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Demokratie

Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

von Henrietta Clasen 3. August 2021

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, so Aktivistin Carola Rackete, die als Kapitänin der Sea-Watch 3 mit 53 libyschen Geflüchteten im Juni 2019, entgegen den Anweisungen des italienischen Innenministeriums, im Hafen von Lampedusa anlegte. Für die meisten wirkt ihr Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde. Auch, wenn Racketes Geschichte durch die mediale Präsenz große Bekanntheit erfuhr, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetze auflehnt und damit viel aufs Spiel setzt. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

Shownotes:

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Mit Ihrer Kampagne unter dem Motto „Veränderung beginnt bei uns“ will das Unternehmen für die Vermeidung von Retouren sensibilisieren – weil es nicht egal ist, wie und wo wir bestellen. Mehr Infos erhaltet ihr hier.

► Carola Rackete: “Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation”. Droemer Knaur (2019).
► Ihr findet Carola auch auf Twitter.
► Rettet Menschenleben, indem ihr die zivile Seenotrettung Sea-Watch e.V. unterstützt!
► Auch hörenswert: Interview im Sinneswandel Podcast mit Erik Marquardt “Kann Solidarität grenzenlos sein? Über Hoffnung auf Europäische Lösungen und Menschlichkeit” (11/2020).

Kontakt:
✉ redaktion@sinneswandel.art
► sinneswandel.art

Transkript: Carola Rackete: Wie radikal darf ziviler Ungehorsam sein?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

*Werbung*: Die heutige Episode wird freundlich unterstützt von OTTO. Ganze 238.000 Tonnen CO2 wurden im deutschen Online-Handel 2018 für vermeidbare Rücksendungen ausgestoßen. Daher werden bei OTTO 95% aller OTTO-eigenen Retouren wieder aufbereitet, da sie neuwertig sind und wieder in den Verkauf gehen können. Lediglich 0,5% aller zurückgeschickten Artikel lassen sich nicht mehr als neuwertig verkaufen und werden dann an Firmen weitergeleitet, die sich auf den Verkauf sogenannter B-Waren spezialisiert haben. Und am besten ist es natürlich, wenn wir Retouren erst gar nicht entstehen lassen. *Werbung Ende*.

Es ist der 29. Juni 2019. Im Hafen von Lampedusa, der südlichsten Insel Italiens, geht eine Frau von Board eines Schiffes. Nicht irgendein Schiff und nicht irgendeine Frau. Es ist die damals 31-jährige Kapitänin und Aktivistin Carola Rackete, welche die Sea-Watch 3 verlässt – allerdings nicht allein. Mit ihr an Bord befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch 40 libysche Geflüchtete. Carola Rackete und ihre Crew hatten die Menschen am 12. Juni aus dem Mittelmeer geborgen, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Also bereits 17 Tage, bevor die Sea-Watch 3 in Lampedusa anlegte – ohne Erlaubnis, denn die wurde den Seenotrettern von der italienischen Behörde verweigert. 

Doch anstelle sich von den Worten des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini einschüchtern zu lassen, beschließen Carola Rackete und ihre Crew, ungeachtet der Verweigerung der italienischen Behörde, dennoch einzulaufen. Nicht zuletzt, weil die humanitäre Lage an Bord der Sea-Watch 3 sich immer weiter zuspitzt. Da das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen bestimmt, dass Gerettete an einen sicheren Ort gebracht werden müssen, steht für Rackete fest: Sie werden im 250 Seemeilen entfernten italienischen statt dem libyschen Hafen, der nur 47 Seemeilen entfernten ist, anlegen – weil Libyen, wie auch die EU-Kommission erklärt, kein sicherer Ort für Schiffbrüchige sei. Entgegen den Anweisungen der Guardia di Finanza, die noch versucht das Anlegen zu verhindern, läuft die Sea-Watch 3 in der Nacht vom 29. Juni im Hafen von Lampedusa ein. Als die Kapitänin das Boot verlässt, wird sie nicht nur mit Applaus, sondern auch mit Beleidigungen der lokalen Bevölkerung empfangen. Der Kapitänin drohen nun im Zweifel bis zu 50.000 Euro Geldbuße sowie bis zu zehn Jahre Haft. Der Vorwurf lautet: Verweigerung des Gehorsams gegenüber Vollstreckungsbeamten, Leistung von Widerstand gegen ein Kriegssschiff sowie unerlaubtes Einfahren in italienische Hoheitsgewässer. Noch in derselben Nacht wird Carola Rackete verhaftet und unter Hausarrest gestellt, die Sea-Watch 3 beschlagnahmt. Salvini twittert derweil: „Mission erfüllt! Verbrecherische Kapitänin festgenommen, Piratenschiff beschlagnahmt, Höchststrafe für die ausländische Nichtregierungsorganisation.“

Sie wisse, was sie riskiere und sei bereit, für ihre Entscheidungen ins Gefängnis zu gehen, das hatte die Kapitänin bereits am Tag zuvor der taz in einem Interview gesagt. Für die meisten von uns wirkt dieses Verhalten mutig und tapfer, gar lebensmüde – nicht viele würden vermutlich ein solches Risiko eingehen. Zwar wurde am 19. Mai 2021, also fast zwei Jahre danach, das Verfahren gegen Carola Rackete eingestellt – es hieß, die Kapitänin habe mit ihrem Vorgehen ihre Pflicht erfüllt, weshalb das Anlegemanöver nicht als Widerstand gegen ein staatliches Schiff eingestuft werde –  doch dieser Ausgang war keineswegs sicher. Was also hat Carola Rackete dennoch dazu bewogen, dieses Risiko einzugehen? Auch, wenn ihre Geschichte durch die Präsenz in den Medien eine große Bekanntheit erlangte, so ist sie bei weitem nicht die einzige Aktivistin, die sich gegen das Gesetz aufgelehnt hat und damit viel aufs Spiel setzte. Als “ziviler Ungehorsam”, wird der Protest auch bezeichnet, den Menschen im Namen der Gerechtigkeit austragen. Doch sind es Mut und Selbstlosigkeit allein, die Aktivist*innen wie Carola Rackete so weit gehen lassen?    

“Ich glaube, dass es sehr häufig einen Unterschied gibt, zwischen der innen Wahrnehmung und der Außenwahrnehmung so einer Aktion. Wo von außen vielleicht etwas als überraschend wahrgenommen wird, während es innerhalb der Leute, die informiert sind, schon vollkommen klar ist, was passiert. Das heißt, als ich 2019 als Kapitän der Sea-Watch 3 verhaftet wurde, war es so, dass mir natürlich zu Beginn dieser Reise klar war, dass es ein Strafverfahren geben würde. Dieses Strafverfahren ist nicht zufällig entstanden. Der Kapitän, der vor mir an Board war, hat eigentlich genau das gleiche gemacht wie ich, er ist aber unbekannt geblieben und hat auch ein Untersuchungsverfahren gegen sich laufen. Deswegen war es auch, auf Grund der politischen Situation, vollkommen klar, dass es bei mir ähnlich sein würde. Aktivismus erfordert, insbesondere, wenn es sich um Aktionen des zivilen Ungehorsams handelt, gute Vorbereitung. Und zwar sowohl im Inhalt bezüglich der Aktion, als auch juristisch und psychologisch. Man sollte sich wirklich bewusst sein, warum man etwas macht, warum man es wichtig findet und sollte möglichst nicht unbedacht in eine Aktion hineingehen. Ich möchte nochmal das Beispiel von Rosa Parks bringen, die ja selbst in Europa häufig bekannt ist. Sie war während des Civil Rights Movements eine Frau, die dafür bekannt wurde, dass sie als Schwarze Person im Bus saß und dann ihren Platz nicht hergeben wollte, obwohl weiße Fahrgäste zugestiegen sind und dann auch verhaftet wurde. Und in der Folge davon entstanden diese Montgomery Bus Boycotts – das heißt, die gesamte Busfirma wurde boykottiert in der Stadt. Diese Episode war ein wichtiger Teil in der Bürgerrechtsbewegung. Und viele Leute denken, dass Rosa Parks zufällig verhaftet wurde. Dass sie einfach an dem Tag, wo sie verhaftet wurde, in diese Situation geraten ist und sich dann entschieden hätte, nicht aufzustehen. Tatsächlich ist es aber so, dass Rosa Parks über Dekaden in der Bewegung für Rechte Schwarzer Menschen involviert war. Dass sie Training erhalten hat – sie war zum Beispiel am Highlander Institut – ein Institut, wo viele Aktivisten politisiert wurden, wo auch Martin Luther King und andere sehr bekannte Personen der Bürgerrechtsbewegung vor Ort waren und sich mit den Aktivisten fortgebildet haben. Den gleichen Protest hat sie schon einmal versucht und dabei kam es nicht zu einer Reaktion der Zivilgesellschaft. Das heißt, unser Bild von Rosa Parks heute ist sehr weichgespült. Wir sehen das als Zufall, wobei sie politisch organisiert war. Sie war gut vorbereitet, sie hatte Netzwerke und sie wusste ganz genau, was sie getan hat. Und das ist für heutiges politisches Handel, für Aktivismus, essentiell. Wir müssen uns vorbereiten. Wir sollten auf keinen Fall ohne gute Unterstützung in solche Aktionen hinein gehen.”

Was für Außenstehende also oft nach spontaner Aktion, nach mutigen und selbstlosen Held*innen aussehen mag, dahinter stecken in der Realität sehr viel öfter eine ganze Reihe von Menschen mit gut organisierten Strukturen und klar durchdachten Plänen. Bei Extinction Rebellion Deutschland, zu deren Unterstützerinnen auch Carola Rackete gehört, sind es beispielsweise über 110 Ortsgruppen, die eigenständig agieren, Aktionen planen und durchführen. Das Presseteam von Extinction Rebellion arbeitet hochprofessionell, es gibt Chat-Gruppen, die Journalist*innenen über geplante Aktionen informieren. Die Aktivist*innen agieren nicht incognito, sie suchen die Öffentlichkeit, haben sogar eigene Fotografen und Kamerateams dabei. Das können sich längst nicht alle, die aufbegehren und zivilen Ungehorsam betreiben, erlauben. Viele Aktivist*innen kennen wir gar nicht, so Rackete, da sie sich verstecken müssen, um nicht ihr Leben zu riskieren.

“Wichtig ist, dass wir uns unserer Privilegien bewusst sind, die wir als weiße Menschen in Europa haben. Wir sind in Ländern, in denen wir Aktivismus machen können, ohne große Gefahr für unsere Unversehrtheit erwarten zu müssen, wo wir großen Einfluss auf die Industrieländer, nämlich auf die Länder, wo Emissionen verursacht werden, wo die Hauptsitze von Firmen sind, die Übersee Ökosysteme zerstören. WIr haben viel mehr Möglichkeiten uns einzusetzen, als Menschen in anderen Ländern und diese Möglichkeiten müssen wir auch wahrnehmen. […] Ich glaube, dann können wir auch erkennen, dass wir in unserer Situation für Aktivismus gar nicht besonders viel Mut brauchen.” 

