schlagzeilen zu dominieren. Die Autorin Ilona Hartmann hält in ihrem Beitrag in der November-Ausgabe des ZEIT Magazins dieses lähmende Gefühl des Herbsts und der sogenannten zweiten Welle fest: „Wie flauschig wirkt rückblickend der erste Lockdown: Man legte sich auf eine Matratze aus Bananenbrot und wartete auf den Sommer.“ Dieses Gefühl des geduldigen Wartens scheint einem Kampf gegen die allumfassende Hoffnungslosigkeit gewichen zu sein. So schreibt Hartmann süffisant: „Herbstspaziergänge sind eine perfekte Gelegenheit, um sich an der frischen Luft Sorgen zu machen.“ Ähnlich beschreibt es der Journalist Leonardo Bianchi im vice Magazin: Wir befänden uns in einem allgemeinen Gefühl der „Pandemiemüdigkeit“. Er verweist darauf, dass laut einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation 60% aller Befragten angaben von den Regulierung zur Eindämmung des Virus erschöpft zu sein. Der Psychologe Renato Troffa erklärt, dass das Risiko existiere, „gelernte Hilflosigkeit” zu entwickeln. Dieses Phänomen entstehe, wenn wir glauben, einen negativen Zustand überwunden zu haben und dann dennoch erneut damit konfrontiert werden. So verlieren wir das Kontrollgefühl über die Dinge. Hartmann kommentiert weiter humorvoll, wie die geschmiedeten Pläne des Frühjahrs einem kühlen Realismus weichen mussten: „Horoskop für den zweiten Lockdown (gültig für alle Sternzeichen): Nein, du wirst auch dieses Mal den Zauberberg nicht lesen: „Vielleicht ist nun gerade fern von einem Duktus der Abgehobenheit aus der Überforderung und Frustration heraus ein Wille für das neu Denken und Handeln zu schöpfen, eine Kraft freizusetzen, welcher der Philosoph Slavoj Žižek einen Buchtitel widmet: der Mut der Hoffnungslosigkeit. Fern vom Gerede der Selbstoptimierung unter einem Kreativitäsimperativ, der unseren ersten Lockdown zu bestimmen schien und welcher lediglich die Dogmen des Kapitalismus und seine Gebote zur Produktivitätssteigerung vom Büro in unsere Wohnzimmer verlagerte.

Die Frage ist also: Wie können wir aus der anfänglichen Euphorie und dem wachsenden Gefühl von Handlungsunfähigkeit, angesichts der vielen Realprobleme in andauernden pandemischen Zeiten, zu einem produktiven Diskurs zurückfinden, in dem wir das Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückerlangen? Hierzu lohnt sich ein genauerer Blick auf das Paradigma des Bruchs.

Kommen wir hierfür zunächst zurück zur angesprochenen Sichtbarmachung. Gramscis Formulierung zur Hervorbringung von Krankheitsbildern in der Krise bezieht sich deutlich auf ein Hervortreten einer Symptomatik. Klar ist die gesellschaftlichen Erkrankungen, die der Ursprung dieser Symptome sind, liegen schon wesentlich länger vor und sie speisen sich aus einer Vielzahl von Ansteckungsmomenten. Im Bruch mit der bekannten Lebensweise wird deutlich, welche im weitetesten Sinne “Erkrankungen” unserer Lebenswelt wir bisher wenig oder nicht deutlich genug in den öffentlichen Diskurs geholt haben. Wie das angelernte Konsumverhalten, die Unsichtbarkeit der physisch aber vor allem psychisch Kranken, die Ignoranz mit der wir den Alten in unserer Gesellschaft begegnen, die ungleichmäßige Verteilung der Löhne, die unzeitgemäße Ausstattung unserer Bildungsstätten. Die Liste ließe sich so fortführen. In der Krise rücken diese Themen nun in den Vordergrund. Von der Diskussion um schlechtbezahlte Pflegekräfte, über die kursierenden Nummern von Notfalltelefonen und Ersthilfen für häusliche Gewalt, zur Salonfähigkeit des Gesprächs über Mental Health. Im Angesicht der Gefahr und der gemeinsamen Erfahrung des in den privaten Raum Verbanntseins, erleben wir diese Probleme nicht mehr nur als abstrakte Phänomene einer von uns unterschiedenen oder außerhalb liegenden Gesellschaft, sondern wir erleben uns als Betroffene und Abhängige in einem System, das in vielen Bereichen nicht mehr auf unsere Bedürfnisse oder Lebensweisen ausgerichtet zu sein scheint.