Und die Frage ist ja auch, ob Aktivismus immer radikal sein muss. Gerade viele der Aktionen von Extinction Rebellion gehen einigen zu weit. Obwohl ihr oberstes Gebot “strikte Gewaltfreiheit” heißt. Damit knüpft die Bewegung an eine Tradition zivilen Ungehorsams an, die Störungen öffentlicher Ordnung dann als legitim ansieht, wenn sich eine große Anzahl an Bürger*innen ungerecht behandelt fühlt. Radikal ist Extinction Rebellion nur in ihren Forderungen – wobei, sind die Aktivist*innen das wirklich? Ist es radikal, wenn man für das Überleben von Menschen und Umwelt protestiert, oder ist es nicht vielleicht sogar radikaler, einfach stur weiterzumachen wie bisher?

“Wir sind im sechsten Massensterben der Arten, das erste was von den industriellen Gesellschaften ausgelöst ist, wir sind in einer Klimakrise – es scheint immer noch so, dass trotz der ganzen Versprechen, die wir überall hören, die großen Konzerne eigentlich nicht wirklich irgendwo im nächsten Jahre ihre Emissionen ändern wollen. Wir steuern also immer noch auf irgendwas zwischen 3-5 Grad zum Ende des Jahrhunderts Erderwärmung zu, was natürlich überhaupt nicht kompatibel ist mit dem Überleben der Gesellschaft, wie wir sie kennen. Und wenn wir sehen, wie dramatisch diese Lage ist, dann ist eigentlich das einzig radikale weiter zu machen, als sei nichts gewesen. Und dann müssen wir uns natürlich fragen, was sind die Machtstrukturen, die es überhaupt ermöglichen, dass diese Art von gesellschaftlichem Leben und Wirtschaften einfach so weitergeht, obwohl sie ganz offensichtlich die Lebensgrundlagen für Menschen und auch nicht menschliche Wesen auf diesem Planeten komplett zerstört und das innerhalb weniger Dekaden. Wenn wir uns das vor Augen führen, welche katastrophalen Konsequenzen es hat, wenn wir nicht handeln, dann ist der Aktivismus auch überhaupt nicht mehr radikal, sondern schlicht notwendig. Es ist wichtig, dass wir uns als Zivilgesellschaft auf verschiedene Art und Weisen. Aber wir können nicht einfach, sehenden Auges, auf dieses Kliff zu laufen, das immer näher kommt, wenn wir nichts tun. Das heißt, der Aktivismus ist in dem Sinne nicht radikal, sondern das einzig Vernünftige. Aktivismus darf meiner Meinung nach radikal sein, denn es gibt natürlich viele verschiedene Möglichkeiten, Aktivismus zu machen – z.B. die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, wir sehen viele Bürgerinitiativen, Verkehrsinitiativen für Radwegeausbau – alles mögliche. Und all diese Initiativen sind wichtig und sollten uns in die Richtung gesellschaftlicher Transformation bringen, die wir brauchen, um die ökologischen- und auch sozialen Probleme, die immer mehr zunehmen, zumindest abzumildern. Allerdings ist die Radikalität wichtig, um den gesamten Diskurs zu verschieben. Das heißt, nur wenn wir Gruppen haben, die auch radikal sind, die z.B. zivilen Ungehorsam nutzen oder wie im Dannenröder Wald Bäume besetzen oder Autobahnen blockieren, dann können wir es schaffen, dass andere Teile der Gesellschaft sich auch weiter in diese Richtung bewegen und sich der Diskurs in diese Richtung verschiebt. Das heißt nicht, dass alle Menschen Bäume besetzen müssen, aber dass es wichtig ist, dass es immer eine radikale Seite einer zivilgesellschaftlichen Bewegung gibt.”

Ob nun radikal oder nicht, für Aktivistin Carola Rackete ist eines unausweichlich: dass wir Handeln. Denn das Nicht-Handeln hätte größere Konsequenzen für uns, werde deutlich teurer, als wenn wir jetzt energisch anpackten.

“Wir müssen mehr darüber nachdenken, was die Konsequenzen davon sind, wenn wir nicht handeln. Häufig sehen wir ja, was uns auch in den Medien präsentiert wird, die angeblichen Kosten von Klimaschutz – weniger wird uns präsentiert, was die Kosten sind, wenn wir gar keinen Klimaschutz machen – das die viel größer und dramatischer sind. Das ist glaube ich ein wichtiger Punkt, dass wir uns bewusst werden, dass auch, wenn wir uns politisch nicht einbringen, dass das Konsequenzen hat und, dass das auch eine Entscheidung ist. Und, dass diese Entscheidung nichts zu Tun oder sich nicht öffentlich zu Äußern, nicht Teil dieser Transformation zu werden, dass das gravierende Konsequenzen hat. Nicht nur für Menschen, die jetzt schon von der Klimakrise betroffen sind, sondern natürlich auch für uns selber. In Deutschland ist die Klimakrise schon spürbar und sie wird immer schlimmer und das wissen wir bereits.”

Aber was bedeutet es überhaupt zu Handeln? Und wie erweist es sich als wirksam? Für die Philosophin Hannah Arendt bedeutete Handeln, als die höchste Form des Tätigseins, immer auch politisches Handeln. In ihrem wohl bekanntesten Werk, „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“, geht sie genauer darauf ein, was sie darunter versteht. Politisches Handeln unterscheidet sich bei ihr von „automatischen Prozessen oder zur Gewohnheit gewordenen Verfahrensweisen“, von einer „Welt, in der sich nichts ereignet“. Das politisch handelnde Subjekt allein, ist in der Lage, solche Prozesse zu unterbrechen, von ihm hängt es ab, ob der Raum der Pluralität als politischer Raum erhalten bleibt. Denn die Dinge sich selber zu überlassen, bedeutet, so Arendt, den Ruin von Zivilisation und Kultur. Dabei versteht die Philosophin politisches Handeln, nicht als die Machtergreifung Einzelner. Seit Plato, so Arendts Kritik, wurden Regierungssysteme als Herrschaftsformen verstanden, bei denen wenige über viele herrschen. Die Bestimmung von Politik als Handeln hebt diese Trennungen auf. Nicht Einzelne herrschen, sondern Menschen treten handelnd miteinander in Beziehung. Nichtsdestotrotz stellt politisches Handeln für Arendt keine moralische Verpflichtung, kein Opfer für die Aufrechterhaltung politischen Raums dar. Es ist vielmehr ein Impuls, der von Spontaneität und einer Lust am Handeln geleitet ist. Verantwortung sieht Arendt nicht nur als existenzielle Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit, sondern auch als eine Öffnung über die privaten Interessen hinaus in einer gemeinsamen Welt. Sie schreibt: “Verantwortung heißt im wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere folgen werden; in dieser Weise ändert man die Welt.“

Doch eine Frage bleibt: Was befähigt uns Menschen, diesen Handlungsspielraum zu entdecken, uns der eigenen Selbstwirksamkeit bewusst zu werden? Und ist es ausreichend, wenn wir alle paar Jahre unseren Wahlzettel in die Urne werfen, oder geht politisches Handeln darüber hinaus?

“Jedes Handeln ist politisch. Aber ich glaube eine viel größere Frage ist, ob wir in der Zivilgesellschaft verstehen, dass wir noch viel mehr und auch absichtlich organisiert uns politisch einbringen müssen. In Deutschland und auch Europa wird die politische Debatte eher über Wahlen geführt – also die Aufgabe der Bürger*innen sei es dann zur Wahl zu gehen oder sich selbst für ein politisches Amt zur Verfügung zu stellen und das sei dann die Art und Weise wie man politisch mitwirken könne. Und das ist natürlich grundlegend falsch. Wir sehen, dass es notwendig ist, sich auch anders politisch zu engagieren. Denn, obwohl es wichtig ist, zur Wahl zu gehen – ich kann ja nur für das abstimmen, was überhaupt im Parteiprogramm drin steht – und die Frage, wie ich das Parteiprogramm verändere, von außen, auch wenn ich nicht Mitglied dieser Partei bin, ist ganz essentiell. Wir sehen das hervorragend am Beispiel der Klimabewegung FFF, die in Deutschland ja die Parteiprogramme aller Parteien verändert haben, obwohl sie sich nicht hauptsächlich dadurch engagieren, dass sie in die Parteien eintreten und sie von innen verändern, sondern, dass das auch ein Prozess ist, der von außen passieren muss. Das Ganze wird vielleicht auch klar, wenn wir uns ansehen, wie Frauen an das Wahlrecht gekommen sind – sicher nicht, indem sie dafür selber abgestimmt haben. Insofern ist es glaube ich wichtig, dass wir politisches Handeln viel weiter definieren. Abgesehen von den naturwissenschaftlichen Fakten, mit denen wir in den Medien häufig konfrontiert werden, ist es wichtig uns dessen bewusst zu machen, wie soziale Veränderungen überhaupt funktionieren. Wie die sozialwissenschaftlichen Fakten, sind zur Transformation von Gesellschaften, wie sowas abläuft – dass es kein Umlegen eines Schalters ist, sondern ein Prozess, in dem Veränderung von einer kleinen Gruppe von Leuten angestoßen werden, der sich dann immer mehr Menschen anschließen. Dass es ein Prozess ist, bei dem wir versuchen müssen, dass alle Menschen Teil davon werden; dass alle Menschen etwas zu dieser Transformation, die wir unbedingt brauchen, um unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten zu erhalten, dass sie davon Teil sein müssen. Aber das wir auch umgekehrt die Machtstrukturen abbauen müssen, die dieses aktuelle System an seinem Platz halten. Ich glaube viele Menschen haben das durchaus verstanden, und es ist eher eine Aufgabe der Menschen, die sich engagieren, andere Leute davon zu überzeugen, dass sie etwas verändern können, aber ihnen auch Hilfe zu geben, sich zu engagieren. Es gibt viele psychologische Barrieren und viele Menschen, die zwar das Problem sehen, sich aber Sorgen machen, dass sie nichts erreichen können oder nicht wissen wie. Ich glaube da müssen die Menschen, die schon aktiv sind, versuchen Hilfe zu leisten und auf ganz verschieden Ebenen ermöglichen Leuten dieses Selbstvertrauen zu geben und zeigen, dass sie etwas erreichen können und wie, damit sie anfangen können sich zu engagieren, denn niemand fängt an sich zu engagieren und erreicht aus dem Nichts heraus was Großes. Es ist ein Prozess, indem sich Leute unterstützen und im Regelfall sind wir Teil einer Gruppe und nicht alleine. Das ist glaube ich eine ganz wichtige Komponente – dieses gemeinschaftliche Handeln, das Lernen von anderen Gruppen, um politisch und sozial aktiv zu werden und das ganz dringend auch außerhalb der politischen Parteien und außerhalb der typischen Wahlzyklen.” 

Wenn politisches Handeln im Umfeld vielfältiger Vorstellungen und Interessen entsteht, bedeutet das auch, dass Übereinstimmung nicht erzwungen werden kann. Was wir allerdings tun können, ist an eine mögliche Gemeinsamkeit zu appellieren. Hannah Arendt, die diesen Ansatz vertritt, beruft sich dabei auf den aristotelischen Gedanken, dass für ein freiheitliches Zusammenleben die Freundschaft unter Bürgerinnen und Bürgern nicht unterschätzt werden darf. Durch den Austausch erst entsteht die Welt als das uns Gemeinsame, so Arendt. Wenn wir uns mit anderen zusammentun, um zu handeln, dann geht dem, angesichts der Vielfalt der Mit-Handelnden, eine Entscheidung für etwas Gemeinsames und Neues voraus. Wie Carola Rackete sagt, die größte Hürde liegt vermutlich in dem Gedanken, nichts bewirken zu können. Und, um diesem Trugschluss entgegenzuwirken, liegt es an jeder und jedem Einzelnen, mit Mitmenschen – ob Schwester, Freund, Oma oder Arbeitskollege – ins Gespräch zu kommen. Nicht moralisierend oder gar dogmatisch, als vielmehr, offen, neugierig und, indem wir unsere eigene Begeisterung auf andere übertragen. In der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Vielen Dank fürs Zuhören. Wie ihr wisst, ist es unser Bestreben, möglichst unabhängig und werbefrei produzieren zu können. Das müssen wir uns allerdings auch leisten können. Daher, wenn ihr Sinneswandel gerne hört, freuen wir uns, wenn ihr unsere Arbeit als Fördermitglieder unterstützt. Das geht ganz einfach via Steady oder, indem ihr uns einen Betrag eurer Wahl an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schickt. Alle Infos zur Episode, Quellen und weiterführendes Material findet ihr, wie immer in den Shownotes. Mein Name ist Marilena Berends, ich bedanke mich bei euch fürs Zuhören und sage bis bald im Sinneswandel Podcast! 

3. August 2021

Eva von Redecker: (Wie) Kann Aktivismus die Welt bewegen?

von Henrietta Clasen 27. Juli 2021

Als Sinneswandel Redaktion wollen wir in den kommenden Wochen unterschiedliche Aktivist*innen vorstellen, die den Status quo nicht hinnehmen, sondern sich für systemische Veränderung stark machen. Zudem möchten wir uns näher damit auseinandersetzen, was genau Aktivismus eigentlich ist, wie sich Protest abgrenzt, aber auch, wo die Trennlinien womöglich verschwimmen. Den Auftakt beginnen wir mit Philosophin Eva von Redecker und Aktivistin Franziska Heinisch, deren kürzlich erschienene Bücher sich dem zivilen Ungehorsam widmen. Beide Frauen verbindet der Glaube daran, dass nur durch ein aktives Aufbegehren Wandel gelingen kann. Denn eine freie Gesellschaft, eine Demokratie existiert nicht einfach, sie muss gelebt werden – und zwar von uns allen.

Shownotes:

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► Eva von Redecker: Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen. Fischer Verlage (2020).
► Franziska Heinisch: Wir haben keine Wahl – Ein Manifest gegen das Aufgeben. Blessing (2021).
► Ihr findet Eva von Redecker und Franziska Heinisch auch auf Twitter.
► Erfahrt mehr über die Organisation Justice is Global Europe, die Franziska 2020 mitgegründet hat.

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27. Juli 2021

Marina Weisband: Brauchen wir eine (digitale) Bildungsrevolution?

von Henrietta Clasen 20. Juli 2021

Was muss Schule leisten, um junge Menschen auf das Leben vorzubereiten? Was ist die Aufgabe von Bildung? Darüber habe ich mich mit Psychologin und Netzaktivistin Marina Weisband unterhalten. Denn gerade die Corona-Pandemie hat den Innovationsdruck in der Bildung verdeutlicht. Neue Konzepte sind gefragt, um kommende Generationen auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft vorzubereiten. Es bedarf Schulen, die Leidenschaft und Engagement bei jungen Menschen entfachen, um die notwendigen Veränderungen mitzugestalten. 

Shownotes:

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► Mehr von und über Marina Weisband auf ihrer Website und auf Twitter.
► Erfahrt mehr über Marinas Initiative aula – Beteiligung digital.
► Infos zum DigitalPakt Schule des BMBF.

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20. Juli 2021

Irritation – wieso brauchen wir Dissens?

von Henrietta Clasen 13. Juli 2021

Social Bubbles, von denen so oft die Rede ist, es gibt sie bei weitem nicht nur im World Wide Web. Auch im analogen Raum existieren sie. Oder anders gesagt, die Vielfältigkeit und damit auch die Andersartigkeit – zumindest das, was wir als das von uns Andere empfinden – ist uns nicht immer zugänglich. Suchen wir uns doch bewusst, wie unbewusst das aus, was zu uns passt. Ob Freunde, Hobbies, Jobs – gleich und gleich gesellt sich gern. Nur der öffentliche Raum, das, was gemeinhin als Gesellschaft bezeichnet wird, lässt uns erahnen, dass es da noch etwas Anderes gibt. Diese Öffentlichkeit scheint nun mit den Öffnungen von Cafes, Restaurants und Theatern zurückzukehren. In ihrem Essay erzählt die Gastautorin Katharina Walser von ihren Eindrücken seit der Wiedereröffnung vieler Orte, die in Zeiten der Pandemie ihre Türen schließen mussten und wieso sich die Rückkehr, trotz Irritation und Verunsicherung, lohnt.

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► Ilona Hartmann: “Ein ganz normaler Frühling, nur anders” ZEIT Magazin, 06.2021.
► Ewald Palmetshofer:“Vom Fehlen der Anderen Orte” Residenztheater München, 03.2021.
► Michel Foucault: “Die Heterotopien”. Suhrkamp.
► Carolin Emcke: “Journal”. Suhrkamp.
► Carolin Emcke: “Streitraum“.
►Kammerspiele München: What is the City?.

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Transkript: Irritation – wieso brauchen wir Dissens?

Es ist eigentlich egal, welche der sozialen Plattformen, auf denen ich angemeldet bin, ich öffne: ob Twitter, Instagram oder LinkedIn, sobald ich mich einlogge, entsteht bei mir der Eindruck, alle wollen sie die Zukunft retten. Mein Feed suggeriert mir, die Welt bestehe nur aus Idealisten und Utopisten. Aus grünen Wähler*innen, Gutmenschen und Aktivist*innen. Scrolle ich mich durch diesen “Social Feed” – im wahrsten Sinne des Wortes – ist die Welt für einen kurzen Moment wieder heil. Keine Bruchstelle. Kein Dissenz. Kein Gegenargument. Die hat der Algorithmus bereits fein säuberlich aussortiert, um mein bereits labiles Nervenkostüm nicht unnötig überzustrapazieren. Natürlich hält der Schein aber nicht lange Stand, sobald ich etwas tiefer grabe, oder vielmehr scrolle. Dann entdecke ich sie natürlich, die Anderen, die gefühlt nicht ins Bild passen, in diese vermeintlich heile Welt. An guten Tagen, halte ich dem Stand, dem Anderen, verkrieche mich nicht in meine Bubble, die mir die Konfrontation erspart und mich wohlig weich bettet.

Doch diese Social Bubbles, von denen so oft die Rede ist, es gibt sie bei weitem nicht nur im World Wide Web. Auch im analogen Raum existieren sie. Oder anders gesagt, die Vielfältigkeit und damit auch die Andersartigkeit – zumindest das, was wir als das von uns Andere empfinden – ist uns nicht immer zugänglich. Suchen wir uns doch bewusst, wie unbewusst das aus, was zu uns passt. Ob Freunde, Hobbies, Jobs – gleich und gleich gesellt sich gern. Nur der öffentliche Raum, das, was gemeinhin als Gesellschaft bezeichnet wird, lässt uns erahnen, dass es da noch etwas Anderes gibt. Eine Welt außerhalb unserer Bubble. Wie die Kunst, mit ihren manchmal verstörenden und anstößigen Motiven uns vor Augen führt, dass unser Blick auf die Welt nicht der Alleinige und einzig Wahre ist. 

Diese Art der Erfahrung macht auch gerade Katharina Walser. In ihrem Gastessay beschreibt sie ihre Eindrücke seit der Wiedereröffnung vieler Orte, die in Zeiten der Pandemie ihre Türen schließen mussten. Natürlich ist die Freude zunächst groß, dass der Espresso wieder draußen im Café genossen werden, das Theater wieder besucht und in Restaurants wieder geschlemmt werden kann. Aber zu diesem Hochgefühl anlässlich diesen neuen alten Genusses, gesellt sich ein Weiteres: die Irritation. Nicht mehr in der Bubble der heimischen vier Wände zurückgezogen, sind wir nun konfrontiert mit dem Anderen. Das mag die ein oder andere von uns durchaus überfordern. Dass der Schritt der Öffnung, das Begehen dieser neuen alten Räume jedoch lohnenswert ist – selbst, wenn unser Bauchgefühl uns rät, lieber den Rückzug anzutreten – davon erzählt Literaturwissenschaftlerin Katharina Walser in ihrem Gastessay.

Mein Alltag ist im Moment, wie bei so vielen, geprägt von ersten Malen. Nicht ersten Malen nach der Pandemie, aber eben ersten Malen seit der Pandemie. Arbeiten im Lieblingscafé, Treffen auf ein Bier im Park, ein Theaterbesuch, sogar auf einer Hochzeitsfeier war ich vor kurzem. Man kommt so langsam zurück in den öffentlichen Raum. Aber ganz so einfach funktioniert die Umstellung auf das “alte Normal” irgendwie doch nicht. 

So ist deutlich spürbar, dass wir das alles nicht nur einfach geträumt haben. Zwischen Plastik-Trennwänden zu anderen Gästen eines Lokals, oder während wir mal wieder versuchen mit dem letzten bisschen Datenvolumen in die Luca App einzuloggen, ist es sehr klar: die Pandemie ist nicht vorbei und nur weil wir wieder tun was wir kennen, sind wir trotzdem noch weit entfernt von einem unbeschwerten Zusammenkommen mit Anderen. Im Café sitzend versuche ich das alles kurz zu vergessen, den Moment zu genießen, endlich einmal etwas anderes tun zu können als die vergangenen Monate. Ich sehe mir die vorüberschlendernden Menschen an, genieße die Anonymität der Öffentlichkeit, genieße es zu lesen, während andere um mich herum lachen oder in ihre Laptops vertieft sind. Dann kommt der Kellner mit der Rechnung, die Realität bricht herein und zeigt mir wieder, dass ich so einiges erst wieder lernen muss – zum Beispiel schnell zu reagieren. Als ich versuche auszurechnen, wie viel Trinkgeld zu der Rechnung hinzu kommt, scheinen ganze Minuten zu vergehen. “Sorry, irgendwie brauche ich kurz”, sage ich und ich meine ein Schmunzeln unter seiner Maske erkennen zu können. Vielleicht bin ich nicht die erste, die das heute in leichter Überforderung zu ihm sagt, denke ich. 

Irgendwie liegt eine Wolke aus Irritation in der Luft, wenn wir zurückkommen an die Begegnungsorte – ob Lieblingscafe, Bibliothek, Stammlokal oder Fitnessstudio. Es macht auch sehr viel Sinn, dass uns das nicht leicht fallen will. Denn wir imitieren das Leben vor der Pandemie, indem wir wieder machen, was vorher üblich war, obwohl wir wissen, dass es nicht vorbei ist. Das heißt es liegt ohnehin schon eine Sorge über uns, dass es für all das zu früh sein könnte. Zusätzlich müssen wir nun Abläufe und Gesprächsmuster scheinbar wieder neu erlernen, die vor der Pandemie unhinterfragt zum täglichen Leben gehörten. Einige soziale Codes und Verhaltensweisen scheinen wir uns schlicht wieder antrainieren zu müssen, nachdem wir sie lange Zeit nicht brauchten. Vielleicht müssen wir unsere Rolle im öffentlichen Raum, wie von einem langen Winterschlaf, erst einmal langsam zum Leben erwecken. 