Die Unausgeglichenheit des gesellschaftlichen Systems wird nicht zuletzt deutlich in den Maßnahmen, die in der Krise getroffen werden. In den Prioritäten, welche der Staat in Form von Finanzpaketen setzt: Schnell ist klar, dass nicht nur bestimmte Familienmodelle in den Hilfspaketen weniger berücksichtigt werden als andere. Auch ganze Bereiche der Gesellschaft, wie Kunst und  Kultur, werden unter dem Schlagwort der Systemrelevanz oder  unter dem Label der “Freizeitgestaltung” als mindestens zweitklassig deklariert. Diese staatliche Privilegierung oder gar Ausklammerung provozieren die Frage: Welcher Wert wird den verschiedenen Bereichen unseres Lebens bisher beigemessen? Und welchen Wert wollen oder sollten wir ihnen in Zukunft zugestehen?

Neues Potenzial bietet die akute Krise zunächst darin, dieses wir überhaupt vorstellbar zu machen. Insofern konfrontiert uns die Pandemie mit dem Problem widerstreitender Kollektivierungsbewegungen. Die Epidemie führt uns die Diskrepanz des Globalen vor Augen. Die Diskrepanz einer Welt, die im digitalen Raum und im Warenverkehr längst näher zusammengerückt ist, aber eine Form der globalen Solidarität, einer ethischen Verbindung im Gefühl nicht standhalten kann. Diese Diskrepanz betont auch die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke in einem Beitrag im Deutschlandfunk „es [gibt] die Wahrnehmung eines globalen Wir, wie es das vielleicht in der Form so vorher noch nicht gegeben hat“. Dennoch gilt es dieses Gefühl gesellschaftlich tragfähig zu machen, gerade vor dem Hintergrund identitärer Politik, die immer in Krisenzeiten die Spaltung von wir zu den Anderen zurückfordert. Die Krise scheint uns neue Möglichkeiten zu eröffnen, gerade in der Vorstellung einer gemeinsamen Aufgabe, oder eines gemeinsamen Gegners als Virus. Möglichkeiten uns darin zu üben uns als globale Gemeinschaft zu verstehen. So sind beispielsweise die menschenunwürdigen Bedingungen des zu Beginn des Jahres noch größten Lagers für Geflüchtete Personen in Europa, Moria, erst in Zeiten der Pandemie und der dort explosionsartig gestiegenen Zahlen von Covid Infektionen wieder in das Auge der medialen Öffentlichkeit gelangt. Die Schwierigkeit aber eben auch die Chance der Krise liegt darin, ein Wir nicht nur als Gemeinsames dessen zu denken, dass wir alle mit derselben Katastrophe umzugehen haben, sondern auch über eine Solidarisierung. Eine Solidarisierung mit jenen, die von dieser, wie im Übrigen von all den anderen Krisen, als erste und am stärksten getroffen werden. Ein Kollektiv kann so nicht nur im Sinne der Gleichheit gedacht werden, sondern auch und vor allem im Sinne einer Gemeinschaft der Diversität von Lebensumständen.

Unabhängig von einem Werteurteil der bisherigen sogenannten Corona-Politik, hat die Krise vor allem gezeigt, dass wir Handlungsspielraum besitzen die Potenziale ökonomischer, wie sozialer Umwälzungen auszuschöpfen. Vor dem Hintergrund der Schnelligkeit und Radikalität getroffener Entscheidungen, die unter der Absolution des Notstands in diesem Jahr möglich waren, zeigt sich die alte Rede von alternativloser Politik als Ammenmärchen der Konservativen. Ebenso deuten diese Entscheidungen die Menge an politischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten unseres Lebens an, wenn wir in der Lage sind anderen Herausforderungen der Gegenwart mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu begegnen, wie wir es im Angesicht der Pandemie tun.