Die Autorin Ilona Hartmann berichtet seit Beginn der Pandemie für die ZEIT über “Pandemie Gefühle”. In ihrem letzten Beitrag schreibt sie auch über dieses Gefühl der Zerrissenheit und über die Herausforderung, sich wieder an das Außen anpassen zu müssen. Dazu gehört zum einen das Gefühl der eigenen Abstumpfung: “Vor einem Jahr hat man sein Handy noch ständig desinfiziert, jetzt reicht es wieder, es seitlich an der Hose abzuschmieren”. Hartmann schreibt auch über das Gefühl in die bekannten Räume zurückzukehren, und doch zu merken, dass es eben immer noch nicht so ist wie vor deren Schließung: “Der Frühling dieses Jahr fühlt sich an wie eine Party, auf die man sich ewig gefreut hat, aber dann ist die Bar überfüllt, die Musik zu leise, und ständig sagt jemand ‘Bitte da nicht anlehnen’“. Und sie schreibt über ein Phänomen, das in letzter Zeit ganze Gruppen von Comic-Künstler*innen und Twitter-User*innen zu dem Moment des derzeitigen Lebensgefühls erklärt haben. Nämlich die Schwierigkeit wieder öffentlich ins Gespräch zu kommen: “Hey Siri, was sind gute Small-Talk-Themen außer Impfstoffe?” Es scheint also nicht nur mir so zu gehen. Überforderung, Sehnsucht, ein wenig Sorge, alles mischt sich. Wie es scheint brauchen wir also überraschend mehr Anstrengung, um an einem öffentlichen Leben teilzunehmen, als wir vermutet hätten, nachdem wir uns zwei Jahre lang nach diesem Moment gesehnt haben.

Während wir Anfang des Jahres nur von der Öffentlichkeit träumen konnten, beschreibt der Dramatiker Ewald Palmetshofer in einem Beitrag zur Reihe “Tagebuch eines geschlossenen Theaters”, des Residenztheaters Münchens im März diese Sehnsucht. Sein Impuls-Vortrag trägt den Titel “Vom Fehlen der Anderen Räume” und zeigt, was alles an diesen Orten hängt, in die wir uns nun vorsichtig zurück tasten. Denn mit der Schließung öffentlicher Orte, fehlten auch die Räume für all das, was Gesellschaft und damit Kultur ausmacht: von Vergnügungsorten über Diskussions- und Bildungsstätten – also Orte des Miteinander-Seins. Orte, “an denen das geschehen kann, was nicht Teil des Notwendigen, der Bewältigung des Alltags, der täglichen Sorgen, der Ermüdung, der häuslichen Pflege oder Erziehung, der kräfteraubenden Aufrechterhaltung des gerade noch Möglichen ist.” Was fehlt das ist der Andere Raum. 

Was kann man sich vorstellen unter diesem Anderen Raum? Er ist nach Palmetshofer zunächst einmal überall dort, wo man nicht beschränkt ist auf die eigenen vier Wände – und das ist auch wichtig, nicht beschränkt ist auf die Rolle, die man dort spielt. Der Philosoph Michel Foucault zeigt in seinem Text “Die Heterotopien”, wie sich dieser Ort näher bestimmen lässt. Heterotopien, das sind aus dem griechischen abgeleitet, “die anderen Orte”. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen etwas anders funktioniert als im übrigen Raum. Es sind Orte, die eigenen Ordnungsprinzipien folgen und an denen eine Form der Andersartigkeit, der Differenz erkennbar wird. Das mag erst einmal kompliziert und abstrakt klingen. Anschaulicher werden diese Anderen Orte bei Foucault, sobald er Beispiele für solche Ordnungsgefüge nennt: Eine Heterotopie, das ist der Friedhof ebenso wie das Kino. In diesen Orten treffen und verdichten sich mindestens zwei Welten räumlich, wie zeitlich – Verschiedenes tritt miteinander in Beziehung: im Falle des Friedhofs ist es die Welt der Toten mit jener der Lebenden, im Kino ist es der lokale Publikums-Saal und die Leinwand als Fenster zur Welt. Diese Orte machen also das was für uns ungreifbar und auch schwierig vorstellbar ist, sichtbar und erfahrbar. Sie helfen uns eine Vorstellung davon zu entwickeln, was sonst sehr weit weg von unserer eigenen Lebensrealität geschieht. Deshalb, so Foucault, seien sie besonders wertvoll, da sie gesellschaftliche Normen und Codierungen verhandelbar machen. Denn wenn wir uns an diesen Heterotopien, dieser Anderen Orte, das Andere vorstellen können, dann wird es uns möglich, die eigene Lebensrealität zu diesem Anderen in Beziehung zu setzen. So können wir überhaupt erst das Eigene, als auch das Andere, kritisch hinterfragen. An diesen Anderen Orten entsteht gewissermaßen eine Kontrastfolie zu unserer subjektiven Wahrnehmung. 

Was heißt das für die speziellen Anderen Räumen, an die wir nun zurückkehren? Was bedeutet es für die öffentlichen Begegnungsräume? In der Irritation, die wir verspüren und die Hartmann so schön beschrieben hat, zeigt sich, dass der Außenraum “Reibestellen” erzeugt. Und das ist es auch, was ihn vom heimischen, dem bekannten Raum abhebt. Denn im Privaten, da ist jeder Winkel bekannt, wir kennen jedes Möbelstück genau, der Kaffee schmeckt immer gleich, und der Algorithmus der Entertainment und Informationsmedien liefert uns passend zu unseren bisherigen Interessen immer ähnlichere Inhalte, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten sollen. Das Private ist also gewissermaßen ein glatter Raum, an dem eben nichts, oder wenig Neues hinzu kommt. Nicht, dass es nicht auch gerade Zuhause soziale Reibepunkte gäbe, oder Potenzial zu Irritation – aber der Außenraum konfrontiert uns auf ganz andere Weise mit einer Zufälligkeit. Er hält unbekannte Wahrnehmungen bereit, die in der Isolation nicht zu uns durchdringen können. Er erzeugt Differenzen zu dem bekannten, glatten Raum. Und eben diese Differenzen tragen einen nicht zu unterschätzenden Wert in sich. Gerade angesichts der gemischten Gefühle, mit denen wir der Welt da draußen gerade begegnen, lohnt es sich noch einmal genauer hinzusehen, wo und weshalb dieser Raum so wichtig für uns ist. In Foucaults Gedanken klingt sie schon an, die immense Rolle, die der öffentliche Raum für gemeinschaftliches Leben bedeutet. Und zwar auch, aber eben nicht nur, wegen des freudvollen Beisammenseins. Sondern durch die Momente, die er stiftet, in denen etwas nicht passt. In denen wir mit der Nase auf etwas gestoßen werden, das der Algorithmus nicht vorgesehen hat, das uns überrascht, das außerhalb unserer Bubble liegt – eine neue Idee, etwas Anderes eben. Das Gewohnte und das Eigene bekommt im öffentlichen Raum Konkurrenz. Ein Zustand, in dem das Gewohnte überhaupt erst sichtbar wird. 

Die Autorin und Publizistin Carolin Emcke kommentierte die Gleichförmigkeit des Corona-Alltags und die Irritationsmomente im Außenraum, auf einer Lesung für ihr jüngst erschienenes Pandemie Tagebuch “Journal”. Im Gespräch mit der Journalistin Teresa Bücker zählt sie auf, was sie alles in der Zukunft nach Corona wieder machen will, wie es vermutlich die meisten in den vergangenen Monaten immer wieder getan haben. Während ich an dieser Lesung von meinem Schreibtisch aus über Zoom teilnehme, kann ich die meisten ihrer Wünsche gleich nachvollziehen: Sie spricht von einer großen Feier mit Freunden, von einer Lesung mit echtem Publikum, von ihrer Lieblingseisdiele. Aber ein Punkt überrascht mich: So erzählt Emcke, sie sehne sich sehr danach, einmal wieder in einer vierstündigen Theaterproduktion ausharren zu müssen, die sie sich nicht selbst ausgesucht habe und die ihr nicht gefällt – also quasi das absolute Konterprogramm zur algorithmischen Unterhaltungskultur auf Knopfdruck. Steckt also vielleicht doch mehr in all den kleinen Situationen, die uns jetzt wieder störend auffallen?  Wie die sich stetig räuspernde Frau im Zugabteil, der Kollege, der beim Tippen leise summt? Mir wird klarer, was so ein Ereignis, wie eine langweilige Inszenierung, bedeuten kann, als Emcke betont, dass in so einer Produktion, die einen so gar nicht abholen will, sehr viel mehr passieren könne als Langeweile. Denn diese Zufälligkeiten und die öffentlichen Räume können uns helfen uns zu üben. Uns darin zu üben, das nicht selbst Ausgesuchte auszuhalten. Das manchmal unpassende Außen zu akzeptieren, was auch bedeutet, Kompromisse mit unserer Umwelt einzugehen. 

Eine typische Szene für diesen aufreibenden Außenraum ist vielleicht Folgende: ich sitze wieder einen ganzen Abend am Nebentisch einer unbekannten Gruppe, kann nicht richtig weghören, ihre Gespräche sind zu laut, die Stimmen zu dominant. Immer wieder werde ich dadurch von den Worten meiner Begleitung abgelenkt, lausche worüber nebenan gesprochen wird. Vor allem deshalb, weil ich mit dem Gesagten am Nebentisch so absolut gar nicht einverstanden bin. Die Dame erzählt ihrer Begleitung laut, weshalb die Jugend so schrecklich unpolitisch sei. Ich will aufspringen, mich einmischen, eine Diskussion führen. Ich merke, dass etwas in mir passiert, nur dadurch, dass ich konfrontiert bin mit den Gedanken einer Person, die sich mit meinen eigenen Vorstellungen nicht decken. Ich forme Argumente in meinem Kopf, frage mich welche Erlebnisse sie wohl zu ihrer Annahme gebracht haben. So entstehen in der Reibung durch den Außenraum Gedanken, Zweifel, Vergleiche und ein Gefühl für die Ideen und Werte der Anderen. Darüber hinaus, erfahren wir in einer solchen, oder eigentlich jeder anderen öffentlichen Situation, nicht nur das Andere, sondern auch uns selbst als Andere. Die eigenen Gedanken werden durch das Spiegelbild der Gesellschaft, in der Konfrontation mit dem Anderen, wieder hinterfragbar, denn man kann sie zu etwas anderem in Beziehung setzen.

Emckes ironische Anekdote über öde Inszenierungen hat, glaube ich, sehr viel mit diesem Abend zu tun. Denn sie zeigen beide wie politisch diese öffentlichen Räume sind, in die wir nun langsam zurückkehren. Denn an ihnen wird durch das Aushalten von Anderem auch Akzeptanz für Pluralität geübt, da sie das Verschiedene zusammenführen. Diese Orte, die nun ihr Wiedereröffnen feiern, sind also weit mehr als Vergnügungsorte. Es sind, mit Palmetshofers Worten, “Orte des ungezwungenen Gesprächs, der Zwischentöne, des Witzes, die Orte der Debatte und der gemeinsamen inhaltlichen Durchdringung, der Lehre und Bildung (ob Kaffeehaus, Hörsaal, Volkshochschule oder Foyer) und die Orte der Betrachtung künstlerischer Hervorbringungen (im Theater, Museum, Kabarett, in der Oper, der Konzerthalle)”. Diese Orte der Zwischentöne, produzieren sowohl Vielfalt als auch Kompromiss, mit uns und unseren Mitmenschen – und das ist etwas, das direkt mit dem Erhalt demokratischer Prinzipien zu tun hat. 

Wenn wir nun also zurückkehren an diese Orte, halte ich es für umso wichtiger, dass wir uns diese Funktion in Erinnerung rufen und nicht vergessen, wie fahrlässig sie hinter den Labels des Vergnügens, als nicht systemrelevant abgetan wurden. Diese Orte, die geschlossen blieben, während der Erhalt von Großraumbüros nicht einmal zur Debatte stand. Und, dass wir uns weiterhin, natürlich unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen, den Anstrengungen des Außenraums stellen. Uns nicht wieder zurückziehen hinter private Mauern, wo es uns unter Umständen leichter auszuhalten scheint. Ein wichtiger Teil davon wird sein, Projekte und Formate zu verfolgen und zu unterstützen, die sich dem Erhalt des öffentlichen Raums widmen, genauso wie dem Erhalt pluraler Begegnungsformen. Wie geht das in diesem Zwischenzustand, in dem wir nun mit einem Bein in der Pandemie stehen und uns mit dem anderen zurück in die Welt wagen? 

Ein Format, dass diese Fragen diskutiert, ist zum Beispiel Carolin Emckes “Streitraum” an der Berliner Schaubühne, der sich die Stärkung von Debattenkultur zu Aufgabe macht. Im “Streitraum” diskutiert Emcke mit Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Kunstschaffenden unter dem Titel “Die andere Schock-Therapie – welche Gesellschaft wollen wir »nach« COVID-19 sein?”. Es geht unter anderem darum, wie es sich verhindern lässt, dass die aus der Pandemie gewonnen gesellschaftlichen Lehren, wie die nach der Relevanz des öffentlichen Raums, nicht sofort wieder in Vergessenheit geraten, sobald die Krise »vorbei« ist, und welche politischen und sozialen Utopien es braucht, um eine “andere Normalität” möglich zu machen. 

Aber zusätzlich zu diesen Formaten, an denen wir eben immer noch nur digital teilnehmen können, lohnt es sich auch einen Blick auf Projekte zu werfen, die in der Pandemie mit dem Raum erfinderisch umgegangen sind. Die Begegnungs- und Gesellschaftsräume neu denken wollen und dabei konkrete kulturpolitische Fragen in den Blick nehmen: In welchen Räumen, unter welchen Umständen können wir uns treffen, ohne uns und andere einem Risiko auszusetzen? Wie kann Kultur stattfinden, ohne lediglich die bekannte Form in den digitalen Raum zu verlegen? Wie können wir Begegnung möglich machen, auch in Zeiten, in denen physischer Kontakt erschwert ist? Wo können wir politisch in den Austausch kommen, wie Öffentlichkeit wieder gestalten? Diesen Fragen geht zum Beispiel ein Projekt der Münchner Kammerspiele nach, das in Form einer Stadtraum-Performance mit dem Titel “What is the City?”, die Fragen von mögliche Begegnungsorte auf die Open Air-Bühne holt: Auf einem 60 Meter langen Laufsteg auf dem Königsplatz, werden 150 Münchner*innen inszeniert: Ex-Operndiven, Manager*innen, Arbeitssuchende, Braumeister*innen, Dragqueens, Eisbachsurfer*innen, Obststand Betreiber*innen, während online Texte gesammelt werden, die sich mit den drängenden Fragen des Stadtraums in der Pandemie beschäftigen.

Mein Wunsch ist also, dass wir zuhören und zusehen, was solche Veranstaltungen leisten und überlegen, wie wir diesen wiedergewonnenen Raum gemeinsam und verantwortlich nutzen können. Zu Beginn der Pandemie hingen in meinem Wohnviertel in überall Zettel, auf denen Nachbar*innen ihre Hilfe anboten: “Brauchen Sie Hilfe beim Einkaufen?” Vielleicht frage ich jetzt vor einer Verabredung: “Wollen wir ein bisschen Gesellschaft üben?” Denn wie Palmetshofer formuliert: “Das Politische findet nicht bloß in den Räumen demokratischer Institutionen statt, sondern – unverzichtbar – auch ganz konkret in den Begegnungszonen”, also an den Anderen Orten, die in Zukunft von der Politik indiskutabel mitgedacht werden müssen. 


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13. Juli 2021

Igor Levit: Können wir überhaupt unpolitisch sein?

von Henrietta Clasen 12. April 2021

Was macht ein Pianist, der keine Konzerte mehr spielen kann? Auf diese Frage gibt es sicherlich viele Antworten. Eine davon liefert Igor Levit, den die New York Times als einen der „bedeutendsten Künstler seiner Generation“ beschreibt. Bereits am 12. März 2020, entschließt sich Igor die Konzerte in sein heimisches Wohnzimmer zu verlegen. Jeden Abend um 19 Uhr spielt er live – und tausende von Menschen schauen und hören ihm via Twitter und Instagram dabei zu. Marilena hatte die Gelegenheit, sich mit Igor Levit persönlich zu unterhalten und mit ihm über das vergangene Jahr zu sprechen, das ihn, wie er sagt, näher zu sich selbst geführt hat, wie kaum ein anderes. Es ist ein Gespräch, das sehr persönlich erscheinen mag, uns auf der anderen Seite aber auch das Politische, das Igor als untrennbar mit seinem Wesen verknüpft begreift, vor Augen führt. Denn gibt es eigentlich irgendetwas im Leben, das nicht politisch ist? Können wir unpolitisch sein? 

Shownotes:

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► Igor Levit, Florian Zinnecker: Hauskonzert. Hanser Literaturverlage.
► Musik: Waldsteinsonate, Igor Levit. Mit freundlicher Genehmigung von Sony Music International .

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12. April 2021

Kann Kunst Gesellschaft verändern? Ja, sagt Beuys!

von Ricarda Manth 23. Februar 2021

Die Gesellschaft als “Soziale Plastik”. Ein Begriff, den der Künstler Joseph Beuys verwendete, um den Aspekt der Gestaltung und das Partizipative hervorzuheben, was er u.a. durch ein Zuviel an Bürokratie bedroht sah. Daher rief er mit seiner Kunst, wie auch mit seinem politischen und gesellschaftskritischen Engagement dazu auf, selbst aktiv zu werden, das eigene kreative Potenzial zu nutzen – im Sinne eines “erweiterten Kunstbegriffs”. In dieser zweiten Episode, anlässlich Beuys 100. Geburtstag, habe ich mit dem Autor und Verleger Rainer Rappmann gesprochen, der den Künstler persönlich kannte.

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► Fiu-Verlag.
► Verein Soziale Skulptur.
► Museum Ulm: “Ein Woodstock der Ideen – Joseph Beuys, Achberg und der deutsche Süden”.

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23. Februar 2021

Jeder Mensch, ein Künstler – Was macht Beuys aktuell?

von Ricarda Manth 11. Februar 2021

„Kunst ist die einzige Kraft, die die Menschheit von jeglicher Unterdrückung befreit“, so der Künstler Joseph Beuys. Dabei wollte er die Kunst keinesfalls auf das Schwingen eines Pinsels reduziert wissen. Für Beuys war sie weitaus mehr: Kunst, als die Grundlage allen Gestaltens und damit auch das der Gesellschaft, wenn man sie als “soziale Plastik” begriff. Angesichts Beuys 100. Geburtstag, der in diesem Jahr stattgefunden hätte, wollen wir sein Denken und Schaffen in die Gegenwart holen. Was macht Beuys auch, oder gerade heute aktuell? Wir sprechen u.a. mit Menschen, die Beuys persönlich kannten, genauso, wie mit Künstler*innen, die im weitesten Sinne in seine Fußstapfen treten. Den Anfang des Beuys-Spezials macht Bettina Paust, Leiterin des Wuppertaler Kulturbüros und davor langjährige künstlerische Direktorin des Joseph Beuys Archivs Schloss Moylands. 

Shownotes:

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► beuys2021: Programm und Infos.
► Utopiastadt: Zukunftsort und Kreativprojekt in Wuppertal.
► Joseph Beuys-Handbuch – Leben Werk Wirkung erscheint im Juli 2021 im metzler Verlag.
► Wuppertaler Performance Festival im Rahmen von beuys2021.

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11. Februar 2021

Frank Adloff: Denkbar, eine post-neoliberale Welt?

von Ricarda Manth 4. Februar 2021

Wie können wir in Zeiten der Globalisierung miteinander leben, uns unterscheiden und Konflikte haben, ohne uns zu massakrieren? Erst kürzlich, im September 2020, erschien das zweite konvivialistische Manifest, in dem über 300 Intellektuelle aus 33 Ländern für neue Formen des Zusammenlebens und eine „post-neoliberale Welt“ plädieren. Der Soziologe und Mitinitiator Frank Adloff erklärt im Gespräch was es mit dem Konzept des Konvivialismus auf sich hat und welche Ziele es verfolgt. 

Shownotes:

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  • Die Deutsche Website der Konvivialisten.
  • Die Französische Website Convivialisme.
  • Das erste sowie das zweite Konvivialistische Manifest finden sich auf der Website des transcript Verlages als Open Source Dateien zum kostenlosen Download.
  • Das Forschungskolleg “Zukünfte der Nachhaltigkeit” der Universität Hamburg.

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4. Februar 2021

Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

von Ricarda Manth 12. Januar 2021

Der Faulenzer hat einen eher schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die Arbeit und Leistung glorifiziert, gilt er als unproduktiv und nutzlos. Doch dies war keineswegs immer so. Zumindest wurde in der Antike noch der Müßiggang hochgehalten, als notwendiger Rückzug zur Charakterbildung. Und auch später in der Geschichte erhoben sich immer wieder Stimmen, wie die Bertrand Russells oder Paul Lafargues, die ein „Recht auf Faulheit“ proklamierten. Doch worin besteht eigentlich das emanzipatorische Potenzial der Muße?

Shownotes:

► Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs. (1935).
► Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. (1883).
► Joachim Schultz und Gerhard Köpf: Lob der Faulheit. Geschichten und Gedichte. Insel Verlag (2004).
► Ottokar Wirth: Lob des Nichtstuns oder die Kunst der Muße und der Faulheit. Sanssouci (1973).
► Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. (1929).
► Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern. (1945).
► Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (1929).
► Iwan Gontscharow: Oblomow. (1859).
► John Maynard Keynes: „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel”. (1930).
► Deutschlandfunk: Faulheit – Todsünde oder Tugend?. André Rauch im Gespräch mit Michael Magercord.
► Zeit-online: Reformation: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetisch. Patrick Spät.

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Kontakt:

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Transkript: Recht auf Faulheit: Zeit & Muße demokratisieren?

Hallo und herzlich willkommen im Sinneswandel Podcast. Mein Name ist Marilena Berends und ich freue mich, euch in der heutigen Episode zu begrüßen.