Die Krise ist wie die Zahl 12 auf der Uhr, ein imaginärer Umschlagplatz. Insofern als sie im Bruch mit dem gewohnten Fortgang der Dinge, die Vorannahme der Gleichförmigkeit des Lebens als falsch entlarvt. Das Potenzial dieses Bruchs liegt in der doppelten Codierung dieser imaginierten Grenzlinie: Indem wir in der Lage sind anhand dieser Linie des Krisenmoments die Geschehnisse in ein Vergangenes und ein Kommendes zu gliedern. Ebenso, wie in der Realisierung dessen, dass ein stets gleichbleibendes System nicht der Natur der lebensweltlichen Dinge entspricht, die unter ihm geordnet werden sollen. Der Bruch kann uns helfen diese Veränderbarkeit von Welt, in der wir stetig nachträglich wahrnehmen und unsere Ordnungssysteme den veränderten Bedingungen von außen und veränderten Bedürfnissen von innen anpassen müssen, wieder in das Bewusstsein zu holen. In der zuvor diskutierten direkten Erfahrbarkeit durch den Bruch mit dem gewohnten Fortgang, kann die Chance liegen die relevanteste Aufgabe in Krisenzeiten zurück in den gesellschaftlichen Diskurs zu holen: Zukunft denken.

Lisa Suckert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung. Dieses Jahr veröffentlichte sie einen Beitrag mit dem Titel Die Zukunft in der Krise. Darin schreibt sie: „Vielen Menschen scheint mit dem Ausbruch des Coronavirus ihre Zukunft abhandengekommen zu sein. Vormals gültige Pläne, Routinen, Hoffnungen und Ziele sind in vielen Lebensbereichen hinfällig geworden.“ Gerade deshalb braucht es nach Suckert im Umgang mit der Krise „gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zukunftsentwürfe ebenso wie Impfstoffe oder staatliche Überbrückungsmaßnahmen“. Die Krise, das ist ein unerwartetes Ereignis. „Um jedoch überhaupt erst als „unerwartet zu gelten, bedarf es aber etablierter Erwartungen, von denen diese Ereignisse abweichen können. Erst vor dem Horizont vermeintlicher Planbarkeit, die moderne Gesellschaften kennzeichnet, kann das Unvorhergesehene überraschen.“ Suckert denkt den Bruch also im Sinne dieser genannten Illusion der Gleichförmigkeit von Welt. Die Krise ist als Bruch nach Gramscis Entwurf eben nicht mehr als „stabile Verlängerung der Vergangenheit zu denken“. Dieses ins Wanken geraten der Vorstellungen aus der Vergangenheit, das Beben des bekannten Bodens, das irritiert nicht nur viele, es hinterlässt Angst vor einer Welt im Kommen, deren Organisationsstrukturen man nicht kennt. Gerade deshalb ist es wichtig mögliche Perspektiven vom Bruch in die Zukunft zu denken. Für gewöhnlich – und auch das sehen wir in der aktuellen Krise – wird das Gegenteil getan und eine Unmenge an Energie in die Widerherstellung des Bekannten investiert .