Bevor wir einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Denn in das Recherchieren des Podcast stecken wir eine ganze Menge Zeit. Damit wir uns das weiterhin leisten können, brauchen wir eure Unterstützung. Als Fördermitglieder, die ihr schon ab 1€ sein könnt, sorgt ihr nicht nur dafür, dass wir weiterhin unabhängig und werbefrei produzieren können, ihr nehmt zudem regelmäßig an Buchverlosungen teil. Wie ihr uns und unsere Arbeit unterstützen könnt, erfahrt ihr in den Shownotes. Dort habe ich alles verlinkt. Vielen Dank.

“Donnerstag, den 5. Auftrag bekommen, Plauderei “Über die Faulheit” zu schreiben. Liegestuhl gekauft. Darin in entspannter Lage über das Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen. […]

Samstag, den 7. Diese Notizen ins Tagebuch eingetragen. Davon erschöpft, deshalb freien Nachmittag eingelegt. […]

Donnerstag, den 12. Erkenntnis: Faulheit ist der Humus des Geistes. Erhabene Gedanken gedeihen nur in körperlichem Ruhezustand. […] man muss sich ohne schlechtes Gewissen zur Faulheit bekennen.”

Diese Worte stammen von dem deutschen Schriftsteller und Satiriker Thaddäus Troll. Und, seien wir ehrlich, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Hier könnte meine Arbeit beendet sein. Denn, ist es nicht paradox an sich, Zeit und Muße auf einen Essay über das Faulenzen, die vita contemplativa, das dolce far niente, das süße Nichtstun zu verwenden? Gelangt man nicht schlussendlich, wie auch Thaddäus Troll, an den Punkt, dass es viel lohnender ist, sich dieser hinzugeben, statt sich unnötig den Kopf über sie zu zerbrechen?

Nicht unbedingt. Es kommt ganz darauf an, wie wir “Faulheit” definieren wollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden eine Reihe an Begriffen, die diesem ähnlich sind, oft synonym verwendet. Dabei besteht zwischen diesen, bei genauerer Betrachtung, ein kleiner, aber feiner Unterschied. So ist die Faulheit nicht zu verwechseln mit dem bloßen Nichtstun. Denn das Nichtstun, sofern es überhaupt möglich ist, beschränkt sich auf einen Zustand des Verharrens, die Unbeweglichkeit. Auch die Langeweile, die oft mit dem Nichtstun in Verbindung gebracht wird, ist keineswegs identisch mit der Faulheit. So findet sich das Subjekt in der Langeweile dem Nichts ausgeliefert. Es ist ein Zustand, der selbst kaum herbeizuführen ist, einen vielmehr überkommt. Nicht immer freiwillig. Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung, ist die Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins, wie es der Philosoph Martin Heidegger in “Die Grundbegriffe der Metaphysik” beschreibt. Der Begriff der “Muße” hat aber wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Faulenzertum. Sie bezeichnet die Zeit, über die eine Person nach eigenem Wunsch verfügen kann. Ein etwas altertümliches Wort, das peu a peu durch Begriffe, wie “Freizeit” oder “quality time” abgelöst wurde. Wenngleich diese heute wohl anders in der Praxis gelebt werden, als die Denker der Antike einst die Muße definierten, die vor allem als otium cum dignitate, die als mit philosophischer Betätigung verbrachte würdevolle Muße in Zurückgezogenheit, verstanden wurde. Und eben darin liegt vielleicht auch der Unterschied zwischen Muße und Langeweile: “Müßiggang. Da ist in der letzten Silbe immer noch einer unterwegs. Er sucht nach Arbeit”, argumentiert der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre. “Muße hat den entscheidenden Nachteil. Sie impliziert die Frage wofür.”

Wenn der Faulheit, das lässt sich kaum leugnen, ähnlich, wie auch der “Trägheit”, eine gewisse Negativität, eine Abwertung anhaftet, so ist der Aspekt, der für das Faulenzen ganz fundamental scheint, jener der Selbstbestimmung. Trifft doch der Mensch aus eigener Kraft, sofern es sich nicht um lähmende Antriebslosigkeit handelt, wie beispielsweise bei einer Depression, die Entscheidung, sich einer auferlegten Arbeit zu widersetzen, um sich stattdessen etwas zu widmen, das ihm dienlicher scheint. Ein Akt der Rebellion schlechthin: “Jemand der faul ist, nimmt sich seine Freiheit. Faulheit ist der höchste Grad der Freiheit: Ich tue nicht, was du von mir willst, ich tue, was ich für mich entscheide!” , argumentiert der französische Philosoph André Rauch im Deutschlandfunk. Und er führt pointiert fort: „Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde?!“

Kein Wunder also, dass diese Form der stillen Revolte, die Gefahr, die durch das emanzipatorische Potenzial der Faulheit geboren wird, nicht von allen gutgeheißen wurde und wird. Vor allem nicht von den Reichen und Mächtigen. “Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört”, schreibt der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1935 in seinem Aufsatz “Lob des Müßiggangs”. Und weshalb, ließe sich fragen, sollte denn nicht jeder das Recht und den Anspruch auf etwas Zeit für sich haben? Wieso diese Mißgunst? Nun ja, das lässt sich recht leicht erklären, fährt Russell fort: “Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. […] Wer Zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muss.” Und, wie heißt es im Volksmund nicht so schön: “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Die Arbeit sollte also das einfache Volk davon abhalten sich sinnlos zu betrinken und Unfug zu treiben. Diese vordergründigen Sorgen um das Wohlergehen der Armen verschleiern jedoch, was eigentlich hinter  den vermeintlich guten Absichten steht. So schreibt Russell: “Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benützen, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben […] und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit.” Die Armen durften also nicht “unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen.”

Denn eines war klar, einer musste ja arbeiten, um den anderen das gute Leben zu ermöglichen. Nicht umsonst hatten in der Antike bei den alten Griechen und Römern hierfür die Sklaven herzuhalten. Während die vita contemplativa nur den edlen Herren, den freien Bürgern vergönnt war und als erstrebenswertes Ideal galt, wurde die vita activa, also die schwere, meist körperliche Arbeit, den Unfreien, den Sklaven überlassen. Irgendeiner musste ja Colloseum und Akropolis errichten und den Wein anbauen, an dem sich die Denker in den Stunden der Muße ergötzten. Wenngleich diese Aufteilung maßlos ungerecht sein mag, so lässt sich dennoch über die Antike sagen, sie hatte ein äußerst wohlwollendes Bild von der Muße, sofern sie sinnvoll, im Sinne der Charakterbildung, eingesetzt wurde. 

Doch dann tauchte Martin Luther im 15. Jahrhundert auf der Spielfläche auf und sprach: “Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.” Der Dienst am Herrn war geboren. Als also plötzlich die Faulheit gleichgesetzt wurde mit Nichtstun und Untätigkeit, wurde der Faule zugleich jemand, dem es an Bürgersinn mangelte. Während der Protestantismus mit Luther die Arbeit hochhielt, wandte er sich gegen jeden Müßiggang. Die protestantische Ethik, so Max Weber, sei zu einer wesentlichen Grundlage des Frühkapitalismus geworden. Und Luther, so ließe sich ergänzen, der Vater des modernen Arbeitsfetisch, des homo oeconomicus, als der wir heute noch, wie die emsigen Ameisen, rastlos ackern und rackern.

“Die Faulheit”, so Philosoph André Rauch, sei “ja auch deshalb so interessant, weil sie uns unser Hin- und Hergerissensein zeigt. Sie spiegelt, wie jede Epoche, jede Zeit, jede Gesellschaft oder auch jede Nation sich selbst sieht, sie zeigt uns unsere Phantasmen. Und auch, was uns und unsere stetig fortschreitenden Gesellschaften wirklich antreibt. Denn wenn es ein Gegenstück zum Fortschritt gibt, dann ist es die Faulheit.” Die Geschichte der Faulheit, als eine Geschichte der herrschenden Moral?

Was sagt es also über unsere heutige Gesellschaft aus, die, trotz aller technischer Innovationen, die in den vergangenen Jahren hervorgebracht wurden, sich dennoch an dem Wert von Arbeit manisch festzuklammern scheint? Sie vielleicht mehr denn je lobpreist und glorifiziert. Hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes doch bereits 1930 prognostiziert, dass sich die Menschen in 100 Jahren längst an einer 15-Stunden erfreuen würden. Doch selbst, wenn uns bis 2030 noch ein paar Jahre übrig bleiben, so ist zu bezweifeln, ob eine Kehrtwende, welche die Loslösung von Arbeit und Leistung als Maßstab für Produktivität und Sinn voraussetzte, noch denkbar ist. Beruhen die Identitäten postmoderner Subjekte doch genau auf jenen Tätigkeiten, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Und auch die Utopie einer Vollbeschäftigung scheint längst nicht hinter uns gelassen – insbesondere nicht in einer Krisen geprägten Zeit, wie der unseren. Eine Abkehr vom Arbeitsethos, wie eine Hinwendung zu Müßiggang, wenn dies gelingen soll, bedarf einen wahrhaftigen Sinneswandel. Eine Neubetrachtung des Menschen, unseres Selbstbildes, als auch der Ziele einer Gesellschaft. Denn, wer über die Verfügbarkeit und den Nutzen von Zeit spricht, der stellt zugleich die Frage nach dem guten Leben. Und so wird die Faulheit, also die Frage der Nutzung von Lebenszeit, zur Kernfrage des Lebens schlechthin.

“Wenn ich der Gesellschaft meine Vormittage und meine Nachmittage verkaufte, wie es offenbar die meisten tun”, schreibt Henry David Thoreau, “würde für mich gewiss nichts mehr übrig bleiben, für das es sich lohnt zu leben.” Nun war Thoreau auch jener Schriftsteller, der den Rückzug in die Wälder und das einfache Leben postulierte. Am 4. Juli 1845 bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See. Hier verbrachte er allein, wenn auch nicht gänzlich abgeschieden, zwei Jahre. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Damit beschreibt Thoreau ein Gefühl, das dem heutigen Wunsch nach Entschleunigung, dem Ruf nach weniger und Einfachheit, wohl ziemlich nahe kommt. Unübersehbar, quillen die Regale von Fachzeitschriften Händlern über, mit Illustrierten, deren Cover Titel, wie “Hygge”, “Landlust” und “slow” schmücken. Selbsthilfe Ratgeber fluten den Markt mit immer neuen Strategien für mehr Gelassenheit und Lebensglück. Meditation, Yoga, Wellness – hauptsache mal runterkommen. Endlich mal Zeit für sich haben. Doch der Verdacht wird schnell laut, dass auch die Übung in Achtsamkeit, das bewusste Besinnen, am Ende doch nur dem Zweck, die eigene Produktivität und damit das Rad der Wirtschaft am Laufen zu halten, dient. 

Denn Schritt für Schritt hat sich auch die Idee der Freizeit von der des Faulenzens freigemacht. Und wurde eingenommen von der Vorstellung, Muße sei eine Zeit voller Beschäftigung, in der Faulheit keinen Platz mehr habe. Eine Zeit des Konsums, des Zweckgerichteten, des Geschäftigen und Umtriebigen. Aber, immerhin ist sie doch selbstbestimmt, oder etwa nicht?! Nichtsdestotrotz scheint die moderne Wellness- und Mindfulness-Kultur nur noch wenig mit dem klassischen Begriff der Muße gemeinsam zu haben. Hat sich die Freizeit also, ohne, dass wir es bemerkten, etwa auch dem Zwang des “um zu”, der Nutzen-Logik kapitalistischen Wirtschaftens unterworfen? Ist dies der Grund, weshalb wir, trotz der maßlosen Fülle an Freizeitangeboten, uns dennoch getrieben und nahezu überfressen fühlen?