Der Historiker und Professor für Geschichte an der Yale University, Timothy Snyder, nennt diese Art des Festhaltens an bekannten Formen der Lebensgestaltung die ‚Politik der Unvermeidbarkeit‘. Im Zusammenhang mit einer Form der Krise, die jedoch zu der der Corona Pandemie, des Klimawandels und auch der des Kapitalismus untrennbar in Beziehung steht, nämlich die Krise der Demokratie, spricht Snyder von einem Narrativ der Unbedingtheit: „Die logische Schlussfolgerung dieses Narrativs, das von den Neunzigerjahren bis in die frühen 2000er überdauerte, lautet, dass alle anderen mit der Zeit zunehmend so werden wie wir. Dass wir zunehmend werden wie wir. Dass Demokratie unvermeidlich ist“. Innerhalb eines solchen Konzepts ist es die Vorstellung von Zukunft, an  der es Politik und Gesellschaft mangelt. Mit den nationalistischen und populistischen Strukturen, die in den vergangenen Jahren Europa und die USA erschüttern, habe sich allerdings gezeigt, dass eine solche Vorstellung von Unbedingtheit nicht haltbar ist. „Stattdessen hat sich das Gefühl eingestellt, dass sich mithilfe antidemokratischer Argumente Wahlen gewinnen lassen. Diesen Moment des Schreckens, in dem niemand wirklich von der Zukunft spricht, in dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen und in einer Gegenwart des „Wir gegen die“ gefangen sind.“ Das, so Snyder, sei die ‚Politik der Ewigkeit‘. Snyder schreibt weiter, dass sich die Probleme der Demokratie, die Krise der westlichen Welt, in einem Satz am besten darstellen lasse: „Die Zukunft ist verschwunden.“ Denn wenn „wir keine Vorstellung mehr von der Zukunft haben, wenn wir nicht mehr mannigfaltige Ideen davon haben, was noch kommen könnte und welche dieser Zukunftsversionen besser ist, dann ist es für die Menschen sehr schwierig, sich involviert zu fühlen“. Eine solche Politik ohne Zukunftsvisionen, die weiter ungeachtet der Widrigkeiten versucht unter den Prinzipien des letzten Jahrhunderts, wie dem Diktat zu stetigem und linearem Wachstum, kann unmöglich mit den Wandlungsprozessen einer modernen Welt mithalten. Er sieht zwei mögliche Reaktionen: eine ‚Politik der Katastrophe‘, die immer nur momentanes Krisenmanagement betreibt, unter den Dogmen des Fortschrittsgedankens, die allerdings keinen ernstzunehmenden Kurs der Krisenvermeidung einschlägt. Oder aber eine hoffnungsvolle ‚Politik der Verantwortlichkeit‘, die möglichen Versionen der Zukunft entwirft und sich dem Wiederherstellungsdrang von ausgedienten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modellen aktiv widersetzt.

An einer Politik oder schlicht an der Vorstellung von Wiederherstellung festzuhalten, wäre nicht nur reaktionär, sondern würde auch weiterhin Tür und Tor für Formen der Radikalisierung öffnen. So bezieht sich der Publizist Hans Rusinek in einem Gastbeitrag im Politischen  Feuilleton des Deutschlandfunks auf eine Fehlfokussierung des Diskurses in Zeiten von Corona: „Wir reden von der guten Ordnung, den etablierten Organisationen und deren Sinn – aber nicht von Ordnen, Organisieren und Sinnstiften.“ So liefen wir Menschen in die Arme „die etwas Vergangenes great again machen wollen“. Auch die Autorin und Politökonomin Maja Göpel formuliert diese Gefahr in ihrem Buch Unsere Welt neu denken: „Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt.“ Und auch diese Strukturen konnten wir im Zuge des Pandemiegeschehens bereits beobachten, zum Beispiel als Spaltungsphänome zwischen Querdenkern und Befürwortern der politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Vor dem Hintergrund, dass die akute Krise von Populisten und Neoliberalisten wieder genutzt wird, um beispielsweise in nationalistischer Manier das eigene Handeln durch den Ländervergleich von Strategien und Todeszahlen aufzuwerten, lohnt es sich die Funktionsweisen regressiver Rhetoriken zu überdenken. Die Krise ist eben auch, wie es in der von Žižek paraphrasierten Version der eingangs zitierten Gramsci Passage heißt, „die Zeit der Monster“. Vor diesen Phänomenen wird die Dringlichkeit deutlich, statt einer reaktiven Abwehr, wie Göpel formuliert, proaktiv Zukunftsversionen zu bauen. Nicht nur gesundheitspolitischen und wirtschafltichen Fragen ließe sich dann neu begegnen, sondern auch den klimatischen und sozialen Fragen unserer Gegenwart. Wie Göpel schreibt, ist „unsere heutige Welt eine fundamental andere als vor 250 Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wird heute vorwiegend mit der damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen.“ Eine neue und progressive Handlungsmacht muss sich zunächst im Denken formulieren. Auf die Fragen wann der Alltag wieder zurückkehrt, die Wirtschaft sich wieder stabilisiert und alles wieder im Lot sei antwortet Hans Rusinek: „Vielleicht wenn wir verstehen, dass das wahre Problem in dieser Art zu fragen und zu denken steckt: Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik“. Wie unabdingbar eine solche Erneuerung im Denken für unsere Gegenwart ist, formuliert auch der Philosoph und Direktor des Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien, Thomas Macho. Er betont, dass die Pandemie als Krise durch ihren andauernden Zustand ihren Ereignis Charakter verliert und nicht zuletzt unsere Gegenwart als Zeit der langfristigen Krisen in Erinnerung ruft. „Pandemien gehören – ebenso wie Migrationen und man könnte den Klimawandel ergänzen – zur longue durée menschlicher Geschichte.“ Und auch wenn es vermutlich vermessen und naiv wäre zu behaupten, dass wir nach der Corona-Krise eine allumfassende Neucodierung unserer Gewohnheit halten könnten, so birgt der Bruch Potenzial, sofern er für Zukunftsbildung in Gedanken und Handlungen produktiv gemacht wird. Wenn wir in der Lage sind uns auf das „ständige nachjustieren“ einzulassen, wie es die Philsophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in ihrem Band Über Philosophie in Echtzeit als Aufgabe in der Krise betonen.

Der Bruch als Krise zeigt sich also nicht als singuläres Moment, nach dessen Überwindung wir zum Gewohnten zurückkommen werden. Er schärft dagegen unseren Blick für eine Welt im stetigen Wandel, in der wir unsere Bedürfnisse und die Mittel, mit denen wir deren Erfüllung suchen, immer wieder aufs neue Überdenken müssen. Um letztlich den Bedingungen unserer Umwelt und uns selbst gerechter zu werden. Wenn wir verstehen, dass nicht die Anomalie im gewohnten Fortgang die Gefahr birgt, sondern die Vorannahme, dass wir in einer Welt der Regelmäßigkeiten lebten, der eigentliche Fehler im System unseres Denkens ist. Dann können wir die Krise als Möglichkeitsraum begreifen. Als Möglichkeitsraum, in dem wir das Gefühl für unsere Handlungsfähigkeit erneuern und neue Wege beschreiten können, um uns wieder als gesellschaftliche Mitgestalter:innen einer wünschenswerten  Zukunft zu erkennen. 

Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.

16. Dezember 2020

Dominik Bloh: Wohnen, ein Menschenrecht?!

von Ricarda Manth 8. Dezember 2020

“Wir bleiben Zuhause” – dies war und scheint nach wie vor der Appell der Stunde zu sein. Ein Zeichen der Solidarität. Zum Schutz, nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch der anderen. So richtig diese Schutzmaßnahme zur Kontaktvermeidung auch ist, scheint sie eines nicht mitbedacht zu haben: Was ist mit jenen, die kein Zuhause ihr Eigen nennen können? 542.000 Menschen waren in Deutschland nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2018 wohnungslos. Welch Hohn schwingt plötzlich in dem Satz mit, “Wir bleiben Zuhause”. Sie leben im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft – unsichtbar, bestätigt auch Dominik Bloh, der selbst lange Zeit auf der Straße lebte. Heute betreibt er “GoBanyo”, einen Duschbus für Wohnungslose in Hamburg.

Shownotes:
► Unterstützt den Duschbus GoBanyo.
► Auch die Kampagne #wärmegeben der Hamburger Initiative Hanseatic Help braucht Hilfe.
► Bei der Caritas finden Betroffene von Wohnungslosigkeit Hilfe sowie ehrenamtlich Helfende Einsatzmöglichkeiten.

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8. Dezember 2020
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