Der Geist “muß, um eigentlich zu philosophieren, […] wahrhaftig müßig sein: er muss keine Zwecke verfolgen”, schrieb Arthur Schopenhauer. Es scheint, solange alles, selbst Freizeit und Muße, dem Dogma der Produktivität unterliegen, werden wir wohl kaum in den Geschmack eines gutes Lebens kommen. “Wer nun weiter kommen will auf dem Weg zu einer nachhaltigen Moderne – mit und mithilfe der Faulheit – muss nach vorne schauen, muss Faulheit in die Zukunft überführen, muss Faulsein als Vision für eine zukünftige Welt entwerfen”, so der Philosoph André Rauch. 

Dieser Überzeugung war auch schon der französische Sozialist und Arzt, Paul Lafargue. In seinem bekannten Werk von 1883, “Das Recht auf Faulheit”, eine Widerlegung des “Rechtes auf Arbeit”, schreibt er: “O Faulheit, erbarme dich unseres langen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden, sei der Balsam für die Leiden des Menschen!” Wie kam Lafargue zu einer solchen, insbesondere für die damalige Zeit, radikalen Einsicht? Was ließ ihn davon überzeugt sein, dass, wie er es selbst ausdrückte, “Alles individuelle und soziale Elend […] seiner Leidenschaft für die Arbeit” entstamme”?

Nun, ganz ähnlich, wie auch später Bertrand Russell, beobachtete schon Lafargue mit großem Argwohn die wachsende Ungleichheit, die er insbesondere auf die Ausbeutung des Proletariats, der Arbeiter durch die Bourgeoisie, also die Kapitalisten, zurückzuführte. Lafargue stellte nichts geringeres, als den Fortschritt, der durch die Industrialisierung erhofft wurde, in Frage, dabei jedoch nicht selten zynisch und mit einer Prise Humor. So schrieb er: “es wäre besser, man vergiftete Brunnen, man säte die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten.” Auch er plädierte für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Nicht nur zum Schutz der Arbeitenden, sondern auch, da er davon überzeugt war, dass durch die Überproduktion, durch das zu viel an Arbeit, ein Konsumzwang entstünde. Also das, was wir heute erleben. Wir müssen wachsen. Immer weiter wachsen. Über die planetaren Grenzen hinaus. Indem wir schuften und das, was wir erarbeiten, in unserer Freizeit konsumieren. Ein ewiger Teufelskreis.

Könnte mehr Muße, mehr Faulheit also vielleicht sogar die Zukunft sein? Der neue Fortschritt?  “Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren”, rief Bertrand Russell aus. Und in einer Ansprache anlässlich des Festes von Sankt Faulpelz  im Jahre 1949 – ja, das gibt es wirklich – hieß es: “Das Faulenzen – es ist doch das Fundament jedes Fortschritts der Menschheit! […] Würde man alle Arbeitsstunden zusammenzählen, die auf die Herstellung aller Maschinen zur … Vermeidung von Arbeit, zur Erlangung einiger Augenblicke Müssiggangs verwendet worden sind, so käme man mit Sicherheit zum Ergebnis, dass die Faulheit die Mutter der Arbeit ist.”

Seien wir also ehrlich, der Mensch versucht schon seit jeher der Arbeit zu entkommen. Nicht nur, indem er vor ihr flüchtet, sondern auch oder vor allem, durch Innovationen, durch Ideen, die er hervorbringt, die das Leben genüsslicher machen. Der im 18. Jahrhundert lebende deutsche Schriftsteller und Satiriker Karl Julius Weber, war sogar der Auffassung, der Mensch sei faul von Natur aus. Die Faulheit sei sogar “der Vater unserer geselligen Verbindungen”, wie er schreibt. Kein Wunder also, dass heute immer häufiger von einer Vereinsamung der Gesellschaft gesprochen wird. In der keiner Zeit mehr für den anderen hat. In der selbst Muße zu Freizeitstress mutiert ist. Wie sollen aus diesem Zustand allgemeiner Gereiztheit und Isolation, unter permanenter Berieselung von Konsum, noch gescheite Gedanken, geschweige denn Gemeinschaftssinn entstehen?

Wenn Faulheit tatsächlich der “Humus des Geistes” ist, wie Thaddäus Troll proklamiert, dann sollten wir sie endlich von ihrem Bann befreien. Von dem Fluch der Unproduktivität erlösen, und ihr die Ehre zuteil werden lassen, die ihr eigentlich gebührt, als Mutter aller Künste. Faulheit und Müßiggang stellen nicht etwa das Gegenteil von Arbeit dar, sondern bilden erst die Voraussetzung für jedes kreative Schaffen und Schöpfen. Faulenzen und Muße, als das Gegenteil von Fremdbestimmung und Verwertungszwang, heben zugleich die Trennung auf: von Freizeit und Arbeit, von Denken und Fühlen, von Sein und Sinn.

Nicht umsonst heißt es, “in der Ruhe liegt die Kraft”. Gäben wir den Menschen mehr freie Zeit, die Erlaubnis, sie nach Lust und Liebe zu “verplempern”, so eröffneten sich uns vielleicht gar neue, nachhaltigere Formen des Wachsens und Gedeihens. So schreibt Friedrich Schlegel in seiner “Idylle über den Müßiggang”: “alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigene Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? […] Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene. […] Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.”

Nun, wir müssen es vielleicht nicht gleich übertreiben, wie Oblomow, der sich gänzlich der Passivität hingibt und in den ersten 100 Seiten Iwan Gontscharows gleichnamigen Romans, nicht einmal zum Aufstehen bequemt. Vielmehr liegt das emanzipatorische Potenzial der Faulheit in dem Akt der Selbstbestimmung. Einer Demokratisierung von Zeit und Muße, die wohl kaum eine Gesellschaft träger Oblomows produzieren würde, als vielmehr Menschen, die wieder Freude fänden am kreativen Schaffen, am Leben jenseits der Verwertungslogik. So schreibt keine geringere, als Virginia Woolf in ihrem Essay “Ein Zimmer für sich allein”: “gerade wenn wir untätig sind, wenn wir träumen, taucht die versunkene Wahrheit manchmal auf.” 

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12. Januar 2021

Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

von Ricarda Manth 24. November 2020

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer.

Ein besonderer Dank gilt den Fördermitgliedern, die Sinneswandel als PionierInnen mit 10€ im Monat unterstützen: Anja Schilling, Christian Danner, René Potschka, Bastian Groß, Pascale Röllin, Sebastian Brumm, Wolfgang Brucker, Philip Alexander Scholz, Holger Bunz, Dirk Kleinschmidt, Eckart Hirschhausen, Isabelle Wetzel, Robert Kreisch, Martin Stier, Susanne Längrich, Annette Hündling, Deniz Hartmann, Torsten Sewing, Hartmuth Barché, Dieter Herzmann, Hans Niedermaier, Constanze Priebe-Richter, Birgit Schwitalla, Heinrich Ewe, Julia Freiberg, Dana Backasch, Peter Hartmann, Martin Schupp, Juliane Willing, Daniela Lange und Andreas Tenhagen.

Shownotes:
► Unterstützt die Organisation Ciocia Basia, die ungewollt Schwangeren aus Polen helfen, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen.
► Heinrich Böll Stiftung: Zum Recht auf Abtreibung in Polen.
► Spiegel: Abtreibungen und Frauenbild.
► Zeit Online: Verfassungsgericht verbietet Schwangerschaftsabbruch bei kranken Föten.
► The Guardian: A backlash against a patriarchal culture.
► Zeit Online: Vertraut den Frauen.
► bpb: Die Paragrafen 219 und 218 Strafgesetzbuch machen Deutschland zum Entwicklungsland.

Macht (einen) Sinneswandel möglich, indem ihr Fördermitglieder werdet. Finanziell unterstützen könnt ihr uns auch via PayPal oder per Überweisung an DE95110101002967798319. Danke.

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Transkript: Mein Körper, meine Entscheidung: Protest der Frauen* in Polen

Die Stimmung ist angespannt. Nur wenige Tage vor dem “Internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” wird sich weltweit auf Aktionen und Proteste vorbereitet. Trotz der schwierigeren Bedingungen versuchen Frauen den öffentlichen Protest in Zeiten von Versammlungs- und Kontaktbeschränkungen zu verteidigen. Denn auch in diesem Jahr gibt es viele Gründe, sich gegen die ökonomische Ungleichheit und gegen männliche, patriarchale Gewalt und Machtverhältnisse aufzulehnen: Ausbeutung, Diskriminierung, fehlende gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit, Bildung, Politik und Gesellschaft, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und Vergewaltigung. Der Körper der Frau als Zielscheibe patriarchaler Politik gehört alles andere, als der Vergangenheit an, wie sich auch anhand der kürzlich in Polen geplanten Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sehen lässt. Auch dort gehen sie auf die Straßen. Es wird vom “Protest der Frauen” gesprochen. Deren schwarze Kleidung zum Symbol des Widerstands wird, in einem Moment, in dem das Recht, als Frau über den eigenen Körper, das eigene Leben entscheiden zu dürfen, noch weiter beschränkt zu werden droht. 

Weltweit, so Amnesty International, stellen unsichere Schwangerschaftsabbrüche noch immer eine der häufigsten Todesursachen von Frauen, mit geschätzten 25 Millionen unsicheren Abtreibungen pro Jahr dar. Bei jeder gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs handelt es sich um einen fundamentalen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau und es ist ein Kernelement der Frauenunterdrückung. Es gibt keinen vergleichbaren gesetzlichen Eingriff in die körperliche Integrität des Mannes. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist daher unzertrennlich vom Kampf für Gleichberechtigung. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit, kein Tabu und kein Schicksal, dem sich Frauen zu beugen haben. Der 25. November, als “Internationaler Tag zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen” ist daher ein Tag, an dem wir aufstehen und gegen Gewalt, Sexismus, Ausgrenzung und Ausbeutung protestieren sollten. In Polen, Deutschland, weltweit – Frauen, wie Männer. Der heutige Beitrag soll sowohl die Relevanz der Thematik unterstreichen als auch unsere Solidarität mit den Protestierenden in Polen bekunden. Verfasst hat ihn Gastautorin Isabell Leverenz, die sich bereits seit ihrem Studium der Kulturwissenschaften und Psychologie mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Verschränkungen, wie Rassismus und Sexismus befasst. 

Bevor wir inhaltlich einsteigen, möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass ihr uns nach wie vor finanziell unterstützen und damit einen Sinneswandel möglich machen könnt. Als Fördermitglieder ermöglicht ihr nicht nur die Produktion des Podcast und wertschätzt unsere Arbeit, ihr habt zudem die Möglichkeit regelmäßig an Buchverlosungen teilzunehmen. Finanziell unterstützen, könnt ihr uns zum Beispiel über Paypal.me/sinneswandelpodcast – das geht schon ab 1€. Alle weiteren Optionen habe ich in den Shownotes verlinkt. Vielen Dank.


»Wir haben genug«, »mein Körper, meine Entscheidung«, »To jest wojna – das ist Krieg«, heißt es auf zahlreichen Plakaten der Menschen – vorwiegend Frauen – die derzeit zu Zehntausenden in Polen demonstrieren. Mit »Krieg« ist der Krieg des Staates gegen die Körper von Frauen gemeint. Am 22. Oktober 2020 ist in Polen ein neues Gesetz in Kraft getreten, das es ungewollt Schwangeren fast gänzlich verbietet, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Ohnehin schon hatte das katholisch geprägte Land – neben Irland und Malta – eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Europäischen Union. Seit 1993 war in Polen ein Abbruch nur dann legal, wenn die Schwangerschaft die Gesundheit oder das Leben der Mutter gefährdet, sie Folge einer Straftat ist, oder eine schwere und irreversible Beeinträchtigung des Fötus vorliegt. Mit dem neuen Gesetz gilt letzterer Grund nun als verfassungswidrig. Das heißt: Es zwingt Frauen dazu, ihre Schwangerschaft auch dann fortzuführen, wenn der Fötus entweder unheilbar erkrankt oder nicht lebensfähig ist. Es schränkt damit ihr Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung noch weiter ein. Und – diesen Punkt möchte ich anmerken – das Gesetz adressiert zwar Frauen, betrifft aber in der Praxis Menschen mit Uterus, also auch trans-Männer und Personen mit nicht-binären oder intersexuellen Geschlechteridentitäten. 

Das Verfassungstribunal begegnet mit dem neuen Gesetz dem mit Abstand häufigsten Abtreibungsgrund in Polen: Etwa 95% aller legalen Schwangerschaftsabbrüche erfolgen wegen einer Fehlbildung oder einer schweren Erkrankung des Fötus. Für die regierende rechtskonservative PiS-Partei ein Verstoß gegen das in der Verfassung garantierte Recht auf Leben. So drängen sowohl die PiS als auch die katholische Kirche schon seit Jahren darauf, das Recht auf Abtreibung weiter einzuschränken. Mit allen Mitteln: Um eine endgültige Durchsetzung des Abtreibungsverbotes zu erwirken, übergingen die Ultra-Konservativen eine parlamentarische Debatte und ließen das Gesetz auf direktem Wege durch das Verfassungstribunal ändern. Ein Tribunal, das sich seit der Justizreform 2015 und 2016 vorrangig aus Abgeordneten der PiS zusammensetzt. Damit wurde es politisiert und seiner Unabhängigkeit beraubt. Aus dem Polnischen übersetzt bedeutet PiS »Recht und Gerechtigkeit«. Welch Ironie. Gerechtigkeit – fragt sich, für wen? Mit dem neuen, de facto totalen Abtreibungsverbot verfügt eine männlich dominierte Instanz über die Rechte von Frauen und nimmt ihnen ihr dahingehendes Selbstbestimmungsrecht.

Trotz der durch die Pandemie herrschenden, erschwerten Protestbedingungen lehnen sich Menschen in ganz Polen vehement gegen die seit nun fast drei Jahrzehnten anhaltende Aberkennung der Rechte von Frauen auf und fordern den Rücktritt der Regierung. Allen voran, sind es insbesondere junge Frauen, die sich empört zeigen. Marta Lempart, eine der Köpfe der polnischen Frauenbewegung, reflektiert die Wucht des Widerstandes; sie sagt: »I think it is a whole backlash against a patriarchal culture, against the patriarchal state, against the fundamentalist religious state, against the state that treats women really badly«. Die Gegenbewegung zielt auf das Patriarchat als Obrigkeit der Kirche, als hierarchisches Gesellschaftssystem und auf das von Männern dominierte soziale System, in dem die Rechte der Frauen offenbar Rechte zweiter Klasse sind. Hiermit unterstreicht die Aktivistin den stark moralisch aufgeladenen Diskurs.

Das Abtreibungsgesetz in Polen greift die Rechte von Frauen an; es diskreditiert ihre körperliche Integrität und ihre Autonomie. Und: Es widerspricht dem weltweit anerkannten Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft. Die Aktivistin Sarah Diehl unterstreicht dies: »Unsere christlich-männlich und technokratisch geprägte Kultur macht aus einer Stärke der Frau, ihrer Gebärfähigkeit, eine Schwäche. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit«. Durch das Abtreibungsverbot werden ungewollt Schwangere in die Illegalität gedrängt – in Polen werden Schwangerschaftsabbrüche jährlich in mehr als 100.000 Fällen illegal durchgeführt. Es geht hier also nicht darum, ob eine Abtreibung stattfindet, sondern vielmehr: wie. Illegale Abbrüche werden zumeist unsachgemäß durchgeführt und sind daher lebensgefährlich für ungewollt Schwangere.

Schon seit Jahren plädieren christliche Fundamentalist:innen und Abgeordnete der PiS-Partei für das totale Abtreibungsverbot. Ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung des Fötus stellt für sie eine Form der »Eugenik« dar, so der genaue Wortlaut. Das neue Gesetz sei somit eine Chance, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu beenden. Die Ultra-Konservativen inszenieren sich hiermit nicht nur als Sprecher:innen von Menschen mit Behinderung, sie greifen gleichermaßen ein Ziel der Interessenpolitik der Frauen- und Behindertenbewegung heraus. Etabliert werden soll mit dem Verbot eine sogenannte »Willkommenskultur für Kinder«, ein Ausdruck, der nicht selten in Wahlprogrammen oder Ansprachen rechtskonservativer Politiker:innen auftaucht. Ich frage mich, kann das ein effektiver Weg sein? Sollte nicht eher auf gesellschaftspolitischer Ebene, anstelle auf individueller Ebene angesetzt werden? Sollten nicht eher mehr Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderung und ihre Familien aufgebaut werden? Sollte nicht eher dem bestehenden Ableismus, also der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, aktiver begegnet werden, damit bestehende, gesellschaftliche Barrieren abgebaut werden können, die letztlich die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit Behinderung maßgeblich beeinflussen? Und weiter: Es scheint mir nicht verwunderlich zu sein, dass jene Männer, die die Gesetze in Polen erlassen – die de facto keine Geburt am eigenen Leib und die Veränderungen im Körper erfahren haben – diesen intensiven Prozess, der nach der Geburt bei weitem nicht abgeschlossen ist, Frauen zumuten, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Als sei dies nun mal die Aufgabe der Frau, das Gebären. Und das nicht selten dazu gehörende körperlich und psychisch erfahrene Leid, eben ihre Bürde, die sie zu (er-)tragen hat. Ihr Leben gegen das des ungeborenen Fötus. Dass sowohl die eigentlich ungewollte Schwangerschaft als auch die Geburt Leid für die Betroffenen bedeuten können  und sie sich bei einer illegalen Abtreibung in Lebensgefahr begeben, scheint dem Ziel der polnischen Regierung, dem »Lebensschutz«, wie sie es ironischerweise bezeichnen, offenbar nicht zu entsprechen. 

Grundsätzlich halte ich  das Thema Abtreibung für eines, das im gesellschaftlichen Diskurs unmittelbar mit Trauer, Scham und Trauma verbunden wird. Es wird angenommen, dass Schwangere auf ihren Abbruch ausschließlich mit negativen Gefühlen reagieren. Bis auf wenige empowernde Ausnahmen – wie etwa die britische Fernsehserie »Sex Education« oder das Filmdrama »Niemals, Selten, Manchmal, Immer« – vermitteln Filme und Serien ein zumeist eindimensionales Bild: Die weiße junge cis-Frau, eingebettet in ein Schuld- und Schamnarrativ; also voller Zweifel und Schuldgefühle, sich fragend, ob der Eingriff die richtige Entscheidung war. Sozialwissenschaftliche Befragungen belegen jedoch das Gegenteil: Wenn ungewollt Schwangere die Chance auf eine Abtreibung haben, lassen sich ihre Gefühle nicht ausschließlich auf Trauer und Scham reduzieren; viele fühlen sich vor allem erleichtert und sind sich sicher, die für sich richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ein Schwangerschaftsabbruch ist mit Nichten gleichzusetzen mit einem Zahnarztbesuch, jedoch sollte in dem medialen Diskurs um Abtreibung berücksichtigt werden, dass Betroffene unterschiedlich mit ihren Erfahrungen umgehen. Eine differenzierte Betrachtung sollte dementsprechend auch in der Öffentlichkeit stattfinden – denn diese prägt massiv unser Denken.    

In nur wenigen Ländern gelten Schwangerschaftsabbrüche nicht als Straftat. Kanada etwa gilt als das Vorzeigebeispiel für einen liberalen Umgang mit dem Thema Abtreibung; es handelt sich hier um eine ärztliche Behandlung, die keiner staatlichen Einmischung bedarf.      In Deutschland werden Abtreibungen zwar unter bestimmten Voraussetzungen geduldet, sind aber gesetzlich als Straftat verankert. Der gesellschaftliche und politische Umgang mit dem Thema zeigt, dass Europa, so wie es sich gerne inszeniert, als Vorreiterin der Welt und als Hort der Geschlechteregalität, nicht so progressiv ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Um der Misslage in Polen zu begegnen, hilft die durch Spenden finanzierte Berliner Initiative Ciocia Basia ungewollt Schwangeren aus dem Nachbarland, eine sichere und legale Abtreibung in Deutschland durchzuführen. Das macht deutlich, wie dringlich die Situation für viele Betroffene ist. Die jungen Aktivist:innen in Polen rufen immer wieder »Solidarität ist unsere Waffe«. Deshalb halte ich es für wichtig, Organisationen wie Ciocia Basia, Pro-Choice-Bündnisse oder Initiativen für sexuelle Selbstbestimmung zu unterstützen. Vor allen Dingen aber ist ein gesellschaftliches Umdenken unabdingbar. »Trust women«, lautet einer der Slogan der US-amerikanischen Pro-Choice-Bewegung, angelehnt an den Abtreibungsarzt George Tiller. Er war es, der auf das frauenfeindliche Denken hinter den Abtreibungsverboten- und Debatten aufmerksam machte. Ginge es um die Sexualität und die Gebärfähigkeit, mangele es an Vertrauen gegenüber Frauen, weshalb Staat und Gesellschaft über sie und ihren Körper verfügen möchten, sobald sie schwanger werden. Was jedoch völlig fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass ungewollt Schwangere die kompetentesten Expertinnen in dieser Situation sind. Dass sie in der Lage sind, die Konsequenzen einer Mutterschaft, die nur sie tragen müssen, zu überblicken. Was fehlt, ist ein Raum, der sogenannte Tabuthemen wie Abtreibung, Fehlgeburten oder postnatale Depression anerkennt und damit sensibel verhandelbar macht. Ein Raum, der eine Schwangerschaft, die Mutterschaft oder Elternschaft von ihrem einseitigen Narrativ, dem als puren Glückszustand, löst. Es braucht mehr Information, mehr Dialog, mehr Verständnis und vor Allem braucht es mehr Autonomie für ungewollt Schwangere. 


Ich danke euch fürs Zuhören und hoffe, ihr konntet etwas aus der Episode mitnehmen. Wenn sie euch gefallen hat, teilt sie gerne mit Freunden, Kollegen oder Verwandten. Und natürlich würden wir uns besonders freuen, wenn auch ihr als Fördermitglieder einen Sinneswandel möglich macht. Das geht auch schon ab 1€, den ihr z.B. an Paypal.me/Sinneswandelpodcast schicken könnt. Alle weiteren Infos sowie Quellen, findet ihr in den Shownotes. Vielen Dank und bis bald im Sinneswandel Podcast.


24. November 2020
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